Ankündigung einer Katastrophe? Mein Kampf als antizivilisatorisches Programm

Wie weit ließ Mein Kampf bereits erkennen, was nur wenige Jahre später, während der Jahre 1933 bis 1945, folgen sollte? War dieses Buch tatsächlich schon die Ankündigung jener großen Katastrophe? Dies ist vermutlich die insistierendste, ja quälendste Frage, die Hitlers Schrift aufwirft. Für einen so scharfsinnigen Analytiker wie Victor Klemperer blieb es jedenfalls »das größte Rätsel des Dritten Reiches«, wie Mein Kampf »in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte«. 286 Während andere Diktatoren viel Zeit und Mühe da­rauf verwenden, ihre eigentlichen Pläne und Ziele zu verheimlichen, war dies bei Hitler anders. Sein Buch hatte nicht nur den Zweck der Selbstdarstellung und der Propaganda, es ging immer auch um Ankündigungen, um Zukünftiges, und zuweilen enthüllte Hitler darin mit einer frappierenden wie geradezu naiven Offenheit das, was er sich vorgenommen hatte.

Gleichwohl sollte man sich vor zu schnellen Schlussfolgerungen hüten. Dass Ideologien von gleichermaßen utopischen wie unverbindlichen Versprechungen leben, ist eine ebenso alte Erfahrung wie die Tatsache, dass Pläne und deren Realisierung in den wenigsten Fällen deckungsgleich sind. Erst recht muss dies für ein Ereignis von der Dimension des Dritten Reichs gelten, das sich nur unter Berücksichtigung vieler Faktoren, Kräfte und Personen erklären lässt, nicht aber allein mit der Bekenntnisschrift eines Einzelnen. Ohne hier näher auf die alte Frage nach Hitlers Bedeutung für die Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 einzugehen, wäre es in jedem Fall eine problematische und haltlose Verkürzung, die Bedeutung von Mein Kampf auf die einer Art »Blaupause« für das Dritte Reich zu reduzieren. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Inwieweit ist es überhaupt möglich, zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Entwurf und Ausführung gewissermaßen ex post Stellung zu nehmen? Wäre es nicht angemessener, eine Schrift wie Mein Kampf allein im Kontext ihrer Entstehungszeit zu interpretieren und daran zu erinnern, wie viel ähnliche Schriften damals von rechtsradikalen Ideologen verbreitet wurden?

Genau das versucht diese Edition mit ihrer Kommentierung. 287 Doch schmälert der Umstand, dass es seit der Wende zum 20. Jahrhundert noch viele andere Personen und Organisationen gab, die ähnliche Ideologeme wie Hitler propagierten, nicht die Bedeutung, die speziell Hitlers Entwürfen zukommt. Denn unter all jenen Ideologen blieb es allein ihm vorbehalten, seine Vorstellungen in einer Weise zu verwirklichen, wie es die Geschichte nur selten zulässt. Ohne das, was Hitler später angerichtet hat, wäre Mein Kampf eine recht belanglose Schrift – ein Dokument aus den bewegten 1920er Jahren, das lediglich von ideengeschichtlichem Interesse wäre, so wie die unzähligen anderen weltanschaulichen Traktate, die damals entstanden sind.

Bei Mein Kampf liegt der Fall aber anders. Denn sein Autor war mehr als nur jener »politische Schriftsteller«288, als der er nach der Publikation seines Buchs stolz auftrat. Und er war auch mehr als nur einer der vielen selbst ernannten Programmatiker, Reformer und Propheten mit ihren Entwürfen und Heilserwartungen von »neuen Zeiten« und »neuen Menschen«. Nachdem Hitler sein Buch vollendet hatte, sollte er noch viele andere Rollen übernehmen – die des Parteiführers und Revolutionärs, die des Staatsmanns, Idols und Feldherrn, die der Hassfigur und nicht zuletzt die eines Verbrechers, der in der Geschichte seinesgleichen sucht. Sein Buch, das in einem so hohen Maß von der Beschwörung des Zukünftigen lebt, muss daher auch an dem gemessen werden, was in dieser Zukunft passiert ist.

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Die Ideologeme, die für Mein Kampf konstitutiv sind, wurden schon oft »herauspräpariert« und beschrieben. Es sind vor allem vier Ideen, auf denen Hitlers Weltanschauung basierte: die Idee der Rasse, die Idee des Raums, die Idee der Gewalt und schließlich die Idee der Diktatur. Dies soll hier nicht noch einmal ausführlich mit Zitaten belegt werden; im Zentrum des Folgenden steht vielmehr das Katastrophenpotenzial dieser Weltanschauung und, daran anknüpfend, die Frage, wieweit dieses bereits in Hitlers Schrift zu erkennen war.

Überblickt man das Ganze, so drängt sich der Eindruck auf: Hier schreibt einer, für den der Krieg im Grunde nie zu Ende gegangen ist. Hier entwickelt einer seine Sicht auf die Welt, der die menschliche Geschichte auf die Prinzipien von Kampf und Krieg reduziert. 289 Der Hang zu all dem, »was irgendwie mit Krieg oder doch mit Soldatentum zusammenhing«290, steht nicht zufällig gleich zu Beginn von Hitlers eigener Lebensbeschreibung in Mein Kampf, ferner die Klage des selbst erklärten »jungen Wildfang[s]«, »in einer Zeit geboren«291 zu sein, die ihm jede kriegerische Bewährung versagt habe. Die »Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend«292 brachte Hitler schließlich der August 1914: Mit seiner Meldung als Kriegsfreiwilliger begann für ihn die »unvergeßlichste und größte Zeit« seines Lebens, gegenüber der »alles Vergangene in ein schales Nichts«293 zurückgefallen sei – so jedenfalls Hitlers späteres Urteil aus der sicheren Position des Friedens. Die Weimarer Republik mit ihren großen außen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Leistungen verachtete er hingegen als eine angebliche »Sklavenkolonie des Auslandes«. 294 Von all den Chancen, die dieses »Kaleidoskop deutscher Möglichkeiten«295 bot, blieben ihm die meisten verschlossen. Stattdessen verfolgte er ein ganz anderes Ziel: die definitive Revision von Niederlage und Revolution. In dieser Perspektive war es durchaus folgerichtig, wenn Hitler seinen oft zitierten Entschluss, »Politiker zu werden«296, zeitlich genau an diesen Punkt setzte, jenen Moment im Pasewalker Kriegslazarett, als ihm und seinen Kameraden Kriegsende und Niederlage eröffnet wurden. 297

Mit Realpolitik im klassischen Sinne hatte all dies freilich wenig zu tun. Obwohl Mein Kampf ein einziges, großes Lamento über die bestehenden politischen Verhältnisse ist, eine nicht abreißende Klage über eine angeblich unverdiente Kriegsniederlage, einen grausamen Friedensvertrag und eine unfähige, korrupte Republik, bleibt die Frage, was zur Überwindung dieser Verhältnisse genau zu tun sei, im Grunde unbeantwortet. Zur politischen Kardinalfrage: der Revision des Versailler Vertrags konnte Hitler nichts Substanzielles sagen. Seine Empfehlung, man solle den Vertrag nützen, um »die nationalen Leidenschaften bis zur Siedehitze aufzupeitschen«298, war nicht viel mehr als eine törichte und einfallslose, allerdings auch brandgefährliche Phrase. Laut Hitler sollte »die gemeinsam empfundene Scham« über diesen Vertrag »und der gemeinsame Haß« zu einem »einzigen feurigen Flammenmeer« werden, bis schließlich »ein Schrei sich herauspreßt: Wir wollen wieder Waffen!«299.  Doch alles Nähere, etwa die Frage, wie wörtlich jenes »feurige Flammenmeer« zu nehmen war, blieb offen. In dieser Perspektive ist denn auch Hitlers Distanzierung von Bismarck und dessen Prinzip, die Politik als die »Kunst des Möglichen« zu betrachten, im Kapitel Beginn meiner politischen Tätigkeit (I/8) nur konsequent. Hitler hatte ein anderes Selbstverständnis. Er rechnet sich selbst zu jenen »Programmatiker[n]«, die »den Göttern nur gefallen, wenn sie Unmögliches verlangen und wollen«. 300

An einem lässt Hitlers Buch jedenfalls keinen Zweifel: sein Autor plante schon damals in ganz großen Dimensionen. »Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein«301, so lautet die Parole, die Hitler im Kapitel Ostorientierung oder Ostpolitik (II/14) als einen denkbar schroffen Gegensatz formuliert, so als ob es zwischen diesen beiden Extremen keine Alternativen gäbe und auch nicht geben dürfe. Und inmitten von Hitlers Ausführungen zur Habsburgermonarchie findet sich der Satz: »Unterliegt aber ein Volk in seinem Kampf um die Rechte des Menschen, dann wurde es eben auf der Schicksalswage zu leicht befunden für das Glück der Forterhaltung auf der irdischen Welt.«302 Diese radikale Reduktion allen politischen und militärischen Handelns auf die Dichotomie von Sieg oder Tod, die Hitler hier postuliert, ließ für die Zukunft nichts Gutes erwarten, sollte dieser »Führer« jemals an die Macht gelangen.

Im Gegensatz zu diesem scharfen Kontrast wirken viele Ziele, die Hitler in Mein Kampf für seine Politik der Extreme formuliert, eher verschwommen. Es gehe darum, dass »Deutschland notwendigerweise die ihm gebührende Stellung auf dieser Erde«303 gewinne und dass »zwischen der Zahl und dem Wachstum des Volkes einerseits und der Größe und Güte des Grund und Bodens andererseits ein gesundes, lebensfähiges, natürliches Verhältnis«304 bestehen müsse – so, als sei es die landwirtschaftliche Autarkie, die maßgeblich über das Wohl und die Zukunft einer Nation entscheide. Verbunden mit dieser Vorstellung war für Hitler die Verabsolutierung des Kriegs als »großen ewigen Lebenskampf um das Dasein«. 305 Erst die gewaltsame Auseinandersetzung entscheide über das Lebensrecht der Völker. Es sei »der Kampf um das tägliche Brot«, so der Tenor zu Beginn des Kapitels Volk und Rasse (I/11), in dem »alles Schwache und Kränkliche, weniger Entschlossene« unterliege. »Wäre der Vorgang ein anderer, würde jede Weiter- und Höherbildung aufhören und eher das Gegenteil ein­treten.«306 Es sind gleichermaßen barbarische wie trostlose Aussichten, die Hitler hier entwickelt: Ein niemals endender Kampf als Urgrund und Sinn alles Lebens. Weder ließ Hitler in Mein Kampf Zweifel an seinem Willen zum Krieg, noch wollte er den Charakter einer solchen Auseinandersetzung irgendwie beschönigen: Bei einem künftigen Krieg werde es sich um einen Existenzkampf handeln, bei dem »alle Erwägungen von Humanität oder Ästhetik in ein Nichts zusammen[fallen]« müssten. Denn nur durch »die schärfste Kampfesweise«307 könne Deutschland einen solchen Krieg für sich entscheiden. Als Hitler dies schrieb, das sollte bei einem solchen Zukunftsentwurf nicht vergessen werden, war der Erste Weltkrieg gerade einmal sieben Jahre her. Allein auf deutscher Seite hatten in diesem Krieg etwa zwei Millionen Soldaten und 700.000 bis 800.000 Zivilisten ihr Leben verloren.

Wie aber wollte Hitler jenen Krieg führen, den er in Mein Kampf so entschlossen ankündigte? Hatte er Erfolg versprechende Ansätze für eine militärische Revision der Pariser Friedensordnung? Auch hier – so die Bilanz – blieb das meiste unklar oder unausgereift. Verglichen mit Hitlers übrigen Vorschlägen scheinen seine bündnispolitischen Planspiele noch am ehesten realisierbar. Ihren Kern bildet folgendes Konzept: »In Europa wird es für Deutschland in absehbarer Zukunft nur zwei Verbündete geben können: England und Italien308 Ansätze für derartige Bündnisse schienen – wie die Geschichte nach 1933 zeigen sollte – durchaus gegeben, wenngleich diese Geschichte dann freilich ebenso zeigte, dass Großbritannien bestenfalls bereit gewesen wäre, sich auf eine Kooperation mit einer weitgehend friedlichen, moderaten deutschen Diktatur einzulassen. Für das aber, was Hitler in Wirklichkeit vorschwebte – »mit England« im Rücken »den neuen Germanenzug [gegen die Sowjetunion] zu beginnen«309 –, fehlte in Großbritannien jedes Verständnis.

Mitte der 1920er Jahre schien allerdings manches durchaus für die Möglichkeit eines solchen künftigen »Dreibunds« zu sprechen – im Falle des faschistischen Italiens: die ideologische Verwandtschaft mit einem künf­tigen nationalsozialistischen Staat, die gemeinsamen Vorbehalte gegenüber Frankreich sowie die Überlegung, dass sich die imperialistischen Interessen Italiens und Deutschlands nicht in die Quere kommen würden; im Falle Großbritanniens: dessen wachsende Entfremdung von Frankreich, das Interesse am Erhalt des eigenen internationalen Status quo und schließlich Hitlers Absage an ein neues maritimes Wettrüsten, die in Mein Kampf vorsichtig angesprochen wird – in Form einer entschiedenen wie detailverliebten Kritik an der Flottenpolitik des wilhelminischen Kaiserreichs. 310 Mit den möglichen Spannungen innerhalb eines solchen potenziellen »Dreibunds« befasst sich Hitler hingegen nicht.

Damals, in den 1920er Jahren, wären Großbritannien und Italien zweifellos zwei mächtige Bündnispartner gewesen. Mehr Unterstützung von außen schien Hitler offenbar nicht nötig. Stattdessen hielt er es für sinnvoll, schon in Mein Kampf die deutschen Gegner in einem neuen Krieg zu benennen, so als sei es von Vorteil, diese möglichst früh auf eine Ausei­nandersetzung mit Deutschland einzustimmen. Seine Auslassungen über Frankreich lassen jedenfalls an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es sei »der Todfeind unseres Volkes«311; am Ende einer neuen »Abrechnung« müsse die »Vernichtung Frankreichs«312 stehen. Und auch die Rolle der Sowjetunion ist bereits fixiert: Es ist jene der »Beute« in einem künftigen deutschen Eroberungsprogramm: »Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegs­zeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und wei­sen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft313

Betrachtet man einen solch verwegenen Vorschlag allein unter machtpolitischen Gesichtspunkten, dann lässt sich wenigstens noch ins Feld führen, dass die Sowjetunion in der Entstehungszeit von Mein Kampf durch ihre nicht abreißenden inneren Probleme tatsächlich schwach wirkte. Allerdings hatte es sich 1812 und nochmals im Ersten Weltkrieg in aller Deutlichkeit gezeigt, wie schwierig es war, ein Territorium dieser Größe zu erobern und vor allem langfristig zu kontrollieren. Gleichwohl musste Mitte der 1920er Jahre eine »Kriegserklärung« an Frankreich als die gefährlichere Option erscheinen. Der deutsche Nachbar im Westen, der damals noch einen großen Teil der deutschen linksrheinischen Gebiete kontrollierte, war zu diesem Zeitpunkt eine der stärksten Militärmächte der Welt und besaß noch immer eines der größten Kolonialreiche.

Die übrige Welt kommt in Mein Kampf hingegen praktisch nicht vor. Das gilt für die USA, obgleich deren Eingreifen für den Ausgang des Ersten Weltkriegs entscheidend gewesen war und die dabei auch demonstriert hatten, dass sie ihre isolationistische Haltung durchaus revidieren konnten. Das gilt für Japan, das in Hitlers strategisch-außenpolitischen Über-legungen keine Rolle spielt. Und das gilt ebenso für den Rest der Welt. Völlig unklar bleibt etwa die Rolle der übrigen europäischen Mittel- und Kleinstaaten in einem kommenden Krieg. Nur über die Zukunft von »Deutschösterreich« lässt sich Hitler etwas genauer aus; es müsse »wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande«. 314 Und klar ist für ihn auch: »Das Deutsche Reich soll als Staat alle Deutschen umschließen mit der Aufgabe, aus diesem Volke die wertvollsten Bestände an rassischen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung emporzuführen315 In welchen Dimensionen Hitler dabei dachte, verrät die in seiner Schrift mehrfach eingestreute Behauptung, bei den Deutschen handele es sich um ein Volk von 80 bzw. gar 100 Millionen Menschen. Gemeint sind damit neben den rund 62 Millionen deutschen Staatsbürgern alle Deutschstämmigen in Europa bzw. in der Welt. 316 Dass ein solcher Anspruch zwangsläufig mit dem Hoheits- und dem Existenzrecht vieler anderer Staaten kollidierte, nahm Hitler wohlweislich in Kauf, ohne die daraus erwachsenden Konflikte jedoch näher zu thematisieren.

Insgesamt kennzeichnet Mein Kampf also ein seltsames Paradox: Obwohl das deutsche Volk, so Hitler, »seine Zukunft nur als Weltmacht vertreten«317 könne, ist von dieser Welt allenfalls in Ausschnitten die Rede. Das betrifft auch eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine solch globale Herrschaft: die maritime Dimension. 318 Bereits unter den Gesichtspunkten von Außenpolitik und Strategie stellt Mein Kampf also alles andere als eine realistische, logische und verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer militärischen Revision der Versailler Friedensordnung dar. Und das ist noch sehr zurückhaltend formuliert.

Auch sonst wird all das ausgespart, was damals einen modernen Krieg ausmachte, etwa das zentrale Problem der Kriegswirtschaft; lediglich das System der »Kriegsgesellschaften« erwähnt Hitler, allerdings nur als Aufhänger für eine seiner zahlreichen antisemitischen Tiraden: Von einem »infame[n] Beutezug« ist hier die Rede, den »der Jude […] unter dem Deckmantel der Kriegsgesellschaften gegen das deutsche Volk«319 organisiert habe. In Wirklichkeit war es jedoch genau dieses System gewesen, das es dem Deutschen Reich überhaupt ermöglicht hatte, den Ersten Weltkrieg ökonomisch durchzuhalten. Auch eine Auseinandersetzung mit Fragen der Kriegstechnik, mit zukunftweisenden Ansätzen der Kriegführung wie Luft-, Panzer- oder Gaskrieg, sucht man in Mein Kampf vergeblich. 320 Dasselbe gilt bezeichnenderweise auch für die Frage des Zivilschutzes. Nicht minder problematisch und folgenreich war aber ein anderer Punkt: Hitlers Planspiele ließen erkennen, dass ihm der Blick für Größenverhältnisse – für die unerbittliche Logik von Zahl, Kraft und Stärke – völlig fehlte. Im Zeitalter der industrialisierten Massenkriege war dies ein tödliches Defizit.

Stattdessen sah Hitler in der »Moral« einen kriegsentscheidenden Faktor; sie allein entscheide über das Durchhalten von Front und Heimat. Nicht zufällig ist der Kriegspropaganda in Mein Kampf ein ganzes Kapitel gewidmet. 321 Reiche die Propaganda nicht aus, um die »Moral« zu garantieren, so blieben andere Mittel: Unterdrückung und Terror – auch gegen die eigene Bevölkerung. 322 Das wird in Mein Kampf so offen und unverblümt formuliert, dass sich an den einschlägigen Stellen direkte Verbindungen zur nationalsozialistischen Herrschaftspraxis seit 1933 bzw. seit 1939 ziehen lassen – etwa:

In all diesen Beobachtungen und Ankündigungen begann schon früh eine drakonische Diktatur in Umrissen Gestalt anzunehmen, die sich dann bis 1945 mehr und mehr radikalisieren sollte, ehe schließlich vieles von dem erreicht war, was Hitler einst in Mein Kampf propagiert hatte.

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Das stand am Ende von Hitlers Herrschaft. Was aber sollte in Hitlers Vorstellung an ihrem Beginn stehen? Zur »Vorbereitung eines ins Auge gefaßten Waffenganges« betrachtete er es als die »Aufgabe der innerpolitischen Leitung eines Volkes«, das »Schwert zu schmieden«328 – so seine blumige Formulierung im Kapitel Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege (II/13). Was bedeutete dies? Hitler ging es vor allem um das, was damals unter der Formel des »Menschenmaterials«329 subsumiert wurde – also um jene Personen, die das »Schwert« dann führen sollten: die eigene Bevölkerung. Wie aber sollte diese laut Hitler auf einen Krieg vorbereitet und eingestimmt werden? Was musste aus seiner Perspektive vor der großen militärischen Entscheidung innenpolitisch geschehen? Welche Hinweise gibt es in Mein Kampf, die das vorwegnahmen, was während der Jahre 1933 bis 1939 in Deutschland geschah?

Zweifellos wäre es falsch, Hitlers Ankündigungen in Mein Kampf ausschließlich auf den Aspekt der Kriegsvorbereitung zu reduzieren. Hitler bezieht in seinem Text auch zu vielen Fragen Stellung, die außerhalb des Militärischen liegen, und führt aus, was richtig und was falsch sei, was man künftig zu verbessern, zu verbieten oder ganz zu beseitigen habe. 330 Allerdings mussten für Hitler alle gesellschaftspolitischen Fragen dem Prinzip »des großen ewigen Lebenskampfes um das Dasein«331 untergeordnet werden. Wie eng beispielsweise Hitlers Vorstellungen von »Rasse« und »Kampf« ineinander verwoben waren, illustriert in aller Deutlichkeit das Schlusswort von Mein Kampf. Wenn, so heißt es dort, die NS-Bewegung »sich immer mehr auf das tiefste Wesen ihres Kampfes« besinne, sich »als reine Verkörperung des Wertes von Rasse und Person« fühle und entsprechend organisiere, werde »sie auf Grund einer fast mathematischen Gesetzmäßigkeit dereinst in ihrem Kampfe den Sieg davontragen«. Und auch Deutschland werde »notwendigerweise die ihm gebührende Stellung auf dieser Erde gewinnen«, sollte »es nach gleichen Grundsätzen geführt und organisiert«332 werden. Was Hitler hier mit den Prinzipien einer vermeint­lich ehernen, »mathematischen« Logik zu begründen suchte, war in Wirklichkeit eine Ansammlung realitätsferner Vorstellungen, die nicht zuletzt dem Zweck dienen sollten, »die Widerstandsfähigkeit unseres Volkskörpers für die Durchführung des Krieges zu stärken«. 333

Den Ansatz für eine solche Stärkung sah Hitler unter anderem in der gezielten Förderung einer pronatalistischen Politik. Für ihn, der es selbst nie geschafft hatte, eine dauerhafte Beziehung zu einer Frau einzugehen, durfte »die Ehe […] nicht Selbstzweck sein«, sondern musste »dem einen größeren Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse, dienen«; allein das sei »ihr Sinn und ihre Aufgabe«. 334 Hinter diesem lustfeind­lichen Utilitarismus, dieser Degradierung der Ehe zu einer Art Zuchtsta­tion, stand ein dezidiert »rassenhygienisches« Denken: Der »völkische Staat« habe »die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu set­zen«, für deren »Reinerhaltung zu sorgen« und auch »Sorge [zu] tragen, daß Kinder zeugt nur wer gesund« sei. Ein künftiger nationalsozialistischer Staat habe das, »was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend« sei, für »zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen«. 335 Konsequenz dieses Denkens war das zum 1. Januar 1934 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, auf dessen Grundlage bis 1945 rund 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden; rund 6.000 Personen überlebten die entsprechenden Eingriffe nicht. 336

Keine Frage: Über die Möglichkeiten der Eugenik wurde Mitte der 1920er Jahre intensiv diskutiert, nicht allein in der völkischen Bewegung und im Deutschen Reich. 337 Aber nur wenige Parteien zeigten ihre Bereitschaft zur Realisierung einer solch mitleidlosen Politik so offen und radikal wie die NSDAP. Darüber hinaus lässt sich in Hitlers Buch auch schon die Bereitschaft erkennen, eine solche Politik bis zur »Euthanasie« zu radikalisieren. So findet sich im Kapitel München (I/4), das doch eigentlich ganz andere Themen aufgreifen sollte, folgende Passage: »Während die Natur, indem sie die Zeugung freigibt, jedoch die Forterhaltung einer schwersten Prüfung unterwirft, aus einer Überzahl von Einzelwesen die besten sich als wert zum Leben auserwählt, sie also allein erhält und ebenso nun zu Trägern der Forterhaltung ihrer Art werden läßt, schränkt der Mensch die Zeugung ein, sorgt jedoch nun krampfhaft dafür, daß jedes nun einmal geborene Wesen um jeden Preis auch erhalten werde. Diese Korrektur des göttlichen Willens scheint ihm dann ebenso weise wie auch noch human zu sein und er freut sich wieder einmal in einer Sache die Natur übertrumpft, ja ihre Unzulänglichkeit bewiesen zu haben.«338 Davor, die »Euthanasie«, die seit der Veröffentlichung der Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens im Jahr 1920 durch den Juristen Karl Binding und den Psychiater Alfred Hoche in Deutschland kontrovers diskutiert wurde, detailliert zu thematisieren, schreckte Hitler in Mein Kampf allerdings zurück. Offenbar versprach er sich davon keinen positiven, propagandistischen Effekt. Gleichwohl enthüllt seine Schrift, dass er schon Mitte der 1920er Jahre in diesen Kategorien dachte.

Um eine neue militärische Auseinandersetzung vorzubereiten, wollte Hitler also auf den Aufbau und die Konstitution des deutschen »Volkskörpers« einwirken. Dieser Wille erschöpfte sich jedoch nicht in dem Mittel der Eugenik und »Euthanasie«. Von entscheidender Bedeutung war für Hitler, daran lässt Mein Kampf keinerlei Zweifel, die systematische Unterdrückung, Neutralisierung oder auch Vernichtung aller politischen Gegner im Innern – allen voran der marxistischen Linken, hinter der Hitler das Judentum als die treibende Kraft vermutete. »An dem Tage, da in Deutschland der Marxismus zerbrochen« werde, so heißt es im Kapitel Notwehr als Recht (II/15), »brechen in Wahrheit für ewig seine Fesseln. Denn niemals sind wir in unserer Geschichte durch die Kraft unserer Gegner besiegt worden, sondern immer nur durch unsere eigenen Laster und durch die Feinde in unserem eigenen Lager.«339 Dass kein »innerer Feind« so gefährlich sei wie der Marxismus, zählt zu den zentralen Mantras von Mein Kampf. Dabei blieb Hitlers Begriff vom Marxismus denkbar vage und umfasste pauschal alle Parteien und Organisationen der politischen Linken, angefangen von der KPD über die USPD und SPD bis hin zu den Gewerkschaften – ungeachtet der starken ideologischen und politischen Differenzen, die diese Gruppen damals trennten. Sogar bürgerliche Parteien und Organisationen werden von Hitler wiederholt als »marxistisch« deklariert. 340 Hitlers Attacken gegen die »inneren Feinde« beschränken sich in Mein Kampf keineswegs nur auf die Gegner von »links«. Zu dem großen Kreis der Kontrahenten gehören aus Hitlers Sicht:

Es ist ein bemerkenswert vielfältiges Spektrum, das sich dieser Prophet der Intoleranz hier zur gegnerischen »Front« zurechtzimmert. Vor die­sem Hintergrund verdient es umso größere Beachtung, wenn die NSDAP schon wenig später zur »ersten deutschen Volkspartei« werden sollte. 348 Jedenfalls konnten die angeblichen »Verbrecher des Novemberverrats« von 1918 spätestens seit 1927 in Mein Kampf nachlesen, »daß einst ein deutscher Nationalgerichtshof etliche Zehntausend« von ihnen »abzu­urteilen und hinzurichten«349 habe. Auch diese Ankündigung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig – weder im Hinblick auf die Dimension des späteren nationalsozialistischen Terrors noch im Hinblick auf das Strafmaß.

Doch wird all das noch von Hitlers Antisemitismus übertroffen. Die Juden bildeten gewissermaßen den Fixpunkt von Hitlers Ängsten, seines Hasses und seines Vernichtungswillens. Für ihn, den selbst erklärten »fanatischen Antisemiten«350, war dies mehr als nur eine unter vielen Feindschaften. Vielmehr verstand er »die Rassenfrage« als »Schlüssel zur Weltgeschichte«, ja als Schlüssel »zur menschlichen Kultur überhaupt«. 351 Die »jüdische Rasse« war ihm die Inkarnation alles Bösen, ein ewiger »Parasit im Körper anderer Völker«, der »immer neuen Nährboden für seine Rasse«352 suche und sich dabei der verschiedensten Ansätze für sein System der »Menschenausbeutung«353 bediene: Kapitalismus, Bolschewismus, Marxismus, Demokratie sowie der Herrschaft über Presse, Börse, Banken und Warenhäuser sowie der Prostitution. Alles, was Hitler als schlecht und böse ansah, ließ sich durch diese triviale Simplifizierung der Gegenwart erklären und auf einen einzigen Gegner, ja auf einen einzigen Urgrund zurückführen. 354 Im Umkehrschluss aber hieß das für Hitler: »Ohne klarste Erkenntnis des Rasseproblems, und damit der Judenfrage, wird ein Wiederaufstieg der deutschen Nation nicht mehr erfolgen.«355 Man dürfe nicht zögern, »gegen die ganze betrügerische Genossenschaft dieser jüdischen Volksvergifter vorzugehen«. 356

Ganz besonders hätte das für die Kriegszeit gelten müssen. Da die »jüdischen Volksvergifter« seit 1914 alles getan hätten, um die innere Einheit des deutschen Volks zu zerstören, wäre es »die Pflicht einer besorgten Staatsregierung« gewesen, »die Verhetzer dieses Volkstums unbarmherzig auszurotten«. Und weiter: Man hätte dieses »Ungeziefer vertilgen« und die »gesamten militärischen Machtmittel einsetzen« müssen »zur Ausrottung dieser Pestilenz«. 357 War das Hitlers Empfehlung im ersten Band von Mein Kampf, so wurde er am Ende des zweiten Bands im Hinblick auf Dimension und Methoden sogar noch deutlicher: »Hätte man zu Kriegs­beginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mußten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet.«358

Vor dem Hintergrund dessen, was inzwischen über die Genese des Holocaust bekannt ist, sollte man sich davor hüten, diese Passage überzu- interpretieren. 359 Und doch steht fest, dass Hitler die physische Beseitigung zumindest eines Teils der Juden spätestens seit seiner Landsberger Haft zunehmend für unerlässlich hielt.360 Das war zwar noch kein Plädoyer für einen millionenfachen Völkermord, schloss die Möglichkeit des Massenmords jedoch ausdrücklich ein.

Zugleich stilisierte Hitler seinen radikalen Antisemitismus zur großen eschatologischen Auseinandersetzung, zu einem pseudoreligiös überhöhten Kampf »für das Werk des Herrn«361, bei dem es nur »das harte Entweder – Oder«362 gebe. Daher könne der Kampf gegen diesen »Weltfeind« nur in einem vollständigen Sieg über die verschiedenen Ausformungen »der jüdischen Welthydra« enden oder aber im Inferno »einer jüdischen Weltdiktatur«. 363 Auch hier wieder eine extreme Dichotomie von Leben oder Tod. Auch hier, und da schließt sich der Kreis zu Hitlers militärischen Phantasmagorien, ist es wieder ein globales Ringen, denn »der Jude« beende ­»seinen Weg zur Weltdiktatur«364 niemals aus freien Stücken. In diesem Kampf aber, so Hitlers Prognose ganz am Ende seines Buchs, müsse »ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, […] eines Tages zum Herrn der Erde werden«. 365

Wirklich klar, oder besser: unmissverständlich war hier nur die bizarre »Logik«, mit der Hitler sein menschenverachtendes Gedankenkonstrukt zu rechtfertigen suchte. Vieles andere blieb hingegen skizzenhaft. Doch besteht kein Grund, die Brutalität, Radikalität und ideologisch begründete Un­erbittlichkeit, mit der Hitler in Mein Kampf argumentiert, mit Hinweisen auf das zu relativieren, was damals in völkischen und antisemitischen Kreisen sonst noch so üblich war. Keine Frage: Von Hitlers Hasspredigt einen direkten Weg nach Auschwitz zu konstruieren, wäre viel zu einfach. Noch problematischer aber wäre es, eine solche Verbindung einfach zu ignorieren.