Mit Rußland gegen England <span class="pagenumber">[150]</span>

106 Der Begriff »friedlicher Wettbewerb« wurde durch eine Rede populär, die Kaiser Wilhelm II. am 27. 8. 1911 vor dem Hamburger Senat hielt und in der er als Reaktion auf die Zweite Marokkokrise im Sommer 1911 auch auf einen beschleunigten deutschen Flottenausbau drängte. Die Wendung zählte im Ersten Weltkrieg zu den Rechtfertigungsstrategien der deutschen Propaganda. So heißt es in einem Artikel der Frontzeitung Die Somme-Wacht vom 27. 1. 1917: »Seit zehn Jahren zieht sich wie ein roter Faden durch alle Regierungshandlungen unseres Kaisers, durch unsere ganze auswaertige Politik, das Bestreben, einen friedlichen Wettbewerb mit England zu ermoeglichen, unsere Vettern jenseits des Kanals davon zu ueberzeugen, dass der Friede im Interesse aller liegt, und dass das Wohl Europas am besten gesichert ist, wenn die grossen Nationen in friedlichem Wettbewerb neben einander leben.« Hitlers Polemik erinnert auch hier an Erich Ludendorffs Kriegserinnerungen (1919), in denen dieser das Modell der »Gleichberechtigung im friedlichen Wettbewerb«, an dem sich das Handeln der deutschen Reichsleitung orientiert habe, scharf attackierte; nur durch »Macht« wäre für das Deutsche Reich eine »verstärkte Weltgeltung« erreichbar gewesen.

Vgl. Die Somme-Wacht vom 27. 1. 1917, »Zum Geburtstag unseres Kaisers«; Obst (Hrsg.), Reden, S. 343 f.; Ludendorff, Kriegserinnerungen, Zitat S. 287; Mommsen, Kaiser, S. 177; Obst, Herr, S. 319.

111 Mit dieser Formulierung spielt Hitler nicht nur erneut auf die Formel des »friedlichen Wettbewerbs« an, gegen die er wenige Zeilen vorher polemisiert. Hitler dürfte hier auch die Friedensresolution des Reichstags vom 19. 7. 1917 vor Augen gehabt haben, die der Interfraktionelle Ausschuss aus SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei erarbeitet hatte. In dieser Resolution – die auf die deutsche Öffentlichkeit stark polarisierend wirkte und die radikale Rechte zur Gründung der Deutschen Vaterlandspartei animierte – hieß es unter anderem: »Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker. […] Nur der Wirtschaftsfriede wird einem freundschaftlichen Zusammenleben der Völker den Boden bereiten.« Hitler selbst, dessen außenpolitische Vorstellungen in erster Linie vom Prinzip der Gewalt geprägt waren, hielt die »Theorie der ›wirtschaftsfriedlichen Eroberung der Welt‹« für einen »Irrwahn ersten Ranges« – so eine zentrale These seines im April 1924 veröffentlichten Aufsatzes Warum mußte ein 8. November kommen?. Mit dieser Politik habe man schon lange vor 1914 begonnen, nach »dem Weggange des Fürsten Bismarck«. »Das Streben nach Aufrechterhaltung des Friedens« habe »jede klare eindeutig politische Stellungnahme« verhindert; die Folge sei eine völlige Richtungslosigkeit der damaligen deutschen Politik gewesen. Eine wirtschaftsfriedliche Eroberung der Welt sei jedoch unmöglich; am Ende müsse sie »ja doch auch mit dem Schwerte ausgetragen« werden. Auch in seinem 1928 verfassten, unveröffentlichten »Zweiten Buch« argumentierte Hitler: »Da aber alle großen Völker heute Industrievölker sind, ist die sogenannte wirtschaftsfriedliche Eroberung der Erde nichts anderes als der Kampf mit Mitteln, die [nur] so lange friedliche sein werden, solange die stärkeren Völker mit ihnen siegen zu können glauben, d. h. aber in Wirklichkeit mit friedlicher Wirtschaft die anderen töten zu können. Denn das ist das wirkliche Resultat eines Sieges eines Volkes mit wirtschaftsfriedlichen Mitteln über ein anderes Volk.«

Vgl. Matthias (Bearb.), Ausschuß, Dok. 25 e, Zitat S. 114; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 626, Zitate S. 1216 – 1218; Hitler, Reden, Bd. II A, Zitat S. 17; Bermbach, Vorformen, S. 15; Ribhegge, Frieden, S. 183; Leonhard, Büchse, S. 740 – 743.

als einer gediegenen Stärke zu ähneln.105 Eine Flotte ist freilich schneller zu bauen, als im zähen Kampfe Bauernhöfe aufzurichten und mit Farmern zu besiedeln; allein, sie ist auch schneller zu vernichten als das# 1944: gestrichen: das letztere.

Wenn Deutschland dennoch diesen Weg beschritt, dann mußte man aber wenigstens klar erkennen, daß auch diese Entwicklung eines Tages beim Kampfe enden würde. Nur Kinder konnten vermeinen, durch freundliches und gesittetes Betragen und dauerndes Betonen friedlicher Gesinnung ihre »Bananen«# 1926: »Bananen« ersetzt durch: Bananen holen zu können im »friedlichen Wettbewerbe# 1933: Wettbewerbe ersetzt durch: Wettbewerb der Völker«106, wie man so schön und salbungsvoll daherschwätzte, ohne also je zur Waffe greifen zu müssen.

Nein: wenn wir diesen Weg beschritten, dann mußte eines Tages England unser Feind werden.107 Es war mehr als unsinnig, sich darüber zu entrüsten, entsprach aber ganz unserer eigenen Harmlosigkeit, daß England sich die Freiheit nahm, eines Tages unserem friedlichen Treiben mit der Roheit des gewalttätigen Egoisten entgegenzutreten.108

Wir hätten dies allerdings leider# 1937: gestrichen: leider; 1939: wieder eingefügt: leider; 1944: wieder gestrichen: leider nie getan.

Wenn europäische Bodenpolitik nur zu treiben war gegen Rußland mit England im Bunde, dann war aber umgekehrt Kolonial- und Welthandelspolitik109 nur denkbar gegen England mit Rußland. Dann mußte man aber auch hier rücksichtslos die Konsequenzen ziehen – und vor allem Österreich schleunigst fahren lassen.

Nach jeder Richtung hin betrachtet war dieses Bündnis# 1930: eingefügt: mit Österreich 110 um die Jahrhundertwende schon ein wahrer Wahnsinn.

Allein man dachte ja auch gar nicht daran, sich mit Rußland gegen England zu verbünden, so wenig# 1937: so wenig ersetzt durch: sowenig;
1939: so wenig wie mit England gegen Rußland, denn in beiden Fällen wäre das Ende ja Krieg gewesen, und um diesen zu verhindern, entschloß man sich ja doch überhaupt erst zur Handels- und Industriepolitik. Man besaß ja nun in der »wirtschaftsfriedlichen« Eroberung der Welt111 eine Gebrauchsanweisung, die der bisherigen Gewaltpolitik ein für allemal das Genick brechen sollte. Man war sich manchmal der Sache vielleicht doch wieder nicht ganz sicher, besonders, wenn aus England von Zeit zu Zeit ganz unverständliche# 1944: unverständliche ersetzt durch: unmißverständliche Drohungen herüberkamen; darum