Sind Landesverräter zu »beseitigen«? <span class="pagenumber">[192]</span>

204 Nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch die meisten anderen faschistischen Bewegungen in Europa distanzierten sich entschieden von allem, was mit den Ideen und Idealen von 1789 in Verbindung stand. Vor diesem Hintergrund ist Hitlers Bemerkung relativ ungewöhnlich. Dort ging man sogar so weit, Revolutionen generell als »Stern Judas« zu diskreditieren, als »das widerlichste und niederträchtigste Mittel der jüdischen Machtpolitik« – so der spätere Staatssekretär im Reichwirtschaftsministerium Paul Bang in seiner Hetzschrift Judas Schuldbuch (1919). Auch für Alfred Rosenberg war die Französische Revolution »ein einziger großer Zusammenbruch ohne schöpferische Gedanken«. Seitdem sei »›Frankreich‹ jüdisch-römisch bestimmt«.

Vgl. Meister, Schuldbuch (^3/41919), Zitat S. 154; Rosenberg, Mythus, Zitate S. 553, 561; Pfahl-Traughber, Verschwörungsmythos; Plöckinger, Soldaten, S. 286 – 299; Kap. I/11, Anm. 181, 234.

205 Es war das Schicksal dieser drei deutschen Politiker, dass sie 1918 schließlich die Verantwortung für das militärisch-politische Desaster übernahmen, das andere angerichtet hatten. Deshalb wurden Scheidemann, Erzberger und Ebert »mit der Revolution, die sie nicht angestrebt hatten, identifiziert«. Dass sie in dieser beispiellosen Krise im Herbst 1918 die Nation vor Schlimmerem bewahrt hatten, wurde ihnen nicht gedankt. Matthias Erzberger wurde am 26. 8. 1921 von rechtsradikalen Terroristen, Angehörigen der Organisation Consul, ermordet. Am 4. 6. 1922 erfolgte ein Mordanschlag auf Scheidemann; der Attentäter spritzte ihm Blausäure ins Gesicht. Scheidemann ging im März 1933 ins Exil und starb am 29. 11. 1939 mit 74 Jahren in Kopenhagen. Friedrich Ebert starb am 28. 2. 1925 im Alter von 54 Jahren, da er eine Blinddarmentzündung nicht rechtzeitig behandeln ließ. Grund dafür war ein Beleidigungsprozess vor dem Magdeburger Amtsgericht, in dem sich Ebert gegen den Vorwurf des Landesverrats zur Wehr setzen musste.

Vgl. Eschenburg, Erzberger, S. 174 – 177; Wirsching, Revolution, Zitat S. 12; Gellinek, Scheidemann, S. 48; Mühlhausen, Ebert, S. 967 – 980; Anm. 208 in diesem Kapitel.

206 Bei seinem frühen Tod fasste der Vorwärts »Eberts Bedeutung für die deutsche Nation und die deutsche Republik« prägnant zusammen: »Er war der Repräsentant jener Kräfte, die nach dem Zusammenbruch im Kampf gegen bolschewistische und gegenrevolutionäre Strömungen den Weg zur deutschen Demokratie gingen. Ein neues Staatsbürgerbewußtsein sollte den Grund zu einem neuen Deutschland legen, eine vorsichtige, mehr den wahren Lebensnotwendigkeiten als den Gefühlen des Volkes Rechnung tragende Außenpolitik das Reich und seine Einheit retten. Was an unbeirrbarer Festigkeit und persönlichem, vor keiner Lebensgefahr zurückschreckendem Mut dazu gehört hat, um auf dieser Bahn vorwärts zu kommen und Erfolge zu erringen, was im täglichen Kampf gegen Kurzsichtigkeit, Böswilligkeit und fanatische Niedertracht von draußen und von drinnen zu leisten war, wird keiner ermessen, der es nicht mitkämpfend aus unmittelbarer Nähe erlebt hat.«

Vgl. Vorwärts vom 28. 2. 1925, »Ein Sohn des Volkes« (Herv. i. Orig.).

208 Diese Passage zielt vor allem gegen die rechtsterroristische Geheimorganisation, Organisation Consul (O. C.), deren Zentrale in München lag. Dort hatte die O. C. die SA militärisch geschult, bis Spannungen zwischen dem Leiter der O. C., Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, und Hitler diese Kooperation im November 1923 beendeten. Hauptziel der O. C., deren »Arbeitsgemeinschaften« sich mit insgesamt etwa 5.000 Anhängern über das gesamte Reich verteilten, war die Beseitigung der Weimarer Republik. Dazu plante sie indes nicht eine gewaltsame Machtübernahme nach dem Muster des Kapp-Putschs; vielmehr hielt sie die Provokation eines »Linksputschs« für das geeignetere Mittel. Nach einem erfolgten Staatsstreich wollte »sich die O. C. angeblich in den Dienst der Regierung stellen und staatserhaltend eingreifen«, wie ein verhaftetes Mitglied der Geheimorganisation zu Protokoll gab: »Nach Niederwerfung des Linksputsches war es Aufgabe der Führer der Gruppe C., ihre Macht zur Erreichung der herrschenden Staatsgewalt einzusetzen und somit die bestehende Regierung, wie auch die Verfassung von Weimar, umzustoßen«. Als Provokation sollten die Morde an Matthias Erzberger (26. 8. 1921) und Walter Rathenau (24. 6. 1922) sowie der Mordanschlag auf Philipp Scheidemann (4. 6. 1922) dienen. Dies hatte jedoch – wie Hitler erkannte – einen gegenteiligen Effekt: Es kam zu Massendemonstrationen, am 25. 6. 1922 auch zu einem reichsweiten Streik, an denen sich nicht nur die Vertreter der politischen Linken, sondern auch der politischen Mitte sowie viele Beamte beteiligten; gewaltsame Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Vertretern des Staats blieben hingegen die Ausnahme. Zu Recht wertete dies der Reichskommissar für die Überwachung der Öffentlichen Ordnung als »Beweis für die Stabilität der Verhältnisse. Die Disziplin der Gewerkschaften und das energische Eingreifen der Reichsregierung zur Verhütung weiterer Gewalttaten und zur Unterbindung republikfeindlicher Bestrebungen haben im allgemeinen schwere Ausschreitungen politisch links orientierter Bevölkerungskreise zu verhindern vermocht.« Die O. C. wurde durch das Republikschutzgesetz vom 21. 7. 1922 verboten und ihre Strukturen zerschlagen, die Verantwortlichen des Terrors gerichtlich aber kaum zur Verantwortung gezogen. Reste der O. C. lebten im Bund Wiking fort, ohne aber je wieder eine wirkliche Bedeutung zu erlangen. Zugleich enthält diese Passage noch einen Subtext: Obwohl sich Hitler und Ehrhardt seit 1920 kannten und politisch einander nahestanden, verfeindeten sie sich schon relativ bald. Ursache waren nicht nur divergierende Auf‌fassungen über die angemessene Gesamtstrategie im Kampf gegen die Republik. Es existierten auch eine ganze Reihe von Einzelfragen, die zwischen beiden für Streit sorgten. Während Erhardt mit Blick auf Hitler 1932 öffentlich kundtat, es sei traurig, »daß sich die Auf‌fassungen so weit gewandelt haben, daß jemand, der das größte Maul hat, heute der größte Held ist«, hatte Hitler schon 1924, während seines Prozesses, eingeräumt, »daß zwischen der Organisation Ehrhardt [sic!] und uns ein Zwiespalt bestand«. 1928 stellte Hitler dann nochmals offiziell klar, »daß weder Ehrhardt noch seine Organisation […] mit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei etwas zu tun haben«.

Vgl. IfZ-Archiv, ZS 1135: Kptn.ltn. a. D. Eberhard Kautter, Bericht vom 26. 3. 1957 (Zitat); Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 611; Hitler, Reden, Bd. III/1, Dok. 11, Zitat S. 32; Der Hitler-Prozess 1924, Teil 1, Zitat S. 103; Hannover/ Hannover-Drück, Justiz, S. 135 – 144; Jasper, Akten; Krüger, Brigade; Sabrow, Rathenaumord, Zitat S. 165; Sabrow, Verschwörung, Zitat S. 61; Meinl, Nationalsozialisten, S. 42 – 65, Zitat S. 223; Sauer, Freikorps, S. 3.

209 Anspielung auf die sogenannten Fememorde, die Liquidierung tatsächlicher oder angeblicher Verräter und Spitzel durch rechtsradikale Täter nach dem Ersten Weltkrieg. Der Begriff der »Feme«, belegt seit dem 13. Jahrhundert im Mittelniederdeutschen, wurde gewöhnlich für Freigerichte verwendet, die über schwere Rechtsbrüche wie Tötung, Raub oder Brandstiftung zu urteilen hatten. Im Westfälischen entwickelten sich daraus geheime Gerichte, die über einen Angeklagten auch dann urteilen konnten, wenn dieser abwesend war – ein Verfahren, das nach 1918 hauptsächlich rechts-, zuweilen auch linksradikale Gruppen kopierten, um mit »abtrünnigen« Gefolgsleuten »abzurechnen«. Die Verwendung des Begriffs der »Feme« war freilich nicht mehr als die Verbrämung eines schweren Verbrechens. Bereits Emil Julius Gumbel hat dies zeitgenössisch sehr genau dokumentiert. Für die Zeit vom Juli 1920 bis zum 15. 1. 1924 kann er 16 Morde und sechs Mordversuche nachweisen, die rechtsradikale Täter oder Organisationen zu verantworten hatten. Die Täter kamen meist aus dem Freikorps Roßbach, der Bayerischen Einwohnerwehr, am häufigsten aber aus der »Schwarzen«, der illegalen Reichswehr – alles Organisationen, die an einer Geheimhaltung ihrer Aktivitäten besonderes Interesse hatten. Die juristische Ahndung dieser Morde verlief schleppend; ein großer Teil dieser Verbrechen blieb ungesühnt, die übrigen Strafen entsprachen nicht annähernd der Schwere der Taten. Als sich nur noch zwei Mörder in Haft befanden, wurden am 24. 10. 1930 mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Straffreiheit vom 14. Juli 1928 alle noch schwebenden Fememordprozesse niedergeschlagen und die inhaftierten Täter entlassen.

Vgl. RGBl. 1930/I, S. 124; Gumbel/ Jacob/ Falck, Opfer, S. 385 – 389; Gumbel, Feme; Nagel, Fememorde; Hofmann, Fememorde; Sauer, Reichswehr; Anm. 130 in diesem Kapitel.

durch die grenzenlose Jämmerlichkeit, das feige Versagen der bürgerlichen Welt.203 Die grausamste Kritik, die man an unserem Bürgertum üben kann, ist die Feststellung, daß die Revolution selbst ja nicht einen einzigen Kopf von einiger Größe hervorgebracht und es sich ihr dennoch unterworfen hat. Es ist immer noch verständlich, vor einem Robespierre, einem Danton oder Marat zu kapitulieren204, aber es ist vernichtend, vor dem dürren Scheidemann, dem feisten Herrn Erzberger und einem Friedrich Ebert und all den zahllosen anderen politischen Knirpsen zu Kreuz gekrochen zu sein.205 Es war ja wirklich auch nicht ein Kopf da, in dem man etwa den genialischen#1933: genialischen ersetzt durch: genialen Mann der Revolution und damit das Unglück des Vaterlandes hätte sehen können206, sondern#1929: eingefügt: da waren lauter Revolutionswanzen, Rucksackspartakisten207 en gros und en detail#1939: detail ersetzt durch: détail. Irgendeinen davon aus dem Wege#1939: eingefügt: zu schaffen, war vollkommen belanglos und hatte höchstens den einen Erfolg, daß ein paar andere ebenso große und ebenso durstige Blutsauger um so eher an seine Stelle kamen.208

Man konnte in jenen Jahren gar nicht scharf genug gegen eine Auf‌fassung einschreiten, die in wirklich großen Erscheinungen der Geschichte ihre Ursache und Begründung hatte, aber nicht im geringsten auf das augenblickliche Zwergenzeitalter paßte.

Auch bei der Frage der Beseitigung sogenannter Landesverräter209 ist die gleiche Betrachtung anzustellen. Es ist lächerlich unlogisch, einen Burschen umzubringen, der eine Kanone verraten hat, während nebenan in höchsten Würdestellen Kanaillen#1937: Kanaillen ersetzt durch: Canaillen;
1939: Kanaillen sitzen, die ein ganzes Reich verkauften, zwei#1929: zwei ersetzt durch: das vergebliche Opfer von zwei Millionen Tote#1929: Tote ersetzt durch: Toten auf dem Gewissen haben, Millionen Krüppel verantworten müssen210, dabei aber seelenruhig ihre republikanischen Geschäfte machen. Kleine Landesverräter#1939: eingefügt: zu; 1944: wieder gestrichen: zu beseitigen, ist sinnlos in einem Staat, dessen Regierung selbst diese#1929: diese ersetzt durch: die;
1930: diese;
1944: die Landesverräter von jeder Strafe befreit. Denn so kann es passieren, daß eines Tages der redliche Idealist, der für sein Volk einen schuftigen Waffenverräter beseitigt, von kapitalen Landesverrätern zur Verantwortung gezogen wird. Und da ist es doch eine wichtige Frage: Soll man solch eine verräterische kleine Kreatur wieder durch eine Kreatur beseitigen lassen oder durch einen Idealisten? Im einen Fall ist der Erfolg zweifelhaft und der Verrat