Unangebrachte Milde gegen Deserteure <span class="pagenumber">[170]</span>

54 Hitlers Russlandbild war bis 1924 eher antibolschewistisch als antirussisch geprägt. Unter dem Einfluss von Alfred Rosenberg gewannen jedoch zunehmend rassistische Projektionen an Einfluss; dazu gehörte auch die Vorstellung, der Bolschewismus sei nichts anderes als eine spezielle Form jüdischer Herrschaft über die »ungebildeten, nicht lesen- und nicht schreibenkönnenden Haufen« der Russen. Parallel dazu entwickelte sich die Forderung nach Lebensraum, wie sie Hitler dann in Mein Kampf formulierte. Im Kapitel Ostorientierung oder Ostpolitik (II/14) schloss er apodiktisch: »Das derzeitige, seiner germanischen Oberschicht entkleidete Rußland ist, ganz abgesehen von den inneren Absichten seiner neuen Herren, kein Verbündeter für einen Freiheitskampf der deutschen Nation.« Solch aberwitzige Vorstellungen wurden gestützt von pragmatischstrategischen Überlegungen; in Hitlers Augen war die Sowjetunion aufgrund ihrer geostrategischen Lage und ihrer wirtschaftlich-militärischen Schwäche nicht imstande, Deutschland in einem militärischen Konflikt wirksam zu unterstützen.

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, S. 96, 103, 327, 330, 631, 888; Hitler, Reden, Bd. II A, S. 104 ff., Bd. III/3, Dok. 3, 20; Horn, Aufsatz; Weißbecker, Beharrung; Koenen, Russland-Komplex; Kap. II/14, Zitat S. 321.

58 Gerade im Deutschen Reich wurden während des Ersten Weltkriegs so viele Männer wie nur irgend möglich für den Kriegsdienst mobilisiert, insgesamt ca. 13,2 Millionen Mann. Dies entsprach ungefähr einem Fünftel der deutschen Gesamtbevölkerung, bzw. einem Anteil von 85 % aller Männer im wehrpflichtigen Alter. Davon abgesehen ignoriert Hitlers pauschaler Vorwurf die Wirklichkeit des modernen Kriegs, der ohne die permanente Unterstützung der Heimatfront nicht möglich ist. Dabei war der personelle Bedarf der Streitkräfte so hoch, dass die Arbeitskräfte im zivilen Sektor auf ein gerade noch vertretbares Minimum reduziert wurden. Das deutsche Heer brauchte – nicht anders als die Heere seiner Gegner – so viele Menschen, dass selbst die Landwirtschaft oder die Schwer- und die Rüstungsindustrie gezwungen waren, auf Ersatz zurückzugreifen. So waren in der deutschen Kriegswirtschaft 1917 ca. vier Millionen Frauen beschäftigt, in der deutschen Landwirtschaft ca. 940.000 Kriegsgefangene. Trotz dieser Unterstützung reichten die vom Kriegsdienst zurückgestellten Wehrfähigen kaum aus, um die empfindlichen Lücken in Industrie und Landwirtschaft zu schließen. Mitte 1916 waren 1.190.200 zurückgestellte Wehrfähige im Deutschen Reich tätig, von denen 738.000 kriegsverwendungsfähig waren; Mitte 1918 waren es dann 2.424.300 Wehrfähige, von ihnen waren 1.187.800 kriegsverwendungsfähig. Die Veränderung in der Relation dieser Zahlen belegt klar, dass es sich bei den Angehörigen dieser Personengruppe in den wenigsten Fällen um »Drückeberger« gehandelt haben dürfte. Im Übrigen waren auch im Deutschen Reich zwischen September 1939 und Mai 1941 27,8 % der Wehrfähigen »unabkömmlich« gestellt.

Vgl. Kroener, Ressourcen, bes.S. 698 – 702, 812; Bessel, Demobilmachung, S. 428; Anm. 24 in diesem Kapitel.

59 Das Militär-Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. 6. 1872 regelte auch die Ahndung von Delikten wie Unerlaubte Entfernung und Fahnenflucht. § 64 sah für den Straftatbestand der Unerlaubten Entfernung eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten vor, bei längerer Abwesenheit (§ 66 und 67) eine Freiheitsstrafe bis maximal fünf Jahre. Für den Fall der Desertion variierte das Strafmaß zwischen einem Jahr Gefängnis und zehn Jahren Zuchthaus (§ 70 und 71). Desertion »im Felde« konnte im Höchstfall mit der Todesstrafe geahndet werden (§ 71 – 73). Trotz dieser Vorgaben agierte die deutsche Militärjustiz während des Ersten Weltkriegs vergleichsweise maßvoll. Während des Kriegs wurden 150 Todesurteile ausgesprochen, von denen 48 vollstreckt wurden.

Vgl. Militär-Strafgesetzbuch (1872), S. 96 – 100; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 172.

60 Aufgrund des Verlusts der Akten der preußischen Armee existieren nur Teilangaben über die Desertion deutscher Soldaten während des Ersten Weltkriegs. Allerdings sind relativ detaillierte Informationen über die Bayerische Armee überliefert. Sie zeigen klar, dass Desertionen sehr selten vorkamen – von insgesamt 1.360.000 bayerischen Soldaten dürften nur knapp 50.000 (3,7 %) desertiert sein. Ähnliche Zahlen gibt es von der Württembergischen Armee. Dass in den anderen deutschen Kontingenten andere Verhältnisse herrschten, ist wenig wahrscheinlich. Interessanterweise war damit die Desertionsrate während des Kriegs nur unwesentlich höher als im Frieden; erst infolge der zunehmenden Auflösung der militärischen Ordnung im Spätsommer und Herbst 1918 kletterten die Zahlen nach oben. Auf‌fallend ist, dass sehr viel mehr Soldaten im Heimat- als im Feldheer desertierten. Auf vier Desertionen aus den Garnisonen des Heimatheers kam nur eine Desertion von der Front. Dies lag auch daran, dass Desertionen in der Heimat erheblich leichter waren als im Frontgebiet. Doch gibt es auch viele Hinweise darauf, dass der Zusammenhalt der Fronttruppe ungleich stärker war als der der Ausbildungs- und Ersatzeinheiten.

Vgl. Jahr, Soldaten, S. 149 – 176.

61 Dieser Grundsatz wurde im Zweiten Weltkrieg zunehmend zur Maßgabe der deutschen Justiz. Das ging so weit, dass 1945 schließlich an erhängten deutschen Soldaten Pappschilder befestigt wurden, auf denen etwa zu lesen stand: »Wer kämpft, kann sterben. Wer sein Vaterland verrät, muß sterben.« Eingeleitet wurde diese Pervertierung des Rechts schon deutlich früher – durch die Kriegssonderstrafrechtsverordnung und die Kriegsstrafverfahrensordnung, beide erlassen am 17. 8. 1938 und am 26. 8. 1939 in Kraft getreten, sowie durch das Militärstrafgesetzbuch in seiner Neufassung vom 10. 10. 1940. Allerdings ereigneten sich Delikte wie Fahnenflucht oder Unerlaubte Entfernung zu Beginn des Kriegs noch relativ selten und entsprechend wenige Todesurteile wurden anfangs verhängt; erst in der zweiten Kriegshälfte nahmen die Desertionen immer mehr zu. Die Wehrmachtjustiz reagierte darauf mit immer drakonischeren Urteilen. In den Jahren 1939 – 1945 fällte die Wehrmachtjustiz schätzungsweise zwischen 22.000 und 30.000 Todesurteile gegen Deserteure, von denen etwa 15.000 bis 20.000 vollstreckt wurden. Hinzu kamen in den letzten Kriegsmonaten noch mehrere Tausend Exekutionen durch Standgerichte. Die Zahl der »schweren Strafen« in Form von Überstellungen in Wehrmachtgefängnisse, Wehrmachtgefangenen-Abteilungen, Feldstraflager und Bewährungseinheiten wird auf bis zu 370.000 geschätzt.

Vgl. Messerschmidt/ Wüllner, Wehrmachtjustiz; Wüllner, NS-Militärjustiz; Eberlein, Militärjustiz; Wette (Hrsg.), Deserteure; Thomas, Truppe, bes.S. 48; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 166, 168, 420; Beevor, Berlin, Bild 20 zwischen S. 272 und 273; Kirschner (Hrsg.), Deserteure; Pirker, Wehrmachtjustiz.

in keinerlei Beziehung und Verbindung stehende dünne intellektuelle Oberschicht zu hetzen, war das Schicksal dieses Landes entschieden, die Revolution gelungen54; der russische Analphabet war damit zum wehrlosen Sklaven seiner jüdischen Diktatoren55 gemacht, die ihrerseits allerdings klug genug waren, diese Diktatur von der Phrase der »Volksdiktatur« tragen zu lassen.56

In Deutschland kam noch folgendes dazu: So sicher die Revolution nur infolge der allmählichen Zersetzung des Heeres gelingen konnte, so sicher war der wirkliche Träger der Revolution und Zersetzer des Heeres nicht der Soldat der Front gewesen, sondern das mehr oder weniger lichtscheue Gesindel, das sich entweder in den Heimatgarnisonen57 herumtrieb oder als »unabkömmlich« irgendwo in der Wirtschaft Dienste verrichtete.58 Verstärkt wurde diese Armee noch durch Zehntausende von Deserteuren, die ohne besonderes Risiko59 der Front den Rücken kehren konnten.60 Der wirkliche Feigling scheut zu allen Zeiten natürlich nichts mehr als den Tod. Den Tod aber hatte er an der Front Tag für Tag in tausendfältigen Erscheinungen vor Augen. Will man schwache, schwankende oder gar feige Burschen nichtsdestoweniger zu ihrer Pflicht anhalten, dann gibt es von jeher nur eine Möglichkeit: Es#1937: Es ersetzt durch: es;
1939: Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.61 Nur durch solch eine drakonische Bedrohung jedes Versuches zur Fahnenflucht kann eine abschreckende Wirkung nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Gesamtheit erzielt werden.

Und hier lagen Sinn und Zweck der Kriegsartikel.62

Es war ein schöner Glaube, den großen Kampf um das Dasein eines Volkes durchfechten zu können, lediglich gestützt auf die aus der Erkenntnis der Notwendigkeit heraus geborene und erhaltene freiwillige Treue. Die freiwillige Pflichterfüllung hat immer die Besten in ihrem Handeln bestimmt; nicht aber den Durchschnitt. Darum sind derartige Gesetze notwendig; wie zum Beispiel die gegen Diebstahl, die ja nicht für die grundsätzlich Ehrlichen ge-