Selbstschutz nicht »Wehrverband« <span class="pagenumber">[185]</span>

158 Derartige Szenen sind aus der Zeit der revolutionären Unruhen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht bekannt. Vielmehr war diese Revolution in ihren Anfängen »gutmütig; es gab keine Lynchjustiz und keine Revolutionstribunale«. Zwar forderten die Auseinandersetzungen der Jahre 1918 – 1921 auf beiden Seiten Opfer in einem vermutlich niedrigen vierstelligen Bereich, doch war es ein Charakteristikum der Revolution, dass sie eben gerade nicht eine gewaltsame Veränderung der deutschen Gesellschaft durch systematische Hinrichtungen zu erzwingen suchte – erst recht nicht durch Erhängungen an Laternen. Seinen Ursprung hatte diese Form der Exekution in der Französischen Revolution, deren Opfer immer wieder an Laternenpfählen erhängt oder dort als Leichen zur Schau gestellt wurden. Camille Desmoulins rechtfertigte in seiner Schrift Discourse de la lanterne aux Parisiens (1789) diese Exzesse als »Volksjustiz«, und auch das berühmte Kampflied der Französischen Revolution »Ça ira!« endete mit dem Refrain: »Ah! ça ira, ça ira, ça ira, Les aristocrates à la lanterne! Ah! ça ira, ça ira, ça ira, Les aristocrates on les pendra!« Bekannt wurde diese Hinrichtungsart noch einmal während des Wiener Oktoberaufstands 1848, als eine aufgebrachte Menge den österreichischen Kriegsminister Theodor Graf Baillet de Latour an einer Laterne erhängte; damals entstand der zynische Begriff des »Laternisierens«.

Die Ereignisse der Jahre 1918/19 weckten die Furcht vor solch einer anarchistischen »Volksjustiz«; die Laterne wurde dafür zum Symbol par excellence. So gab der Schriftsteller Emil Ludwig seiner Darstellung über die Ereignisse des Jahres 1919 in Berlin den bezeichnenden Titel: »An die Laterne!«; ein entsprechendes Ereignis wird dort jedoch nirgends beschrieben. Auch der expressionistische Maler Max Pechstein gestaltete damals ein Plakat mit dem gleichnamigen Titel, das dann auch zum Namensgeber einer kurzfristig existierenden anarchistischen Zeitschrift wurde. Ursache für die Wiederentdeckung jenes alten Symbols waren allerdings nicht nur diffuse Ängste; auch radikale politische Parolen gaben dazu Anlass. Die KPD-Aktivistin Ruth Fischer, selbst jüdischer Herkunft, forderte etwa 1923 dazu auf, »die Juden-Kapitalisten […] an die Laterne« zu hängen; 1921 war diese Forderung auch auf einer linken Demonstration in Homburg zu hören, hier in Bezug auf die Angehörigen rechter Wehrverbände. Auch Hitler soll keine Skrupel bei der Verwendung solcher Mittel gehabt haben; das jedenfalls schreibt sein damaliger Vertrauter Georg Schott. In seinem Volksbuch vom Hitler (1924), einer der ersten Hitler-Biografien, zitiert er Hitlers Vorstellung über seine künftige »Politik« gegenüber den Juden: »Bevor nicht die Laternenpfähle vollhängen, wird keine Ruhe.« Hierzu Schott: »Gewiß, lieber Freund, das hat Adolf Hitler gesagt. Hoffentlich verursacht dir der Gedanke keine Zustände.«

Vgl. BSB, 2 H. un. app. 43: Zeitschrift, »An die Laterne«. Zeitschrift Nr. 1[1919]-9[1919]; Desmoulins, Oeuvres, S. 141 – 195; Ludwig, Laterne; Schott, Volksbuch, S. 185 f.; Haffner, Revolution, Zitat S. 62; Grosche, Geschichte, S. 129; Duneton, Histoire, S. 109 – 113; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, Zitat S. 505; Enne, Dokument.

161 Nachdem die bayerische Regierung den Ausnahmezustand für Bayern aufgehoben hatte, trat Pöhner am 29. 9. 1921 als Münchner Polizeipräsident zurück. Wie offen und ungeniert er zuvor für die NSDAP Partei ergriffen hatte, bestätigte sein ehemaliger Mitarbeiter Wilhelm Frick am 3. 3. 1924 vor dem Volksgericht München I: »Der Hauptdifferenzpunkt, warum Herr Pöhner und ich glaubten, nicht mehr weiterhin unsere bisherigen Ämter weiterführen zu können«, sei die Behandlung der NSDAP gewesen. »Wir erkannten, daß diese Bewegung der Nationalsozialistischen Partei, die damals ja noch klein war – es wäre ein leichtes gewesen, sie damals noch zu unterdrücken, 1919 und 1920 – nicht unterdrückt werden dürfe. Wir taten das nicht und taten es bewußt nicht, weil wir in ihr den Keim einer Erneuerung Deutschlands sahen […]. Deshalb hielten wir unsere schützende Hand über die Nationalsozialistische Partei und Herrn Hitler. Wir hatten ja sehr viel damit zu tun, weil wir die Plakatzensur hatten. Es bestand ja immer Ausnahmezustand. Wir hatten die Plakate zu zensieren und Versammlungen zu genehmigen, standen also fortgesetzt in Verbindung mit der Bewegung, hatten sie amtlich zu behandeln, und es ist mir sehr wohl in Erinnerung, daß gerade diese Plakatzensur immer wieder heftigen Widerspruch, auch im Landtag und bei der Regierung hervorrief. Wir haben auch grobe Sachen beseitigt. Es ist natürlich bei einer so jungen Bewegung, die viel Propaganda macht, gar nicht zu umgehen, daß man auch eine gewisse Freiheit lassen muß.«

Vgl. Der Hitler-Prozess 1924, Teil 2, Zitat S. 447; Benz (Hrsg.), Politik, S. 87 f.; Neliba, Frick, S. 28. Zur Kontinuität im deutschen Beamtenapparat nach 1918 vgl. Kap. II/13, Anm. 7.

165 Ebendieses Konzept versuchte Hitler bei der Neugründung der SA zu verwirklichen. In seinem SA-Befehl 1 zur Gründung der »Obersten SA-Führung« vom 1. 11. 1926 heißt es: »Die Ausbildung der SA hat nicht nach militärischen Gesichtspunkten, sondern nach parteizweckmäßigen zu erfolgen. Soweit die Mitglieder dabei körperlich zu ertüchtigen sind, darf der Hauptwert nicht auf militärisches Exerzieren, als vielmehr auf sportliche Betätigung gelegt werden. Boxen und Jiu Jitsu sind mir immer als wichtiger erschienen als irgendeine schlechte, weil doch nur halbe Schießausbildung. Die körperliche Ertüchtigung soll dem einzelnen die Überzeugung seiner Überlegenheit einimpfen und ihm jene Zuversicht geben, die ewig nur im Bewußtsein der eigenen Kraft liegt; zudem soll sie ihm jene sportlichen Fertigkeiten beibringen, die zur Verteidigung der Bewegung als Waffe dienen.« In seinen Grundsätzlichen Anordnungen der SA II vom 31. 5. 1927 bekräftigte Hitler nochmals, dass die SA »sportliche Übungen betreiben« sollte: »In erster Linie Boxen, Jiu Jitsu, weiter Turnen und Wandern. Strengstens untersagt ist jede Art von militärischer Spielerei. Die SA ist kein Wehrverband. Die militärische Ausbildung der Nation ist Aufgabe des Reichsheeres und nicht der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.«

Vgl. Hitler, Reden, Bd. II/1, Dok. 44, 135, Zitate S. 83, 327; Anm. 214, 215 in diesem Kapitel.

166 Obwohl mit der Übernahme der SA-Führung durch Franz Pfeffer von Salomon im November 1926 die ideologische Schulung der SA-Männer offiziell stark in den Vordergrund rückte und erstmals der Begriff des »Politischen Soldaten« für den SA-Mann geprägt wurde, spielten weltanschauliche Fragen im Alltag der Parteitruppe eher eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stand vielmehr das, was die Protagonisten der SA als »SA-Geist« bezeichneten – eine im gemeinsamen »Erleben« zusammengeschweißte »Kampfgemeinschaft«, die sich mehr Hitler, ihren Vorgesetzten und nicht zuletzt ihren Kameraden verpflichtet fühlte als der nationalsozialistischen Weltanschauung. Deren Inhalte kamen »allenfalls im Stile eines Kompanieführerunterrichts zur Sprache«. Wichtiger für den Zusammenhalt der SA waren stereotype Feindbilder von Kommunisten, Bürgerlichen, Juden sowie dem Weimarer »System«, aber auch das, was die SA-Führung als »Sozialismus der Tat« pries, also die Befriedigung der grundlegenden materiellen Bedürfnisse wie Verpflegung, Unterkunft, Uniformierung und Betreuung durch die SA-Führung.

Vgl. Werner, SA, S. 362 – 380; Longerich, Bataillone, S. 136 – 144, Zitat S. 140; Reichardt, Kampfbünde, S. 418 – 432, 449 – 462.

168 Eine glatte Lüge, die Hitler freilich nach dem Debakel seines Putschs vom November 1923 aus leicht einsichtigen Gründen immer wieder verbreitete. So gab er etwa am 25. 9. 1930 vor dem Reichsgericht in Leipzig zu Protokoll: »Zunächst war die Entwicklung der Sturmabteilung zu einer Kampftruppe nicht durch mich eingeleitet worden, sondern auf Wunsch der amtlichen Dienststellen.« In Wirklichkeit verfolgte man in der SA schon sehr früh das Ziel, dass jeder SA-Mann »militärisch ausgebildet« sein solle – wie ein Polizeibericht vom 19. 10. 1921 registrierte. Auch sonst waren Hitlers Appelle, die Sturmtrupps würden »die Elitetruppen im Kampf um Deutschlands Freiheit sein« – so etwa auf einer SA-Versammlung vom 25. 3. 1923 –, keineswegs nur metaphorisch gemeint. Der wichtigste Schritt zur Umwandlung der SA in einen paramilitärischen Wehrverband war ihre Integration in die Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände am 4. 2. 1923 – einen Dachverband, der seit September 1923 als Deutscher Kampfbund firmierte und zu dem Gruppen wie der Bund Oberland, der Bund Wiking, die Reichsflagge und eben die SA gehörten. Richtig ist, und darauf spielt Hitlers Bemerkung an, dass der Schritt zum Wehrverband ohne die maßgebliche Förderung von Hauptmann Ernst Röhm, damals Generalstabsoffizier im Stab der 7. Division, nur schwer zu realisieren gewesen wäre – schon weil die SA nun mit Hilfe der geheimen Waffenlager Röhms massiv aufgerüstet wurde. Röhm bezeichnete sich denn auch rückblickend als »Vater dieses Kindes«. Doch wäre es undenkbar gewesen, dass ausgerechnet eine auf Hitler eingeschworene Parteitruppe wie die SA, die sich durch einen besonders ausgeprägten »Führerkult« auszeichnete, einen solchen Schritt ohne ausdrückliche Billigung Hitlers unternommen hätte. In der Zeit zwischen Frühjahr und Herbst 1923 entfaltete die SA dann »einen regen Manöverbetrieb«, zu dem auch regelmäßiges Scharfschießen gehörte. Zweck dieser Mobilisierung war immer auch die Vorbereitung der SA auf einen politischen Umsturz mit militärischen Mitteln.

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 499; Hitler, Reden, Bd. III/3, Dok. 123; Werner, SA, S. 5 – 174, Zitat S. 41; Longerich, Bataillone, S. 15 – 44, Zitat S. 35; Hancock, Röhm, S. 47 – 70.

verfolgten, deren heldenmütigem Einsatz des eigenen Lebens sie es zum Teil zu verdanken hatten, wenn sie nicht wenige Jahre vorher von der roten Meute als zerfetzte Kadaver an Laternenpfähle#1933: Laternenpfähle ersetzt durch: Laternenpfählen;
1937: Laternenpfähle gehenkt#1937: gehenkt ersetzt durch: gehängt worden waren.#1939: Punkt ersetzt durch: Fragezeichen;
1944: Ausrufezeichen158

Es waren dies so traurige Erscheinungen, daß sie einmal den unvergeßlichen verstorbenen Präsidenten Pöhner159, der in seiner harten Geradlinigkeit alle Kriecher haßte, wie nur ein Mensch mit ehrlichem Herzen je#1933: gestrichen: je zu hassen vermag, zu dem herben Ausspruch hinrissen: »Ich wollte in meinem ganzen Leben nichts anderes sein als erst ein Deutscher und dann ein Beamter, und ich möchte niemals mit jenen Kreaturen verwechselt werden, die sich als Beamtenhuren jedem prostituieren, der augenblicklich den Herrn zu spielen vermag.«160 –

Es war dabei besonders traurig, daß diese Sorte von Menschen allmählich Zehntausende der ehrlichsten und bravsten deutschen Staatsdiener nicht nur unter ihre Gewalt bekam, sondern auch noch mit ihrer eigenen Gesinnungslosigkeit langsam ansteckte, die redlichen dagegen mit grimmigem Haß verfolgte und endlich aus Amt und Stellung hinausbiß161, während sie dabei sich selbst immer noch in heuchlerischer Verlogenheit als »nationale« Männer präsentierte.162

Von solchen Menschen durften wir irgendeine Unterstützung niemals erhoffen, und wir haben sie auch nur in ganz seltenen Fällen erhalten.163 Lediglich der Ausbau eigenen Schutzes konnte die Tätigkeit der Bewegung sicherstellen und ihr zugleich jene öffentliche Aufmerksamkeit und allgemeine Achtung erringen, die man dem zollt, der sich, wenn angegriffen, selber zur Wehr setzt.164

Als Leitgedanke für die innere Ausbildung dieser Sturmabteilung war immer die Absicht vorherrschend, sie, neben aller körperlichen Ertüchtigung165, zu einer unerschütterlich überzeugten Vertreterin der nationalsozialistischen Idee auszubilden166 und endlich ihre Disziplin im höchsten Ausmaß zu festigen. Sie sollte nichts zu tun haben mit einer Wehrorganisation bürgerlicher Auf‌fassung, ebenso aber auch gar nichts mit einer Geheimorganisation.167

Warum ich schon zu jener Zeit mich auf das schärfste dagegen verwahrte, die S.A.#1937: S. A. ersetzt durch: SA. der N.S.D.A.P.#1937: N. S. D. A. P. ersetzt durch: NSDAP. als sogenannten Wehrverband aufziehen zu lassen168, hatte seinen Grund in folgender Erwägung: