Passivität der »Staatserhaltenden« <span class="pagenumber">[177]</span>

102 Eine Anspielung auf den Kapp-Putsch im März 1920, auf den die Reichswehr – vorsichtig formuliert – indifferent reagierte. Während der Chef der Heeresleitung, General Walther Reinhardt, dem Reichswehrminister Gustav Noske seine Unterstützung zusicherte, verweigerte der Chef des Truppenamts, Generalmajor Hans von Seeckt, dem die Worte zugeschrieben werden: »Truppe schießt nicht auf Truppe«, der Regierung den Gehorsam. Zwar versuchte er insgeheim den Putsch zu liquidieren, aber erst nachdem er sich offiziell krank gemeldet hatte. Es war der Generalstreik und die Verweigerung der Beamten, nicht aber der Widerstand der Reichswehr, an dem dieser dilettantisch organisierte Staatsstreich von rechts schließlich scheiterte. Hitler, der damals zusammen mit Dietrich Eckart voller Hoffnungen nach Berlin geflogen war, erlebte nur noch den Zusammenbruch des Putschs. Freilich besaß Hitler ganz andere Erwartungen an die Reichswehrführung: Er hätte sich eine aktive Unterstützung des Putschs durch die Armee gewünscht, zu der es aber nicht kam. Seine Kritik, die vermutlich vor allem auf Seeckt zielt, von dem Hitler bereits im März 1923 eine entschiedene Abfuhr erhalten hatte, ist vor allem in diesem Sinne zu verstehen.

Hitlers Bemerkung ist darüber hinaus auch prinzipieller Natur. Bezugspunkt ist das formale Verständnis von Gehorsam, das die Reichswehrführung von ihren Soldaten forderte, selbst wenn diese Führung von ihnen nicht erwartete, »daß ein jeder den Wandel der Zeit in seinem Herzen begrüßt« – so Seeckt in einem Erlass vom 18. 4. 1920. Dennoch sollten die meisten Offiziere der Republik bis 1933 loyal dienen, auch wenn sie nach der Erfahrung von Weltkrieg, Niederlage, Bürgerkrieg und Abrüstung vielfach Vorstellungen verfolgten, die sich nicht mehr innerhalb des traditionellen nationalkonservativen Koordinatensystems bewegten, sondern oftmals weit rechts davon. Möglich wurde dieser Spagat durch eine Politik der Reichswehrführung, welche die Armee als »unpolitisch« zu definieren und sie auf ein abstraktes Staatsverständnis zu verpflichten versuchte. Zentral dabei war die Idee des »Reichs«, ein »abstrakter, man könnte sogar sagen ein mythischer Begriff, der alles das umschloß, was man auch das ›ewige Deutschland‹ genannt hat: Volk, Land und Staat«, so der spätere Generalfeldmarschall Erich von Manstein.

Vgl. Könnemann/ Schulze (Hrsg.), Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch; Manstein, Soldatenleben, Zitat S. 55; Meier-Welcker, Seeckt, S. 254 – 282; Wohlfeil/ Dollinger, Reichswehr, S. 92 – 98; Hürten, Offizierskorps; Erger, Kapp-Lüttwitz-Putsch; Hürten, Kapp-Putsch; Hürter, Heerführer, S. 86 – 101; Keller, Wehrmacht, S. 218 – 243; Kap. II/15, Anm. 113.

107 Dass ein verängstigtes deutsches Bürgertum die politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen der Jahre 1918/19 hilflos und wie betäubt erlebte, wurde häufig kolportiert. »Das Bürgertum ist verwirrt und eingeschüchtert, ratlos und haltlos, die meisten flattern wie Vögel, die aus dem Nest gefallen sind, und wissen nicht wohin«, schrieb etwa Theodor Wolff im November 1918. Jedoch entspricht diese Analyse nur zum Teil den damaligen Ereignissen. Schon in der Zeit des Kaiserreichs, erst recht aber unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs hatten sich Teile des Bürgertums in Richtung rechts radikalisiert. Sichtbarster Ausdruck dieser Entwicklung war die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei im September 1917, die weltanschaulich eine Mischung aus konservativen, nationalistischen und völkischen Positionen vertrat und bereits ein knappes Jahr später etwa 1,2 Millionen Mitglieder zählte. Schon deshalb kann es nicht überraschen, dass das Bürgertum nicht bereit war, den Systemwandel von 1918/19 nur passiv zu verfolgen. Vielmehr hatte die Zerstrittenheit der deutschen Linken, die spätestens in der Revolution offenkundig wurde, zur Folge, dass nun eine Schicht die Organisations- und Aktionsformen der Arbeiterbewegung zu kopieren begann, die selbst nicht zu dieser Bewegung gehörte: Vor allem auf lokaler Ebene entstanden bürgerliche Räteorganisationen, die »Bürgerräte«, die zu Massenversammlungen, Demonstrationen, Streiks und Boykotten aufriefen und die auf diese Weise ihren politischen Einfluss zu sichern suchten. Dazu gehörten auch die »Vergewerkschaftung« bürgerlicher Verbände sowie die Errichtung zahlreicher Einwohner-, Bürger- oder Volkswehren. Auch die Freikorps waren zumindest teilweise ein Sammelbecken für die bürgerliche – häufig studentische – Jugend.

Vgl. Winkler, Revolution, Zitat S. 137; Biber, Bürgertum; Sprenger, Landsknechte, S. 49 – 54; Kap. I/12, Anm. 7; Anm. 113 in diesem Kapitel.

109 Ein typisches Beispiel für Hitlers Verallgemeinerungen einer ungleich komplexeren Wirklichkeit. Erinnert sei etwa an die Rede des parteilosen, bürgerlichen Reichsministers des Auswärtigen Walter Simons, der am 21. 7. 1920 vor dem Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Reichstags nochmals klarstellte, »daß eine Revolution nur dann mit Waffen niederzuschlagen sei, wenn sie selbst mit Waffen auftrete. Eine Revolution der Geister werde er niemals mit Waffen bekämpfen. Wenn sich aber eine Revolution nicht auf geistige Waffen beschränkte, sondern zur Ergreifung der Waffen schreite, dann werde er der Regierung raten, daß der Gewalt mit allen Mitteln der Gewalt begegnet werde, bis sie gebrochen sei. Er hoffe aber, daß ein Appell an die Macht in keiner Form nötig sein werde.«

Vgl. Vossische Zeitung vom 22. 7. 1920 (MA), »Spa im Auswärtigen Ausschuß« (Zitat).

gerlichen Welt der gedankenlose formale Gehorsam wertvoller ist als das Leben des eigenen Volkes.102 Nach nationalsozialistischer Auf‌fassung tritt aber in solchen Augenblicken nicht der Gehorsam gegenüber schwachen Vorgesetzten in Kraft, sondern der Gehorsam gegenüber der Volksgemeinschaft.103 Es tritt in einer solchen Stunde die Pflicht der persönlichen Verantwortung einer ganzen Nation gegenüber in Erscheinung.104

Daß eine lebendige Auf‌fassung dieser Begriffe in unserem Volk, oder besser in unseren Regierungen verlorengegangen war, um dort einer rein doktrinären und formalen zu weichen, war die Ursache des Gelingens der Revolution.

Zum zweiten Punkt wäre folgendes zu bemerken:

Der tiefere Grund für die Feigheit der »staatserhaltenden« Parteien ist vor allem das Ausscheiden des aktivistischen, gut gesinnten#1937: gut gesinnten ersetzt durch: gutgesinnten;
1939: gut gesinnten Teiles unseres Volkes aus ihren Reihen, der im Felde verblutete.105 Davon abgesehen, waren unsere bürgerlichen Parteien, die wir als die einzigen politischen Gebilde bezeichnen können, die auf dem Boden des alten Staates standen106, überzeugt, ihre Anschauungen ausschließlich auf geistigem Wege und mit geistigen Mitteln vertreten zu dürfen, da die Anwendung von physischen allein dem Staate zukäme.107 Nicht nur, daß man in einer solchen Auf‌fassung das Zeichen einer allmählich sich herausbildenden dekadenten Schwäche zu erblicken hat, war sie auch unsinnig in einer Zeit, in der ein politischer Gegner diesen Standpunkt bereits längst verlassen hatte und statt dessen in aller Offenheit betonte, wenn möglich seine politischen Ziele auch durch Gewalt verfechten zu wollen.108 In dem Augenblick, in dem in der Welt der bürgerlichen Demokratie, als Folgeerscheinung derselben, der Marxismus auftauchte, war ihr Apell, den Kampf mit »geistigen Waffen« zu führen109, ein Unsinn, der sich eines Tages furchtbar rächen mußte. Denn der Marxismus selbst vertrat von jeher die Auf‌fassung, daß die Anwendung einer Waffe nur nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu erfolgen hat und das Recht hierzu immer im Gelingen liegt.

Wie richtig diese Auf‌fassung ist, wurde in den Tagen vom 7. bis 11. November 1918 bewiesen. Damals kümmerte sich der Marxis-