Einleitung
Mein Kampf enthält das umfassendste überlieferte autobiografische Zeugnis Hitlers. Und doch sind die »biografischen Kapitel« und die weit verstreuten Passagen des Buchs, die weitere Aussagen Hitlers zum eigenen Werdegang enthalten159, alles andere als eine Autobiografie. Sie sind vielmehr eine stark selektive und überaus stilisierte Lebenserzählung, durchsetzt mit zahlreichen Topoi, die in erster Linie dem Zweck dienen, Hitler als den auserwählten »Führer« nicht nur der nationalsozialistischen »Bewegung«, sondern auch des gesamten deutschen Volks erscheinen zu lassen. Mit solch einem Topos eröffnet Hitler dann auch den ersten Band seines Buchs: »Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies.«160 Zufälle gibt es in Hitlers autobiografischer Selbstdeutung fast nie: Es sind vielmehr höhere Mächte, Kategorien wie das »Schicksal« oder die »Vorsehung«, die immer wieder seinen Lebensweg lenken. Allein in den Kapiteln Im Elternhaus (I/1) und Wiener Lehr- und Leidensjahre (I/2) kommen diese beiden Begriffe nicht weniger als 26 Mal vor, oft an zentralen Stellen. So lässt Hitler auch das Kapitel I/2 mit den Worten beginnen: »Als die Mutter starb, hatte das Schicksal in einer Hinsicht bereits seine Entscheidung getroffen.«161
Ein weiteres zentrales Element in Hitlers autobiografischem Narrativ als auserwählter »Führer« ist die Selbstinszenierung als verkanntes Genie, als Außenseiter und Rebell, der gegen alle Widerstände den vom Schicksal vorgezeichneten Weg gegangen sei. Typisch hierfür ist etwa Hitlers Behauptung im Kapitel I/1, er habe in der Schule zunächst »leicht und damals auch sehr gut« gelernt, sei aber sonst »ziemlich schwierig zu behandeln« gewesen. Das »lächerlich leichte Lernen in der Schule«162 habe er lediglich aus Trotz und Opposition gegen seinen Vater eingestellt. Als Kind, so Hitler, sei er »verbohrt und widerspenstig« gewesen – ein »junge[r] Revolutionär« und »kleiner Rädelsführer«, ausgestattet mit zahlreichen Talenten: vom rednerischen angefangen bis zum künstlerischen, das allerdings noch übertroffen worden sei vom »zeichnerischen, besonders auf fast allen Gebieten der Architektur«. 163 Solche Selbstbeschreibungen orientierten sich nicht nur am Geniekult des 19. Jahrhunderts, der Renitenz und akademischen Misserfolg als Beweis einer verkannten Genialität deutete. 164 Parallelen zu Hitlers Darstellung finden sich auch in den Viten großer, von Hitler verehrter Künstler – allen voran bei Richard Wagner. 165
Zugleich erinnert Hitlers Schilderung des eigenen Werdegangs in vielerlei Hinsicht an den klassischen Bildungsroman. Mehrere Hauptmerkmale dieser Werkgattung, in welcher ein junger Protagonist einen »Prozeß der Selbstfindung und der Orientierung in der Welt«166 durchlebt, haben ihre Spuren in Mein Kampf hinterlassen. Hierzu zählen in erster Linie »die Auseinandersetzung mit dem Elternhaus, die Einwirkung von Mentoren und Erziehungsinstitutionen, die Begegnung mit der Sphäre der Kunst, erotische Seelenabenteuer, die Selbsterprobung in einem Beruf und bisweilen auch der Kontakt zum öffentlich-politischen Leben«. 167 Abgesehen von der Erotik168 finden sich in den Kapiteln I/1 bis I/3 zu all diesen Merkmalen Entsprechungen: Die Auseinandersetzung mit dem Elternhaus wird primär in Gestalt des Konflikts mit dem Vater geschildert, der seinen Sohn – entgegen dessen »tiefinnere[r] Abneigung«169 – in eine Beamtenlaufbahn habe drängen wollen. Die Einwirkung von Mentoren findet ihre Entsprechung in Hitlers Geschichtslehrer Leopold Pötsch, der die Schüler »zu heller Glut begeistert«, »zu Tränen gerührt« und ihr »nationale[s] Ehrgefühl«170 geweckt habe. 171 Hinsichtlich seiner ersten Begegnung mit der Sphäre der Kunst schildert Hitler seine prägenden Erfahrungen mit Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell und mit Richard Wagners Oper Lohengrin im Alter von (angeblich) »zwölf Jahren«172, aber auch die architektonischen Eindrücke, welche die Prachtbauten der Wiener Ringstraße auf ihn gemacht hätten. 173 Bei der Selbsterprobung in einem Beruf kann auf Hitlers (abermals angebliche) Erfahrungen als »Hilfsarbeiter« und seinen vermeintlichen Entschluss, sich durch »ehrliche Arbeit« das »tägliche Brot zu schaffen« und sich »durchzuschlagen«174, verwiesen werden – ein Entschluss, dessen Umsetzung ihm »am Bau« dann durch den »Terror«175 und die Gewaltandrohungen sozialistischer Arbeiter unmöglich gemacht worden sei. Und einen ersten Kontakt zum öffentlich-politischen Leben skizziert Hitler schließlich vor allem durch die Schilderung seiner Besuche des österreichischen Reichsrats, den er rasch als ein Instrument der »weiteren Entdeutschung«176 des Habsburgerstaats durchschaut habe.
Bezeichnenderweise keine Entsprechung findet in Mein Kampf hingegen ein weiteres und weiterführendes, zentrales Element des Bildungsromans: Hitlers Selbstdarstellung kennt, so Helmuth Kiesels treffende Beobachtung, »keine ernsthaften Krisen oder Abweichungen vom richtigen Kurs«. 177 Allenfalls die erste seiner beiden Ablehnungen an der Akademie der bildenden Künste im September 1907 schildert Hitler als eine solche Zäsur178, ohne dass sich daraus jedoch eine entscheidende Lehre für seinen weiteren Lebensweg ergeben würde. 179 Doch nicht nur wegen dieser Abweichung vom Idealtyp des Bildungsromans sollte die Wesensverwandtschaft zwischen dieser Romangattung und den autobiografischen Passagen von Mein Kampf nicht über Gebühr gewichtet werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach lehnte sich Hitler nicht bewusst an sie an, sondern imitierte schlicht Muster aus anderen, ihm bekannten Lebensbeschreibungen. Die Vorstellung jedenfalls, Hitler habe sich intensiv mit Belletristik oder gar speziell mit Bildungsromanen auseinandergesetzt, wäre irrig; kennzeichnend für ihn war eher ein literarisches Desinteresse. Noch im März 1942 stellte er heraus: »Ich lese nie einen Roman und fast nie das Feuilleton, warum soll ich mir das antun: Ich würde mich nur ärgern!«180
Noch ein Aspekt an den autobiografischen Ausführungen in Mein Kampf verdient Beachtung: Viele jener Charakteristika, die sich Hitler im Rückblick selbst zuschreibt, waren in völkischen Kreisen hoch angesehen und galten als typische »seelische Eigenschaften« der »arischen« bzw. »nordischen Rasse«, wie sie vor allem der populäre völkische Laienanthropologe Hans F. K. Günther in seiner viel gelesenen, auch von Hitler rezipierten Rassenkunde des deutschen Volkes (1922) beschrieb: Ein »nordischer« Mensch, so Günther, neige »zum Einzeltum [sic!] im täglichen Leben«; dieses »Einzeltum« mache ihn »oft abweisend und geradezu hart und schonungslos«. Außerdem habe er »eine Abneigung gegen jegliche Beeinflussung« und sei an Begabung »unvergleichlich reich«. Menschen »nordischer Rasse« seien zwar höchstbegabt, aber nicht fleißig, durchlebten »Flegeljahre« und erbrächten in der Schulzeit oft nur mittelmäßige oder schlechte Leistungen. In »jüngeren Jahren« denke der »nordische Mensch« »viel mehr an körperliche Leistungen und gern an kriegerische Spiele«. 181 Eine sehr frühe Kriegsbegeisterung nimmt denn auch in Mein Kampf einen prominenten Platz ein: Seit seiner Beschäftigung mit dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71), so Hitler gleich zu Beginn seines Buchs, habe er »mehr und mehr für alles, was irgendwie mit Krieg oder doch mit Soldatentum zusammenhing«182, geschwärmt. Inwieweit Hitlers autobiografische Ausführungen von Günthers Modell der »seelischen Eigenschaften der nordischen Rasse« inspiriert waren, bleibt zwar eine offene Frage; die Überschneidungen sind an einigen Stellen jedoch frappierend.
Ein weiterer Topos, der Hitlers Lebenserzählung in Mein Kampf wie ein roter Faden durchzieht, charakterisiert laut Hans F. K. Günther ebenfalls die »nordische Rasse«: »Zwar rasch auffassend, aber langsam und gründlich urteilend, kommt der nordische Mensch zu langsam reifender Erkenntnis und Erfahrung«. 183 Auch bei Hitler ist es stets die harte Schule des Lebens, ein schwerer Lern-, Reife- und Erkenntnisprozess, ein innerer Kampf, der ihn letztlich zu seinen »unerschütterlichen« Überzeugungen geführt habe. Seine Wiener Jahre seien ihm »die schwerste, wenn auch gründlichste Schule«184 seines Lebens geworden – eine Zeit, in der er »fünf Jahre Elend und Jammer«185 erlitten habe. Dass Hitlers finanzielle Situation zu Beginn seiner Wiener Zeit in Wirklichkeit aufgrund seiner Waisenrente, seines mütterlichen Erbes und eines Darlehens seiner Tante Johanna Pölzl186 längst nicht so schlecht war, als Hitler glauben machen will, und er in Wien wahrscheinlich nie als Bauarbeiter sein Brot verdienen musste187, hätte ebenso wenig in diese Schilderung seiner prägenden Jahre gepasst wie der Umstand, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht in Wien, sondern erst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zum dogmatischen Rassenantisemiten wurde. 188 Gleichwohl behauptet Hitler, seine »schwerste Wandlung überhaupt« habe sich bereits damals, nach einem »lange[n] innere[n] Seelenkampf« vollzogen: »Es war für mich die Zeit der größten Umwälzung gekommen, die ich im Inneren jemals durchzumachen hatte. Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden.«189
Alles, was Hitler in Wien kennen und hassen gelernt haben will – die Habsburgermonarchie, das Parlament, die Juden, die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften –, habe er gründlich »studiert«. Nie, so lässt er seine Leser glauben, habe er seine Überzeugungen schnell und leicht gewonnen. Selbst zur Ablehnung des Parlamentarismus habe er sich erst »nach zweijährigem Besuch des Wiener Parlaments durchgerungen« – wobei er sich einmal mehr auf das Schicksal beruft, dem er »mehr als dankbar sein« müsse, dass es ihm »auch diese Frage noch in Wien zur Prüfung«190 vorgelegt habe. Auch die Entwicklung der österreichischen Alldeutschen Vereinigung und Karl Luegers Christlichsozialer Partei will Hitler als »klassisches Studienobjekt« in Wien »auf das aufmerksamste verfolgt«191 haben. Überhaupt reduziert Hitler seinen politischen Formationsprozess völlig auf die Wiener Jahre – und zwar in einer solchen Weise, dass sein späterer »Einsatz für die NSDAP als konsequente Fortentwicklung bereits in Wien ausgeprägter politischer Vorstellungen«192 erscheinen soll. Dass es andere Stationen und Ereignisse gab, die Hitler politisch wohl noch entscheidender prägten, wird in Mein Kampf konsequent ausgeblendet. Dies betrifft ganz besonders seine Zeit in München nach Ende des Ersten Weltkriegs, wo sein eigentlicher politischer Weg begann. 193
Alles in Mein Kampf läuft darauf hinaus, Hitler als den »unbekannten Einzelnen« zu präsentieren, als der er sich zeit seines Lebens stilisierte und der in dieser reduzierten Typologie natürlich ein besonders großes Identifikationspotenzial bot. So erklärte er etwa am 10. Februar 1933 in einer Rede im Berliner Sportpalast, er habe »als ein namenloser und unbekannter Soldat den Entschluss« gefasst, »nun eine Bewegung zu bilden, die über Stände und Berufe, Parteien, Klassen von früher hinweg, das deutsche Volk auf einer neuen möglichen Ebene wieder vereinigen kann«. Damals habe er sich »als unbekannter Einzelner« den »Kampf gegen den Marxismus« zum »Kampfziel« erhoben und sich gelobt, »diesen Krieg zu beginnen, und nicht zu ruhen, bis endlich diese Erscheinung aus dem deutschen Leben beseitigt sein würde«. 194 Die hierin zum Ausdruck kommende Egomanie durchzieht auch schon die autobiografischen Abschnitte von Mein Kampf. Vater und Mutter werden zwar kurz erwähnt, um das Generationsproblem anzudeuten, doch ein plastisches Bild ihrer Persönlichkeiten gelingt Hitler nicht im Ansatz und passte wohl auch nicht in sein Konzept. 195 Der Rest der Familie bleibt völlig unerwähnt – insbesondere seine Schwester Paula, seine Großeltern wie auch seine Tante Johanna Pölzl, die ihn immerhin großzügig finanziell unterstützte und damit zu den durchaus aussichtsreichen Startchancen ihres Neffen beitrug, die dieser allerdings nicht nutzte.
Die große Anonymität, aus der Hitler kam, wird durch Mein Kampf also gerade nicht aufgehellt. Vielmehr war Hitler peinlich darum bemüht, diese Anonymität in seinem Buch, wie überhaupt zeit seines Lebens, so weit wie möglich zu wahren. Wenn überhaupt, greift Hitler in Mein Kampf Informationen und Legenden zu seinem Werdegang auf, die bereits zuvor in rechten Kreisen kursierten, um das wenige, bereits »Bekannte zu strukturieren, zu gewichten und nicht zuletzt falsche oder gelegentlich ins Groteske gesteigerte Darstellungen zu widerlegen«. 196 Insgesamt zeichnet sich Hitlers Lebensbeschreibung in Mein Kampf neben einem rigorosen Stilisierungswillen vor allem durch eine planvolle Lückenhaftigkeit aus. 197 Als ein ihm bis dahin unbekannter Neffe aus Großbritannien im Jahr 1930 mit »enthüllenden« Veröffentlichungen zur gemeinsamen Verwandtschaft drohte, soll Hitler ausgerufen haben: »Mit welcher Vorsicht habe ich immer meine Person und meine persönlichen Angelegenheiten vor der Presse verborgen! Die Leute dürfen nicht wissen, wer ich bin. Sie dürfen nicht wissen, woher ich komme und aus welcher Familie ich stamme. Selbst in meinem Buch habe ich mir nicht ein Wort über diese Dinge erlaubt, nicht ein Wort!«198 Wie authentisch dieser im August 1939 durch jenen Neffen, William Patrick Hitler, überlieferte Wortlaut ist, bleibt zwar umstritten; unstrittig ist jedoch Hitlers Wille, in Mein Kampf nur ausgewählte Details aus seiner frühen Biografie preiszugeben und seine Familiengeschichte zu verschleiern. Dieser Absicht war auch Hitlers Entscheidung geschuldet, Freunde und Weggefährten in seinem Buch ebenfalls auszusparen. Dabei besaß er während seiner Linzer und Wiener Jahre in dem Tapezierergesellen und späteren Musiker August Kubizek einen recht engen, treuen und sehr hilfsbereiten Jugendfreund. 199 Ebenso wenig erwähnt Hitler den Wiener Drogerielehrling und späteren Kaufmann Rudolf Häusler, mit dem er sich im Wiener Männerheim anfreundete und der ihn 1913 nach München begleitete. 200
Noch überraschender erscheint, dass Hitler den Ersten Weltkrieg, immerhin die prägende Gewalterfahrung seiner Generation und zentraler Bezugspunkt für seine Selbstdarstellung als »namenloser und unbekannter Soldat«, nur relativ kurz in Mein Kampf abhandelt, gerade auch im Hinblick auf seine individuellen Erfahrungen. Am ausführlichsten ist dabei noch die Schilderung seiner Kriegsbegeisterung im August 1914 sowie seiner Meldung als Kriegsfreiwilliger. 201 Von den eigentlichen Einsätzen Hitlers an der Westfront erfährt der Leser hingegen kaum etwas. 202 Stattdessen referiert Hitler ausführlich über seine angebliche Empörung über die Presse in der Heimat, welche die Kriegsbegeisterung durch eine skeptische Berichterstattung bewusst untergraben habe, sowie seine Empörung über die vermeintlich unzureichende Härte der politischen Führung gegenüber der Sozialdemokratie – einer »Pestilenz«, zu deren »Ausrottung« der »rücksichtslos[e]« Einsatz der »gesamten militärischen Machtmittel« geboten gewesen wäre. 203
Trotz aller Kürze darf auch in diesem Teil von Hitlers Ausführungen der zentrale Topos des inneren Reifeprozesses nicht fehlen: Im Kampf gegen die eigene »Feigheit« habe »nach langem inneren Streite das Pflichtbewußtsein den Sieg« davongetragen: Im »Winter 1915/16« sei bei ihm »dieser Kampf entschieden« gewesen und »der Wille […] endlich restlos Herr geworden«204 – dies immerhin ein erstaunlich offener Einblick in Hitlers Psyche und in seine seelische Verfassung nach dem Ende der Hoffnungen des Jahres 1914, so sehr er natürlich überformt ist von Hitlers nimmermüdem Stilisierungswillen. Zu den erstaunlichsten Aussparungen Hitlers gehört schließlich die Verleihung der ungewöhnlich hohen Dekoration des Eisernen Kreuzes I. Klasse, das damals Mannschaftssoldaten – vor allem solche, die vier Jahre lang nie befördert wurden – nur sehr selten erhielten. 205 Möglicherweise hielt Hitler seine Ausführungen zum Ersten Weltkrieg bewusst knapp, da er die Publikation seiner Kriegserinnerungen als eigenständiges Buch plante – ein Projekt, das dann im Sand verlief. 206 Doch bleibt das Spekulation. Vielleicht stand auch ein anderes Motiv im Vordergrund: Die Veteranen des Ersten Weltkriegs waren ausgezeichnet organisiert. Gerade dann, wenn man wie Hitler weiterhin am alten »Standort« lebte, war der Kontakt, möglicherweise auch die Konfrontation mit den »Ehemaligen« unausweichlich. Auch dieser Umstand könnte Hitler dazu veranlasst haben, über das ein oder andere besser zu schweigen.
Auch seine Erlebnisse während der Novemberrevolution von 1918 reduziert Hitler auf wenige Sätze. Mit falschen Datumsangaben und der nicht nachprüfbaren Behauptung, er habe selbst verhaftet werden sollen, versucht er den Eindruck zu erwecken, er sei ein entschiedener Gegner, ja fast schon ein Opfer der Münchner Räterepublik gewesen – »eine passende Legende, die den großen Vorzug besaß, sich in eine politisch opportune Konstruktion seiner Vita einzufügen, ohne wirklich nachgeprüft werden zu können«207. Unerwähnt bleibt indes die Tatsache, dass Hitler sich zum Ersatzmann für den Soldatenrat seines Demobilmachungs-Regiments wählen ließ – wenn auch als Gegengewicht zu den Vertretern der sich radikalisierenden politischen Linken. 208 Im Rückblick erschien Hitler jedoch jedes Engagement in einem Soldatenrat nicht mehr opportun. Auch die blutige Niederschlagung der Räterepublik durch »weiße« Truppen wird bei ihm lediglich beiläufig als »Befreiung Münchens«209 erwähnt. Dennoch hat die Novemberrevolution in Hitlers Selbstdarstellung eine wichtige Funktion, taucht doch als weiteres zentrales Motiv jenes des »Sehers« auf, dem in einem Erweckungserlebnis im Pasewalker Lazarett buchstäblich die Augen geöffnet werden: »In den Tagen darauf wurde mir auch mein Schicksal bewußt«, schreibt Hitler über die Revolution. »Ich aber beschloß nun, Politiker zu werden.«210
Damit enden bereits Hitlers private Ausführungen in Mein Kampf, es beginnt die Parteigeschichte. Alles, was Hitler von seinem weiteren Lebensweg seit 1919 berichtet, ist unauflösbar in die Geschichte der DAP und NSDAP verwoben, sodass er als Privatmann fortan nicht mehr auftaucht. Seinen Eintritt in die DAP beschreibt Hitler als den »entscheidendste[n] Entschluß«211 seines Lebens. Auch dies ist ein später häufig wiederkehrendes Motiv in Hitlers Reden, ganz im Sinne des langen inneren Kampfs, der erst seine Entschlüsse zur Reife gebracht habe. Ebenfalls als den »schwerste[n] Entschluß« seines Lebens bezeichnete Hitler am 10. Februar 1933 im Berliner Sportpalast seine Entscheidung, das Amt des Reichskanzlers anzunehmen, sowie acht Jahre später seine Entscheidung zum Überfall auf die Sowjetunion212, der letztlich das Schicksal Hitlers und des Dritten Reichs besiegeln sollte.