Fünf Jahre Elend <span class="pagenumber">[19]</span>

21 Mit ähnlichen Bildern arbeitete Hitler schon in seinem Brief an den Magistrat der Stadt Linz vom 21. 1. 1914, in dem er versuchte, sich für die »Unterlassungssünde« zu rechtfertigen, sich »im Herbste 1909« nicht zum Militärdienst in der k. u. k. Armee gemeldet zu haben: »Zwei Jahre lang hatte ich keine andere Freundin als Sorge und Not, keinen anderen Begleiter als ewigen unstillbaren Hunger.« Auch das war eine Stilisierung – vor allem für die Zeit bis zum Tod seiner Mutter am 21. 12. 1907. Doch auch 1908 konnte Hitler von der Waisenrente und dem mütterlichen Erbe sowie einem Darlehen seiner Tante Johanna Pölzl zwar bescheiden, aber gesichert leben. Mitte 1909 – Hitler war damals bereits 20 Jahre alt – erschöpften sich jedoch Hitlers finanzielle Mittel, da er vorerst nicht bereit war, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Seit 1910 ermöglichte ihm dann die Postkartenmalerei eine sehr bescheidene Existenz.

Vgl. Jäckel/ Kuhn, Hitler, Dok. 20, Zitat S. 55; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 87 – 93; Kap. I/1, Anm. 79; Anm. 78 in diesem Kapitel; Kap. I/4, Anm. 1.

22 Der Verkauf des Hauses der Familie Hitler in Leonding hatte 1905 etwa 5.500 Kronen erbracht. Umzüge, Hitlers Schulbesuch in Steyr und seine Reisen nach Wien reduzierten dieses Vermögen; Krankheit, Tod und Begräbnis der Mutter verschlangen weitere 700 Kronen, obwohl der behandelnde Arzt Eduard Bloch sehr moderate Rechnungen stellte. Die Höhe des mütterlichen Erbes ist unbekannt und wird auf rund 2.000 Kronen für Hitler und seine Schwester geschätzt. Außerdem stand beiden eine monatliche Waisenrente in Höhe von je 25 Kronen zu. Das väterliche Erbteil von je 652 Kronen für beide Kinder war auf einem Sperrkonto; Hitler konnte darüber erst ab dem 24.  Lebensjahr verfügen. Mit der Summe von ungefähr 1.000 Kronen sowie der monatlichen Waisenrente war Hitlers Lebensunterhalt in Wien für circa ein Jahr gesichert.

Vgl. Hamann, Wien, S. 58; Kap. I/1, Anm. 77, 79.

23 Die sprichwörtliche »Wiener Gemütlichkeit«, eine durch Gelassenheit und Genussfreude geprägte Mentalität, stand in scharfem Kontrast zu Hitlers Schilderungen, dem es in den fünf Jahren seines Aufenthalts (1907/08 – 1913) nicht gelang, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen, geschweige denn einen aussichtsreichen Beruf zu ergreifen. Vorbild für Hitlers larmoyante Selbstdarstellung könnte die seit den 1880er Jahren vielfach aufgelegte Autobiografie Ein Vermächtnis des von ihm verehrten Malers Anselm Feuerbach gewesen sein, der zwar seit 1873 Professor an der Akademie der bildenden Künste war, dort aber nicht reüssierte. In seinen Memoiren heißt es: »Was mich betrifft, so hatte ich Ursache, die Gemütlichkeit der Wiener zuweilen etwas ungemütlich zu finden.« Hitlers Gefühle gegenüber Wien blieben bis ans Ende seines Lebens stark ambivalent, eher jedoch feindselig. So berichtete Joseph Goebbels am 25. 6. 1943 über eine Äußerung Hitlers vom Vortag: »Wien müsse wieder, wenn es auch eine Millionenstadt sei, in die Rolle einer Provinzstadt zurückgedrängt werden.«

Vgl. Goebbels, Tagebücher, Teil II, Bd. 8, Zitat S. 540; Feuerbach, Vermächtnis, Zitat S. 119; Schwarz, Geniewahn, bes.S. 54 f.

24 In Homers Odyssee sind die Phäaken ein mythisches Seefahrervolk, das von den Göttern begünstigt in einem abgeschiedenen Winkel der Welt in Frieden und Wohlstand lebt und gegenüber Fremden gastfreundlich und hilfsbereit auftritt. Im Österreichischen wurde der Begriff dann zum Synonym für sorglosen Genuss. Friedrich Schiller brachte 1797 in seiner Xenie Donau in O** Österreich erstmals mit den Phäaken in Verbindung: »Mich umwohnet mit glänzendem Aug das Volk der Phaiaken; / Immer ist’s Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß.« Im 19. Jahrhundert sprachen Kritiker daher »vom ›Phäakendasein‹ der Österreicher, und zumal der Wiener; ›was Verfassung, was Verwaltung, Wiener Wahlspruch: Unterhaltung‹.« Diese Prägung verlor sich nicht. Noch in Jakob Wassermanns Autobiografie Mein Weg als Deutscher und Jude (1921) findet sich die Assoziation von Wien mit den Phäaken.

Vgl. Wassermann, Weg, S. 109; Nipperdey, Geschichte 1800 – 1866, Zitat S. 341; Johnston, Geistesgeschichte, Zitat S. 127.

25 Kubizek, der sich in der ersten Jahreshälfte 1908 mit Hitler in der Wiener Stumpergasse ein Zimmer teilte, bestätigt, dass dieser am Essen sparte. Während Hitler die Gaben aus den zweiwöchentlichen Essenspaketen der Familie Kubizek dankbar annahm, soll er den Mensabesuch unter Verweis auf die Anwesenheit von Studierenden, darunter viele Juden, abgelehnt haben. Möglicherweise fühlte sich Hitler, der an keiner Hochschule eingeschrieben war, beim unberechtigten Besuch der Mensa deklassiert. 1942 behauptete er jedoch, sein Essen in Wien sei »sehr schmackhaft« gewesen. Ähnlich armselig wie Hitler in Wien lebte Anton Drexler, Hitlers späterer Weggefährte, in Berlin. Drexler behauptete, er sei »durch den gewerkschaftlichen Terror« arbeitslos geworden; seinen Lebensunterhalt habe er sich »durch Zitherspielen in einem Nachtkaffee [sic!]« verdienen müssen.

Vgl. Hitler, Monologe, Zitat S. 379; Drexler, Erwachen, Zitat S. 2; Kubizek, Hitler, S. 192 f.

Boden doch schon besser, die Möglichkeit des Kampfes um so viel leichter; und was damals mir als Härte des Schicksals erschien, preise ich heute als Weisheit der Vorsehung. Indem mich die Göttin der Not20 in ihre Arme nahm und mich# 1944: eingefügt: so oft zu zerbrechen drohte, wuchs der Wille zum Widerstand, und endlich blieb der Wille Sieger.

Das danke ich der damaligen Zeit, daß ich hart geworden bin und hart sein kann. Und mehr noch als dieses preise ich sie dafür, daß sie mich losriß von der Hohlheit des gemächlichen Lebens, daß sie das Muttersöhnchen aus den weichen Daunen zog und nun# 1930: nun ersetzt durch: ihm Frau Sorge21 zur neuen Mutter gab, daß sie den Widerstrebenden hineinwarf in die Welt des Elends und der Armut22 und ihn so die kennen lernen# 1937: kennen lernen ersetzt durch: kennenlernen;
1939: kennen lernen;
1944: kennenlernen ließ, für die er später kämpfen sollte.

In dieser Zeit sollte mir auch das Auge geöffnet werden für zwei Gefahren, die ich beide vordem kaum dem Namen nach kannte, auf keinen Fall aber in ihrer entsetzlichen Bedeutung für die Existenz des deutschen Volkes begriff# 1926: begriff ersetzt durch: begriff: Marxismus und Judentum .

Wien, die Stadt, die so vielen als Inbegriff harmloser Fröhlichkeit gilt, als festlicher Raum vergnügter Menschen, ist für mich leider nur die lebendige Erinnerung an die traurigste Zeit meines Lebens.23

Auch heute noch kann diese Stadt nur trübe Gedanken in mir erwecken. Fünf Jahre Elend und Jammer sind im Namen dieser Phäakenstadt24 für mich enthalten. Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir mein Brot verdienen mußte; mein wahrhaft kärglich Brot, das doch nie langte, um auch nur den gewöhnlichen Hunger zu stillen.25 Er war damals mein getreuer Wächter, der mich als einziger fast nie verließ, der in allem redlich mit mir teilte. Jedes Buch, das ich mir erwarb, erregte seine Teilnahme; ein Besuch der Oper ließ ihn mir dann wieder Gesellschaft leisten auf Tage hinaus; es war ein dauernder Kampf mit meinem mitleidslosen Freunde. Und doch habe ich in dieser Zeit gelernt, wie nie zuvor. Außer meiner Baukunst, dem seltenen,