Parade und Volksküche <span class="pagenumber">[293]</span>

262 Das Renommee der Monarchie in der wilhelminischen Gesellschaft ist schwer einzuschätzen. Über die Stimmung im »breiten Volk«, die Hitler so gut zu kennen glaubte, lassen sich kaum verbindliche Aussagen treffen. Sicher ist jedoch, dass das Ansehen Kaiser Wilhelms II. durch mehrere Skandale und eine ganze Reihe ungeschickter öffentlicher Reden und Auftritte schweren Schaden erlitt; ganz besonders gilt dies für die Daily-Telegraph-Affäre. Auslöser war eine am 28. 10. 1908 im Daily Telegraph veröffentlichte Unterredung des Kaisers mit dem britischen Offizier Edward Stuart Wortley über die deutsch-britischen Beziehungen, die im In- und Ausland als Ausdruck diplomatischer Taktlosigkeit und persönlicher Überheblichkeit angesehen und massiv kritisiert wurde – auch in konservativen Kreisen. Anstoß erregten die pathetischen Freundschaftsbekundungen Wilhelms II. gegenüber Großbritannien, die in Widerspruch zu seiner ansonsten oft militanten Englandkritik standen. Indem der Kaiser behauptete, die Stimmung der deutschen Öffentlichkeit sei allgemein englandfeindlich, bekräftigte er zugleich britische Sorgen vor einer deutschen Aufrüstung. Überaus anmaßend wirkte die Aussage des Kaisers, Großbritannien habe den Burenkrieg auf Basis eines von ihm ausgearbeiteten Schlachtplans gewonnen. Darüber hinaus leistete sich Wilhelm II. eine Indiskretion, indem er verlautete, Frankreich und Russland hätten während des Burenkriegs auf eine antibritische Allianz gedrängt, der er sich widersetzt habe. In Deutschland löste der Artikel eine schwere innenpolitische Krise aus, die auch zum Bruch zwischen Wilhelm II. und Reichskanzler Bernhard von Bülow führte, der am 14. 7. 1909 zurücktrat. Der monarchische Gedanke, so Theodor Heuss in seinen Erinnerungen, wurde durch die Daily-Telegraph-Affäre »moralisch demoliert«.

Vgl. Heuss, Bilder, Zitat S. 32; Ullrich, Großmacht, S. 219 f.; Winzen, Kaiserreich, S. 19 – 91; Kohlrausch, Monarch, S. 243 – 263; Geppert, Pressekriege, S. 262; Bösch, Geheimnisse, S. 406 – 416.

263 Anspielung auf Wilhelm II. Dessen Tendenz, sich von Personen seines persönlichen Umfelds leicht beeindrucken und politisch beeinflussen zu lassen, blieb schon zeitgenössischen Beobachtern nicht verborgen. Am 6. 6. 1907 beklagten etwa die Leipziger Neuesten Nachrichten »die Existenz eines kleinen, abermächtigen Häufleins, das den Kaiser umgab«, dessen »Ohr besaß« und durch ihre »anbetende Huldigung in dem Monarchen hyperromantische Anschauungen vom Königsrecht und von einem mystischen Gottesgnadentum« erwecke. Schärfster Kritiker der kaiserlichen »Kamarilla« war der Journalist Maximilian Harden. 1906 provozierte er den größten Skandal des Kaiserreichs, als er dem engen Freund und Vertrauten Wilhelms II., Philipp Fürst zu Eulenburg und Hertefeld, öffentlich vorwarf, Kern einer unheilvollen Nebenregierung zu sein und ihn zudem der Homosexualität bezichtigte. Die völkische Kritik zielte hingegen vor allem darauf, dass zum Umfeld des Kaisers auch einige jüdische Industrielle und Bankiers gehörten. Beim Blick auf die »nächste Umgebung des Monarchen«, so 1912 der Vorsitzende des ADV Heinrich Claß, könne die »Beunruhigung des Patrioten nur vermehr[t]« werden. Der Kaiser sei zu einem »Gönner der Juden geworden«. Die Haltung des Kaisers war indes widersprüchlich: Wilhelm II. sympathisierte mit völkischen Ideologen wie Adolf Stoecker und Houston Stewart Chamberlain, ehe er nach seiner Abdankung (1918) selbst mit antisemitischen Äußerungen hervortrat.

Vgl. Frymann, Kaiser, Zitate S. 27, 35; Rosenberg, Staatsgedanke, S. 13; Mommsen, Homosexualität; Röhl, Kaiser (1997), bes.S. 270 – 285; Röhl, Kaiser (2007), S. 35 – 77; Kohlrausch, Monarch, S. 176 – 243; Bösch, Geheimnisse, S. 117 – 154, Zitat S. 151; Anm. 43 in diesem Kapitel.

265 Hitlers Verdikte gegen Humanität sind Teil seines sozialdarwinistischen Weltbilds. Humanität galt ihm als Schwäche und Antithese zu den Prinzipien »Natürliche Auslese« und »Kampf ums Dasein«. Schon in den frühen 1920er Jahren behandelte Hitler den Begriff »Humanität« ironisch und despektierlich. Die Ablehnung »humaner« Erwägungen hatte in der völkischen Bewegung Tradition. So heißt es etwa in Paul de Lagardes 1884 erschienenen Aufsatz Programm für die konservative Partei Preußens: »Mit der Humanität müssen wir brechen: denn nicht das allen Menschen Gemeinsame ist unsere eigenste Pflicht, sondern das nur uns Eignende ist es.« 1899 sprach auch Houston Stewart Chamberlain despektierlich von »Humanitätsduselei« und bezichtigte die Juden, sich an ihr »nur insofern« zu beteiligen, »als sie ihnen selber zum Vorteil« gereiche. Eine Ablehnung der »sog[enannten] ›Humanität‹ im landläufigen Sinne« findet sich auch in Heinrich Claß’ Schrift Wenn ich der Kaiser wärʼ. Die Idee der Humanität, so Claß, dürfe erst dann »wieder gelten«, wenn das deutsche Volk »politisch, sittlich, gesundheitlich und kulturell reformiert« sei. Nach dem Ersten Weltkrieg griffen auch die Autoren der »Konservativen Revolution« dieses Denken auf.

Hitler selbst betrachtete es nach 1918 als eine Notwendigkeit deutscher Interessenpolitik, jegliche Humanität abzulehnen, also im Grunde die Kategorie des Moralischen von der Politik zu trennen. In einer Rede am 20. 4. 1923 rief er aus: »Mögen wir inhuman sein! Aber wenn wir Deutschland retten, haben wir die größte Tat der Welt vollbracht. Mögen wir Unrecht tun! Aber wenn wir Deutschland retten, haben wir das größte Unrecht der Welt wieder beseitigt. Mögen wir unsittlich sein! Aber wenn unser Volk gerettet wird, haben wir der Sittlichkeit wieder Bahn gebrochen.«

Vgl. Lagarde, Schriften, Zitat S. 367; Chamberlain, Grundlagen, Bd. 1, S. 382 f.; Tannenberg, Groß-Deutschland, S. 231; Frymann, Kaiser, Zitate S. 105; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 517, Zitat S. 909; Dupeux, Intellektuellen, S. 7; Kap. II/1, Anm. 38, 39.

man ja wirklich# 1926: pflegen, denn sonst müßte man ja wirklich ersetzt durch: pflegen – man müßte sonst;
1930: pflegen – wäre man hier nicht nachsichtig, müßte man sonst an der Gegenwart überhaupt verzweifeln; sind doch die Repräsentanten des jetzigen Regiments, gerade als Persönlichkeiten# 1933: Persönlichkeiten ersetzt durch: Persönlichkeit;
1944: Persönlichkeiten betrachtet, wohl das geistig und moralisch Bescheidenste, das man sich selbst bei langem Nachdenken auch nur vorzustellen vermag. Wer den »Wert« der deutschen Revolution an dem Werte und der Größe der Personen mißt, die sie dem deutschen Volke seit dem November 1918 geschenkt hat, der wird sein Haupt verhüllen aus Scham vor dem Urteil der Nachwelt, der man dann# 1926: gestrichen: dann nicht mehr das Maul wird verbinden können durch Schutzgesetze261 usw., und die deshalb aber auch# 1926: gestrichen: aber auch das sagen wird, was wir ja doch alle auch# 1926: auch ersetzt durch: schon heute erkennen, nämlich daß Gehirn und Tugend bei unseren neudeutschen Führern im umgekehrten Verhältnis stehen zu ihren Mäulern und Lastern.

Gewiß war die Monarchie vielen, dem breiten Volke vor allem, entfremdet.262 Es war dies# 1926: Es war dies ersetzt durch: Das war die Folge der Tatsache, daß die Monarchen nicht immer von den – sagen wir – hellsten und besonders nicht von den aufrichtigsten Köpfen umgeben waren. Sie liebten leider zum Teile# 1933: Teile ersetzt durch: Teil die Schmeichler mehr als die geraden Naturen, und so wurden sie denn# 1926: gestrichen: denn auch von diesen »unterrichtet«.263 Ein sehr schwerer Schaden in einer Zeit, in der die Welt einen großen Wandel in vielen alten Anschauungen mitgemacht# 1930: mitgemacht ersetzt durch: durchgemacht hatte, der nun# 1926: gestrichen: nun natürlich auch nicht vor der Beurteilung mancher althergebrachter# 1926: althergebrachter ersetzt durch: althergebrachten;
1944: althergebrachter Überlieferungen der Höfe haltmachte.

So konnte um die Jahrhundertwende der gewöhnliche Mann und Mensch keine besondere Bewunderung mehr finden für die an der Front in Uniform entlang reitende Prinzessin.264 Über die Wirkung einer solchen Parade in den Augen des Volkes konnte man sich anscheinend gar keine richtige Vorstellung machen, denn sonst wäre es zu so unglücklichen Auftritten wohl nie gekommen. Auch die nicht immer ganz echte Humanitätsduselei265 dieser Kreise wirkte eher abstoßend als anziehend. Wenn zum Beispiel die Prinzessin X. »geruhte«# 1926: »geruhte« ersetzt durch: geruhte , die Kostprobe in einer Volksküche mit dem bekannten Resultat vorzunehmen, so konnte dies vielleicht früher# 1930: dies vielleicht früher ersetzt durch: das früher vielleicht ganz gut aussehen, damals aber war der Erfolg ein gegenteiliger. Es kann dabei ohne weiteres angenommen werden, daß die Hoheit wirklich keine