England und Deutschland <span class="pagenumber">[269]</span>

45 Der deutsch-britische Antagonismus während des Ersten Weltkriegs war keineswegs unausweichlich. Auf die Gründung des Deutschen Reichs hatten die britische Diplomatie und Öffentlichkeit zunächst ambivalent reagiert; die »kleindeutsche Lösung« unter Ausschluss Österreichs sowie der anfängliche Verzicht Deutschlands auf eine ausgedehnte Flottenrüstung und auf ein Kolonialreich entsprachen britischen Interessen. Auch sonst schien das Konfliktpotenzial zunächst begrenzt: Die Heirat des preußischen Prinzen Friedrich Wilhelm, des späteren Kaisers Friedrich III., mit der britischen Prinzessin Victoria (1858) verband beide Dynastien, außerdem orientierte sich die britische Politik auf dem europäischen Festland traditionell an den Paradigmen der »balance of power« und der »splendid isolation«. Die Situation änderte sich mit der Thronbesteigung Wilhelms II. (1888) und Bismarcks Entlassung (1890). Waren die Forcierung der deutschen Kolonialpolitik sowie die massive Aufrüstung zur See seit 1897/98 bereits eine schwere Belastung für die deutsch-britischen Beziehungen, so taten die zahlreichen törichten Auftritte Wilhelms II. vor allem in der Daily-Telegraph-Affäre, das ihre, um die Beziehungen zu ruinieren. Die Risiken dieser Politik ließen sich bald erkennen: Seit 1905 wurde immer deutlicher, dass die deutsche Marine die britische Dominanz zur See nicht ernsthaft herausfordern konnte. Noch bedenklicher schien die 1904 abgeschlossene »Entente cordiale« zwischen Großbritannien und Frankreich, die 1907 mit dem Beitritt Russlands zur »Triple Entente« erweitert wurde und damit den traditionellen russisch-britischen Gegensatz beendete. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs gab Großbritannien dann zunehmend »eine reine Politik der ›balance of power‹« auf, »zugunsten einer Politik, die eine maximale Sicherheit der Entente zum Ziel hatte.« Zugleich blieben von deutscher Seite entscheidende Initiativen zur Verbesserung des Verhältnisses zu Großbritannien aus. Vielmehr riskierte die Reichsleitung am 3./4. 8. 1914 mit der Verletzung der Neutralität Belgiens, als dessen Schutzmacht Großbritannien fungierte, einen Krieg gegen das Empire.

Vgl. Kennedy, Rise; Schöllgen, Imperialismus, S. 56 – 66, 70 – 74; Fröhlich, Imperialismus, bes.S. 57 – 72; Brechtken, Scharnierzeit; Wende, Empire, S. 211 – 239; Hildebrand, Reich (2008), bes.S. 18 f., 65 – 67, 87 – 90, 132 – 140, 213 – 221; Clark, Schlafwandler, bes.S. 187 – 208, 691 – 699, Zitat S. 460; Kap. I/10, Anm. 262; Anm. 40 in diesem Kapitel.

46 Tatsächlich entwickelte sich das Deutsche Reich vor allem seit Mitte der 1880er Jahre zu einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt. Zwischen 1886 und 1914 verdreifachte sich die deutsche Gesamtproduktion von Industrie und Handwerk. Seit 1889 wuchs das deutsche Bruttonationaleinkommen um durchschnittlich 3,3 % pro Jahr. Dieser Erfolg zeigte sich besonders in den Leitbranchen der Zweiten Industriellen Revolution wie der Elektro- und der Chemischen Industrie. Aber auch in klassischen Bereichen wie der Eisen- und Stahlerzeugung, dem Maschinen- und Schiffsbau sowie der Textilproduktion wurde die deutsche Industrie damals zu einem der führenden »global player«. Infolgedessen veränderte sich auch der sozioökonomische Charakter des Deutschen Reichs. Während der Anteil des agrarischen Sektors an der deutschen Wertschöpfung von 39 % (1871) auf 23 % (1913) sank, stieg der des industriellen Sektors von 28 % (1871) auf 45 % (1913). 1913 betrug der deutsche Anteil an der weltweiten Industrieproduktion bereits 14,8 % – der von Großbritannien nur noch 13,6 %. Hatte sich Großbritannien im 19. Jahrhundert zum unbestrittenen »workshop of the world« entwickelt, so wurde dort am Ende des Jahrhunderts die mangelnde Innovationsbereitschaft immer stärker spürbar. Auch fehlte der britischen Ökonomie ein Ausbildungs- und Universitätssystem, das Handwerk, Industrie und Wissenschaft so erfolgreich verzahnt hätte wie in Deutschland. Obwohl Großbritannien 1913 mit einem Anteil von 30,2 % immer noch die führende Nation im Welthandel war, schien seine Position durch Deutschland bedroht, das seinen Anteil von 19,3 % (1880) auf 26,5 % (1913) gesteigert hatte. 1880 war der britische Anteil noch bei 41,4 % gelegen. Diese Entwicklung schürte in der britischen Gesellschaft Ängste vor deutscher Konkurrenz, obwohl gleichzeitig die deutsch-britischen Handelsbeziehungen blühten. Ausdruck der britischen Ängste wurde der Merchandise Marks Act von 1887, der für alle ausländischen Produkte eine Herkunftsbezeichnung verfügte. Der Effekt war indes gegenteilig: Das »Made in Germany« entwickelte sich schon bald zu einem gefragten Gütesiegel.

Vgl. Breach/ Hartwell, Economy; Landes, Prometheus, S. 52 – 332; Milward/ Saul, Development, S. 17 – 70, 466 – 538; Saul, Industrialisation; Kennedy, Rise, S. 41 – 58, 291 – 320; Hentschel, Production; Fischer, Germany; Mommsen, Britain; Alter, Deutschland; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, bes.S. 547 – 620; Leonhard, Büchse, S. 47 f.; Kap. I/10, Anm. 5, 36.

48 Die Vorstellung, Deutschland sei vor 1914 systematisch von feindlichen Mächten »eingekreist« und Opfer eines gezielt vorbereiteten Angriffskriegs geworden, war in der deutschen Gesellschaft weitverbreitet. Bereits am 14. 11. 1906 warnte Reichskanzler Bernhard von Bülow im Reichstag vor einer solchen »planmäßigen Einkreisung«. Am 6. 8. 1914 verkündete dann Kaiser Wilhelm II., Deutschland kämpfe nun »gegen eine Welt von Feinden«; mitten im Frieden sei es vom Feind überfallen worden. Wie grobschlächtig dabei argumentiert wurde, illustriert das 1917 anonym veröffentlichte Pamphlet Auf Tod und Leben, in welchem dem englischen König Edward VII. eine »Einkreisungspolitik« zur Last gelegt wurde, deren Zweck es gewesen sei, »Deutschland durch diplomatische Künste jede Bewegungsfreiheit zu nehmen und es, falls es sich gegen diese friedliche Erdrosselung zu wehren versuchte, durch einen großen Weltbund seiner Neider und Hasser zu vernichten.« Nach 1918 tradierte die rechte Publizistik dieses Denken weiter, doch gab es auch gewichtige Gegenstimmen. So legte etwa der Freiburger Jurist Hermann Kantorowicz, der schon 1923 ein (erst 1967 veröffentlichtes) Gutachten für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Kriegsschuldfrage erarbeitet hatte, 1929 die Studie Der Geist der englischen Politik und das Gespenst der Einkreisung Deutschlands vor. Die deutsche politische Führung trug vor 1914 viel Verantwortung dafür, »daß sie mit ihrer ambitiösen Weltpolitik und dem dahinterstehenden maritimen Rüstungsplan das Reich selbst ausgekreist hatte«. Als verhängnisvoll erwiesen sich die Versäumnisse der deutschen Diplomatie, der es nach Bismarcks Rücktritt im März 1890 nicht gelang, dessen Bündnissystem am Leben zu erhalten. Von großer Tragweite war die 1890 unter Reichskanzler Leo von Caprivi getroffene Entscheidung, den 1887 abgeschlossenen Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht zu verlängern, das sich daraufhin enger an Frankreich band. 1914 konnte sich das Deutsche Reich schließlich nur auf die Unterstützung vergleichsweise schwacher Verbündeter wie Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich verlassen. Im Übrigen veranschaulicht der Verlauf der Julikrise 1914, wie wenig Substanz die Verschwörungstheorie von der aggressiven »Einkreisung« Deutschlands besaß. Schon das lange Zögern der britischen Regierung – Großbritannien griff erst am 4. 8. 1914 in den Krieg ein, nachdem deutsche Truppen die garantierte Neutralität Belgiens verletzt hatten – widerspricht der These von der gezielten »Kriegstreiberei«, auf der die Einkreisungstheorie gründete.

Vgl. Teja, Tod, Zitat S. 8; Albert, Südslavien, S. 36; Kantorowicz, Geist; Kantorowicz, Gutachten; Johann (Hrsg.), Reden, S. 126; Kennan, Allianz, S. 191 – 216, 235 – 262; Ullrich, Großmacht, S. 204 – 211; Krumeich, »Einkreisung«, Zitat S. 99; Berghahn, Sarajewo, Zitat S. 79; Hildebrand, Reich (2008), S. 25, 80, 227, 236 – 243; Groepper, Sturz; Clark, Schlafwandler, bes.S. 169 – 227; Leonhard, Büchse, S. 51 f.; Kap. II/14, Anm. 80.

Kraft des englischen Staates so lange gegen das emporstrebende Frankreich, bis endlich mit dem Sturze Napoleons I. die Hegemonie-Gefahr#1937: Hegemonie-Gefahr ersetzt durch: Hegemoniegefahr;
1939: Hegemonie-Gefahr;
1944: Hegemoniegefahr dieser gefährlichsten Militärmacht für England als gebrochen angesehen werden konnte.43

Die Umstellung der britischen Staatskunst gegen Deutschland wurde nur langsam vorgenommen, nicht nur, weil zunächst infolge des Mangels einer nationalen Einigung der deutschen Nation eine ersichtliche Gefahr für England nicht bestand, sondern#1937: eingefügt: auch weil die propagandistisch für einen bestimmten staatlichen Zweck aufgezogene öffentliche Meinung nur langsam neuen Zielen zu folgen vermag. Die nüchterne Erkenntnis des Staatsmannes erscheint hier in gefühlsmäßige Werte umgesetzt, die nicht nur tragfähiger sind in der jeweiligen Wirksamkeit, sondern auch stabiler in bezug auf ihre Dauer. Es mag mithin der Staatsmann nach dem Erreichen einer Absicht seine Gedankengänge ohne weiteres neuen Zielen zuwenden, die Masse jedoch wird nur in langsamer, propagandistischer Arbeit gefühlsmäßig zum Instrument der neuen Ansicht ihres Leiters#1937: Leiters ersetzt durch: Lebens;
1939: Leiters;
1944: Lebens umgeformt werden können.44

Schon mit#1944: mit ersetzt durch: in dem Jahre 1870/71 hatte England indes seine neue Stellung festgelegt. Schwankungen, die infolge der weltwirtschaftlichen Bedeutung Amerikas als Rivalen Englands sowie#1929: Amerikas als Rivalen Englands sowie ersetzt durch: Amerikas, sowie der machtpolitischen Entwicklung Rußlands einige Male eintraten, wurden leider von Deutschland nicht benützt, so daß immer mehr eine Festigung der ursprünglichen Tendenz der britischen Staatskunst erfolgen mußte.45

England sah in Deutschland die Macht, deren handels- und damit weltpolitische Bedeutung, nicht zuletzt infolge seiner enormen Industrialisierung, in so bedrohlichem Umfange zunahm, daß man bereits ein Abwägen der Stärke der beiden Staaten auf gleichen Gebieten vornehmen konnte.46 Die »wirtschaftsfriedliche« Eroberung der Welt47, die unseren Staatslenkern als der letzten Weisheit höchster Ausfluß#1930: Ausfluß ersetzt durch: Schluß erschien, wurde für den englischen Politiker die moralische Begründung seines#1929: die moralische Begründung seines ersetzt durch: der Grund zur Organisation des Widerstandes dagegen. Daß sich dieser Widerstand in die Form eines umfassend organisierten Angriffs kleidete48, entsprach dann vollständig dem Wesen einer Staatskunst,