Der christlich-soziale Scheinantisemitismus <span class="pagenumber">[126]</span>

259 Eine maßlose Untertreibung der verheerenden Wirkung von Luegers antisemitischer Ideologie. Dieser verstand es, ganz unterschiedliche Ressentiments, Neidkomplexe und Feindbilder (den christlich motivierten Antijudaismus, den Antiliberalismus und den Antikapitalismus) auf ein einziges Feindbild zu konzentrieren – auf die Juden. Damit war Lueger einer der ersten Politiker, der einen ordinären Antisemitismus für seine politischen Interessen instrumentalisierte und ihn – weit über seine eigene Partei hinaus – als übergreifende antimoderne Weltanschauung etablierte; nicht zuletzt durch Lueger wurde der Antisemitismus in Wien salonfähig. Im Gegensatz zum ideologischen Dogmatismus eines Schönerer war Lueger – und genau darauf spielt Hitlers Kritik an – freilich »konziliant, geschickt und populär. Ideologien benutzte er nur, insgeheim verachtete er sie, er dachte taktisch und pragmatisch«. Wenn es ihm nützte, konnte er privat durchaus Kontakte zu Juden unterhalten, auch definierte er »im Gegensatz zu den Schönerianern Judentum nicht durch die Rasse, sondern durch die Religion«. Zu Recht hat Brigitte Hamann darauf hingewiesen, es sei »bedeutungslos, ob und wie viele jüdische Freunde Lueger privat gehabt haben mag. Von Bedeutung ist allein die Wirkung seiner aufhetzenden Reden.«

Vgl. Fest, Hitler, Zitat S. 67; Hamann, Wien, S. 410 – 418, Zitat S. 417, 418; Hye, Vereine, S. 194; Kraft, Wassermann, S. 72; Kap. I/2, Anm. 170; Anm. 17 in diesem Kapitel.

260 Lueger, der am 10. 3. 1910 gestorben war, wurde vier Tage später fast wie ein Monarch bestattet. »Sein Begräbnis ging als ›schönste Leich‹ in die Geschichte der vielen spektakulären Wiener Leichenfeiern ein.« Lueger wurde in der Volkshalle aufgebahrt, allein am 13. 3.  defilierten über 80.000 Menschen am Katafalk vorbei. Bei seinem Begräbnis war die gesamte Elite der Doppelmonarchie anwesend – der Kaiser, Erzherzöge, Botschafter sowie der päpstliche Nuntius. Allein das Spalier wurde von rund 40.000 Uniformierten gebildet: »die Wiener Garnison, Veteranen, die uniformierten städtischen Verbände, Schützenvereine, die Ortsgruppen des Christlichen Frauenbundes mit ihren bunten Fahnen«. Insgesamt sollen sich über 200.000 Menschen an Luegers Beisetzung beteiligt haben. Dem Zug, »einer der letzten Manifestationen des alten Österreich«, folgten 18 Blumenwagen, gezählt wurden 1.020 Kranzspenden. Hitler erinnerte sich noch im Dezember 1941 an diesen Leichenzug, der »fast den ganzen Tag« gedauert habe. Interessanterweise wurde Luegers Person nicht nur von der Erinnerungskultur des österreichischen Ständestaats vereinnahmt – etwa in dem Theaterstück Lueger, ein großer Österreicher von Hans Naderer, das am 27. 11. 1934 in Wien uraufgeführt wurde. Auch in dem 1942/43 entstandenen NS-Propagandafilm Wien 1910, der mit der Szene von Luegers Begräbnis endet, wird Lueger zu einem Vorkämpfer des Dritten Reichs stilisiert.

Vgl. Deutsches Volksblatt vom 14. 3. 1910, »Der Besuch der Volkshalle am gestrigen Tage«; Die Neue Zeitung vom 14. 3. 1910, »Das Leichenbegängnis des Bürgermeisters Dr. Lueger«; Arbeiter-Zeitung vom 14. 3. 1910, »Der Märzgang der Wiener Arbeiterschaft«; Skalnik, Lueger, Zitat S. 162; Hitler, Monologe, Zitat S. 153; Hamann, Wien, S. 431 – 435, Zitat S. 431; Boyer, Lueger (2010), S. 303 – 320; Öhner, Stein; Gröller, Facetten, bes.S. 79 – 82. 

gewissen Konkurrenzneides. Damit aber verlor der Kampf das Merkmal einer inneren und höheren Weihe und erschien dann# 1926: gestrichen: dann vielen, und nicht gerade den Schlechtesten, als unmoralisch und verwerflich. Es fehlte die Überzeugung, daß es sich hier um eine Lebensfrage der gesamten Menschheit handle, von deren Lösung das Schicksal aller eben# 1926: gestrichen: eben nichtjüdischen Völker abhänge.257

An dieser Halbheit258 ging der Wert der antisemitischen Einstellung der christlich-sozialen Partei verloren.

Es war ein Scheinantisemitismus, der fast schlimmer war als überhaupt keiner; denn so wurde man in Sicherheit eingelullt, glaubte den Gegner an den Ohren zu haben, wurde jedoch in Wirklichkeit selber an der Nase geführt.

Der Jude aber hatte sich schon in kurzer Zeit auch an diese Art von Antisemitismus so# 1944: gestrichen: so gewöhnt, daß# 1944: daß ersetzt durch: so daß ihm sein Fehlen# 1930: Fehlen ersetzt durch: Wegfall sicher mehr abgegangen sein# 1930: abgegangen sein ersetzt durch: gefehlt haben würde, als ihn sein Vorhandensein behinderte.259

So wie man also hier# 1926: So wie man also hier ersetzt durch: Mußte man hier schon dem Nationalitätenstaat schon# 1926: gestrichen: schon ein schweres Opfer bringen mußte# 1926: gestrichen: mußte , so noch viel mehr bei# 1930: gestrichen: bei der Vertretung des Deutschtums an sich.

Man durfte nicht »nationalistisch« sein, wollte man nicht in Wien selber den Boden unter den Füßen verlieren. Man hoffte durch ein sanftes Umgehen dieser Frage den Habsburgerstaat noch zu retten und trieb ihn gerade dadurch in das Verderben. Die Bewegung aber verlor damit die gewaltige Kraftquelle, die allein auf die Dauer eine politische Partei mit innerer Triebkraft aufzufüllen vermag.

Die christlich-soziale Bewegung wurde erst# 1930: erst ersetzt durch: gerade dadurch zu einer Partei wie eben jede andere auch.

Ich habe beide Bewegungen einst auf das aufmerksamste verfolgt, die eine aus dem Pulsschlag des inneren Herzens heraus, die andere, hingerissen von Bewunderung für den seltenen Mann, der mir schon damals wie ein bitteres Symbol des ganzen österreichischen Deutschtums erschien.

Als der gewaltige Leichenzug den toten Bürgermeister vom Rathaus weg# 1930: weg ersetzt durch: hinweg der Ringstraße zu fuhr, befand auch ich mich unter den vielen Hunderttausenden, die dem Trauerspiele# 1937: Trauerspiele ersetzt durch: Trauerspiel zusahen.260 In innerer