Der Parlamentarismus <span class="pagenumber">[78]</span>

72 Durch die Einführung des allgemeinen, direkten, gleichen und freien Wahlrechts für Männer ab 24 Jahren (26. 1. 1907) wurde die Bevölkerung der österreichischen Reichshälfte keineswegs »verraten« – auch nicht die deutsche. Vielmehr ging es darum, das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation gerechter zu gestalten, nachdem das alte Wahlrecht »die armen Bevölkerungsschichten kraß benachteiligt« hatte. Trotz der einschneidenden Zäsur der Wahlreform verdeutlicht die Verteilung der Sprachen, dass auch nach der Wahl von 1907 die Deutschen im Reichsrat längst nicht ins Hintertreffen geraten waren; die Relation betrug noch immer: 233 deutsche gegenüber 283 nichtdeutschen Parlamentariern. Damit waren zwar die deutschen Abgeordneten in der Minderheit, sie waren aber längst nicht so stark benachteiligt, wie Hitler hier suggeriert. Auch sonst besaßen sie noch einige Privilegien: »Der Parlamentspräsident sprach deutsch. Die Parlamentsstenographen protokollierten nur in Deutsch. Die dringlichen Anfragen, die in der jeweiligen Muttersprache abgefaßt werden durften, mußten in deutscher Übersetzung vorgelegt werden. Nichtdeutsche Reden wurden nur dann protokolliert, wenn der Redner selbst eine schriftliche deutsche Übersetzung lieferte.« Durch seine plumpe Dichotomie »deutsch« – »nichtdeutsch« suggeriert Hitler zudem die nichtdeutschen Parlamentarier hätten sich als Einheit gefühlt und hätten auch so agiert. Dies war keineswegs der Fall. Zwar gab es mit 107 Tschechen, 82 Polen, 33 Ruthenen, 24 Slowenen und 13 Kroaten insgesamt 259 slawische Abgeordnete im Reichsrat, neben 19 Italienern, fünf Rumänen und vier Jüdisch-Nationalen, doch fühlten sich »die« slawischen Parlamentarier keinesfalls als politische oder gar nationale Einheit. Oft waren die jeweiligen »Völker« untereinander völlig zerstritten; zuweilen betraf dies sogar die einzelnen Fraktionen. Lediglich die polnischen Mandatsträger, die auch »Polenklub« genannt wurden, bildeten eine Ausnahme. Im Grunde orientiert sich Hitler mit seinen Behauptungen am Selbstverständnis der Deutschradikalen (1907: 13 Abgeordnete) und der Alldeutschen (1907: drei Abgeordnete), die sich als die einzig »wahren« deutschen Politiker gerierten; beide Parteien bildeten jedoch eine verschwindend kleine Minderheit im Parlament.

Vgl. Hamann, Wien, S. 169 – 193, Zitate S. 169, 173; Brauneder, Verfassungsentwicklung, S. 233 – 235; Höbelt, Parteien, S. 975 – 1006.

73 Hitler lernte mit dem Wiener Reichsrat das Prinzip des Parlamentarismus an einem Beispiel kennen, das zuweilen der Karikatur eines Parlaments glich. Die strukturellen Probleme des Reichsrats, seine politische Schwäche, seine unzureichende Geschäftsordnung, aber auch die national, regional und politisch hochgradig fragmentierte Ordnung des Reichs, das der Reichsrat repräsentierte, hatten zur Folge, dass dieser seit der Krise um die Sprachenverordnung des Ministerpräsidenten Badeni (1897) zunehmend gelähmt war, ehe er dann im März 1914 auf unbegrenzte Zeit vertagt wurde. Bis zu ihrem Untergang war die Doppelmonarchie nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen. Selbst für August Bebel war der Wiener Reichsrat ein »reines Affentheater«. Die Folgen, die die Erfahrung des Reichsrats für Hitler haben sollte, lassen sich kaum überschätzen. Seine grenzenlose Verachtung des Parlamentarismus wie überhaupt das Selbstverständnis der NSDAP als einer »dezidiert antiparlamentarischen Partei« wurzelten in einem hohen Maße in Hitlers Wiener Erlebnissen. Freilich hatte Hitler dabei nur einen winzigen Ausschnitt des Reichsrats gesehen. Von der Arbeit der Delegationen – gleich starke parlamentarische Abordnungen, die über die beide Reichsteile betreffenden militärischen, außenpolitischen und finanziellen Themen berieten –, den Interpellationen und Petitionen, welche der Reichsrat auf den Weg brachte, den Hintergrundgesprächen wie überhaupt den vielfältigen Funktionen, die ein Parlament in einem verfassungsrechtlich definierten System der Checks and Balances wahrnehmen konnte, hatte er keine Vorstellung. Es verwundert daher nicht, dass Hitler und die NSDAP – unabhängig vom Grundsatz des »Führerprinzips« – das Problem einer repräsentativen Vertretung ihrer Anhänger nie lösen konnten. War im »25-Punkte-Programm« der NSDAP vom 24. 2. 1920 noch vage von einer »Autorität des politischen Zentralparlaments« die Rede sowie von der Bildung von »Stände- und Berufskammern«, ohne dass dies irgendwelche konkreten Folgen gehabt hätte, so verdeutlicht das Beispiel des Reichstags, der im Dritten Reich als machtloses wie hoch dotiertes Akklamationsorgan fortexistierte, oder der gescheiterte Versuch des Aufbaus eines »Senats« der NSDAP, dass die Einmannherrschaft mit ihren unabsehbaren Risiken die einzige Antwort des Nationalsozialismus auf die zentralen Fragen von Machtdelegation und politischer Entscheidungsfindung blieb.

Vgl. Hitler, Reden, Bd. V/2, Dok. 106 mit Anm. 14 und 15; Hanisch, Schatten, Zitat S. 210; Döring, Arm, Zitate S. 25, 27, 33; Hamann, Wien, S. 171; Malfèr, Konstitutionalismus, S. 64 – 67; Anm. 77, 78 in diesem Kapitel; Kap. II/4, Anm. 35, 36, 39.

74 Das cisleithanische Parlament war 1907 und 1911 mit 516 Sitzen das größte in Europa; die Kronländer waren gemäß Wahlgesetz vom 26. 1. 1907 mit folgender Sitzzahl repräsentiert: Königreich Böhmen: 130 Abgeordnete; Königreich Dalmatien: Elf Abgeordnete; Königreich Galizien und Lodomerien mit dem Großherzogtum Krakau: 106 Abgeordnete; Erzherzogtum Österreich unter der Enns (Niederösterreich): 64 Abgeordnete; Erzherzogtum Österreich ob der Enns (Oberösterreich): 22 Abgeordnete; Herzogtum Salzburg: sieben Abgeordnete; Herzogtum Steiermark: 30 Abgeordnete; Herzogtum Kärnten: zehn Abgeordnete; Herzogtum Krain: zwölf Abgeordnete; Herzogtum Bukowina: 14 Abgeordnete; Markgrafschaft Mähren: 49 Abgeordnete; Herzogtum Ober- und Niederschlesien: 15 Abgeordnete; Gefürstete Grafschaft Tirol: 25 Abgeordnete; Land Vorarlberg: vier Abgeordnete; Markgrafschaft Istrien: sechs Abgeordnete; Gefürstete Grafschaft Görz und Gradisca: sechs Abgeordnete; Stadt und Gebiet Triest: fünf Abgeordnete. Zu dieser ethnischen Fragmentierung kam die politische. Damals saßen Abgeordnete aus etwa 30 Parteien im Reichsrat. Allein die Deutschen wurden durch 96 Christsoziale, 87 Sozialdemokraten, 29 Angehörige der Deutschen Volkspartei, 19 Deutsche Agrarier, 19 Deutschfortschrittliche, 15 Deutschradikale und zwei Alldeutsche (Schönerianer) repräsentiert.

Vgl. RGBl. 15/1907, S. 57 f.; Rumpler, Parlament, S. 883 – 885.

Das Schicksal des Deutschtums im österreichischen Staate war abhängig von seiner Stellung im Reichsrat. Bis zur Einführung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts70 war nun# 1926: gestrichen: nun noch eine, wenn auch unbedeutende deutsche Majorität im Parlament vorhanden. Schon dieser Zustand war bedenklich, da bei der national unzuverlässigen Haltung der Sozialdemokratie diese in kritischen, das Deutschtum betreffenden Fragen (um# 1926: Fragen (um ersetzt durch: Fragen – um sich nicht die Anhänger in den einzelnen Fremdvölkern abspenstig zu machen) immer# 1926: machen) immer ersetzt durch: machen – immer gegen die deutschen Belange auftrat. Die Sozialdemokratie konnte schon damals nicht als deutsche Partei betrachtet werden.71 Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts# 1937: Wahlrechts ersetzt durch: Wahlrechtes;
1939: Wahlrechts aber hörte die deutsche Überlegenheit auch rein ziffernmäßig auf. Nun war der weiteren Entdeutschung des Staates kein Hindernis mehr im Wege.

Der nationale Selbsterhaltungstrieb ließ mich schon damals aus diesem Grunde eine Volksvertretung wenig lieben, in der das Deutschtum immer statt »vertreten« »verraten«# 1926: »vertreten« »verraten« ersetzt durch: vertreten verraten wurde.72 Allein dies waren Mängel, die, wie so vieles andere eben auch, nicht der Sache an sich, sondern dem österreichischen Staate zuzuschreiben waren. Ich glaubte früher noch, daß mit einer Wiederherstellung der deutschen Mehrheit in den Vertretungskörpern zu einer# 1939: gestrichen: Wiederherstellung der deutschen Mehrheit in den Vertretungskörpern zu einer; 1944: Text wieder eingefügt prinzipiellen Stellungnahme dagegen dann# 1926: gestrichen: dann kein Anlaß mehr vorhanden wäre, solange der alte Staat eben überhaupt noch bestünde.

So also innerlich eingestellt, betrat ich zum ersten Male die ebenso geheiligten wie umstrittenen Räume. Allerdings waren sie mir nur geheiligt durch die erhabene Schönheit des herrlichen Baues. Ein hellenisches Wunderwerk auf deutschem Boden.

In wie kurzer Zeit aber war ich empört, als ich das jämmerliche Schauspiel sah, das sich nun unter meinen Augen abrollte.# 1930: Punkt ersetzt durch: Ausrufezeichen 73

Es waren einige Hundert dieser Volksvertreter74 anwesend, die eben zu einer Frage von wichtiger wirtschaftlicher Bedeutung Stellung zu nehmen hatten.

Mir genügte schon dieser erste Tag, um mich zum Denken auf Wochen hindurch anzuregen.

Der geistige Gehalt des Vorgebrachten lag auf einer wahrhaft niederdrückenden »Höhe«, soweit man das Gerede überhaupt ver-