Voraussetzung für die Befreiung verlorner Gebiete <span class="pagenumber">[265]</span>

18 Für Hitler war das deutsche Volk nicht identisch mit jener Bevölkerung, die in den im Versailler Vertrag festgelegten Staatsgrenzen lebte. Die in den 1919 verlorenen Territorien lebende deutschsprachige Bevölkerung galt ihm ebenfalls als Teil der »Volksgemeinschaft«. Daher meint er auch an dieser Stelle von Mein Kampf nicht allein die Bevölkerung des Deutschen Reichs, sondern auch alle jenseits der Grenzen lebenden »Auslandsdeutschen«. Neu war eine solche Perspektive nicht; schon die 1922 erschienene Schrift Staaten und Völker nach dem Weltkrieg bezifferte die »durch sprachliche und kulturelle Zusammengehörigkeit dem Deutschtum in der Welt einzurechnende Zahl« auf »95 – 100 Mill[ionen]« Menschen. Zu den »etwa 80 Mill[ionen]« Deutschen in Europa wurden hier neben den Einwohnern des Deutschen Reichs (nach einer Volkszählung vom 16. 6. 1925 waren es 62.568.753 Menschen) und den knapp 700.000 Menschen im Saargebiet auch die Bevölkerung »Deutsch-Österreich[s]« (rund 6,5 Millionen Menschen) gerechnet sowie die »etwa 3 Mill[ionen] Deutsche [in] der Schweiz, Luxemburg und Lichtenstein«, ferner die »Deutschstämmige[n] in festen Siedlungszentren des mitteleuropäischen deutschen Sprachgebiets (Deutschböhmen, Deutschsüdtirol) und in den verschiedenen, dem fremden Volkstum eingesprengten Sprachinseln«.

Vgl. Grothe, Staaten, Zitate S. 29 f. (Herv. i. Orig.); Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 45 (1926), S. 1; Kap. I/1, Anm. 42; Kap. I/2, Anm. 128; Kap. II/2, Anm. 73.

20 Mit solchen Überlegungen stand Hitler nicht allein. Der preußische Kriegsminister Walther Reinhardt und General Otto von Below plädierten im Juni 1919 dafür, gegen die vorgesehenen deutschen Gebietsabtretungen an Polen militärisch Widerstand zu leisten. Diskutiert wurde auch die Möglichkeit eines selbstständigen, vom Reich separierten Oststaats. Auf ziviler Seite fanden diese Pläne Fürsprecher im Oberpräsidenten von Ostpreußen, Adolf von Batocki, und im Reichskommissar für West- und Ostpreußen, August Winnig. Letztlich setzte sich jedoch der Erste Generalquartiermeister Wilhelm Groener durch, der diese Pläne für illusorisch erklärte und stattdessen für die Annahme der alliierten Bedingungen plädierte. In einem Schreiben an Reichspräsident Friedrich Ebert vom 27. 6. 1919 distanzierte sich Groener ausdrücklich »von einer grundsätzlichen feindlichen Haltung gegen unsere Nachbarn«; vielmehr müsse Deutschland mit »Polen und Tschechen sobald wie möglich auf wirtschaftlichem Gebiet zu einem ›modus vivendi‹ kommen«. Groener riet daher »dringend, […] unmittelbare Verständigung anzustreben und den Weg über die Entente möglichst ganz auszuschalten«.

Vgl. ADAP, Serie A, Bd. 2, Dok. 54; Hürten (Bearb.), Revolution, Dok. 53, Zitat S. 160; Mühleisen, Kabinett, bes.S. 421 – 423; Hürter, Groener, S. 19.

21 Anspielung auf die deutschen Minderheiten in Südtirol, Polen und in der Tschechoslowakei. Die deutschen Abgeordneten Böhmens hatten bereits am 29. 10. 1918 demons-trativ ihre weitere Verbundenheit mit Wien erklärt; am 1. 6. 1920 ließen sie die tschechoslowakische Nationalversammlung wissen, sich nicht mit den Tschechen vereinigen, sondern auf ihrem Selbstbestimmungsrecht bestehen zu wollen. Ähnliches galt für die Deutschen in Südtirol und in Polen. Vor allem die deutsche Minderheit in Polen wurde von der Reichsregierung finanziell stark unterstützt, auch weil diese in ihr ein politisches Faustpfand für Revisionsverhandlungen sah und schon daher ihre Abwanderung ins Reich vermeiden wollte. Dies blieb nicht ohne Erfolg: Von etwa einer Million Deutschen, die 1921 in Polen gezählt wurden, blieben bis 1931 rund 750.000 dort. Die Aktivitäten der zahlreichen deutschen Minderheitenverbände und -parteien in Polen scheint Hitler indes kaum wahrgenommen zu haben.

Vgl. Deutsche und Polen zwischen den Kriegen, Bd. 1, Dok. 55; Alexander (Hrsg.), Quellen, Dok. 2, 10, 13; Jaworski, Minderheiten, S. 252 – 256; Blanke, Orphans, S. 9 – 53; Kotowski, Politik, S. 57, 60 – 78; Braun, Revisionspropaganda, S. 107 f., Oltmer, Konstruktion, S. 23 – 26.

der Vorbereiter des militärischen Freiheitskampfes zu sein vermag.

Wenn ein Volk von hundert Millionen Menschen18, um die staatliche Geschlossenheit zu wahren, gemeinsam das Joch der Sklaverei erduldet, so ist dies schlimmer, als wenn ein solcher Staat und ein solches Volk zertrümmert worden wäre#1939: wäre ersetzt durch: wären und nur ein Teil davon im Besitze der vollen Freiheit bliebe, freilich unter der Voraussetzung, daß dieser letzte Rest erfüllt wäre von der heiligen Mission, nicht nur die geistige und kulturelle Unzertrennbarkeit dauernd zu proklamieren19, sondern auch die waffenmäßige#1937: waffenmäßige ersetzt durch: waffenfähige;
1939: waffenmäßige Vorbereitung zu treffen für die endliche Befreiung und die Wiedervereinigung der unglücklichen#1939: unglücklichen ersetzt durch: unglücklich;
1944: unglücklichen unterdrückten Teile mit dem Mutterlande#1929: gestrichen: mit dem Mutterlande.20

Weiter ist zu bedenken, daß die Frage der Wiedergewinnung verlorener Gebietsteile eines Volkes und Staates immer in erster Linie die Frage der Wiedergewinnung der politischen Macht und Unabhängigkeit des Mutterlandes ist, daß mithin in einem solchen Falle die Interessen verlorener Gebiete rücksichtslos zurückgestellt werden müssen gegenüber dem einzigen Interesse der Wiedergewinnung der Freiheit des Hauptgebietes. Denn die Befreiung unterdrückter, weil#1929: gestrichen: weil abgetrennter Splitter eines Volkstums oder#1929: eingefügt: von Provinzen eines Reiches findet nicht statt auf Grund eines Wunsches der Unterdrückten oder eines Protestes der Zurückgebliebenen21, sondern durch die Machtmittel der mehr oder weniger souverän22 gebliebenen Reste des ehemaligen gemeinsamen Vaterlandes.

Mithin ist die Voraussetzung für die Gewinnung verlorener Gebiete die intensive Förderung und Stärkung des übriggebliebenen Reststaates sowie der im Herzen schlummernde unerschütterliche Entschluß, die dadurch sich bildende neue Kraft in gegebener Stunde dem Dienste der Befreiung und Einigung des gesamten Volkstums zu weihen: Also#1944: Also ersetzt durch: also Zurückstellung der Interessen der abgetrennten Gebiete gegenüber dem einzigen Interesse, dem verbliebenen