Gründe des Versagens <span class="pagenumber">[262]</span>

6 Die Sorge und Furcht vor Spionage war im Ersten Weltkrieg nicht ohne Grund verbreitet: Die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 akzeptierte explizit den Einsatz von Spionen, auf den dann auch keiner der kriegführenden Staaten verzichtete. Bereits am 3. 6. 1914 erließ das Deutsche Reich ein Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheimnisse, während Russland im August 1914 mit der Deportation seiner deutschen Minderheit aus den frontnahen Gebieten begann. Die USA verabschiedeten im Juli 1917 den Espionage Act. Obgleich die Spionage für den Kriegsverlauf weitestgehend bedeutungslos blieb, reagierte die Öffentlichkeit in den einzelnen Ländern empfindlich und mitunter irrational auf dieses Thema – Hitler dürfte dies im Sommer 1914 in München selbst erlebt haben. Die Furcht vor Spionen richtete sich auch gegen eigene Staatsbürger, zumal wenn sie nationalen Minderheiten angehörten. Mit Blick auf seine Fahrt an die Front beschrieb auch Ernst Toller in seinen Erinnerungen eine Stimmung von »unbrüderlichem Mißtrauen«: »Wenn wir über Brücken fahren, dürfen die Fenster nicht geöffnet werden. ›Hütet euch vor Spionen!‹ schreien die Plakate. ›Seid vorsichtig in euren Gesprächen!‹ warnen die Schilder. […] Es soll von russischen und französischen Agenten wimmeln. Ich sehe meinen Nachbarn an, einen biederen schwäbischen Viehhändler, dessen geröteter Kropf vor Erregung zittert, mein Nachbar sieht mich an, wir senken den Blick krampfhaft zu Boden«. Auch Oskar Maria Graf erwähnte in seinen Erinnerungen Wir sind Gefangene (1927), dass bei Kriegsausbruch »schaudervollste Geschichten von Spionen« kursiert seien.

Vgl. RGBl. 1914, S. 195 – 199; Münchner Neueste Nachrichten vom 20. 7. 1914, »Spionage und Spionenfurcht«; Graf, Gefangene, Zitat S. 141; Toller, Jugend, Zitat S. 39; Bavendamm, Spionage, S. 52 – 70; Wüstenbecker, Deutsch-Amerikaner, S. 179 – 182; Altenhöner, Spionitis; Trees, Russland, S. 212 f.; Leonhard, Büchse, S. 145 f.

7 Nach Hitlers Vorstellung war seit November 1918 massenhaft »linkes« Personal mit unlauteren Mitteln in staatliche Ämter gelangt. Am 28. 2. 1926 behauptete er vor dem Hamburger Nationalklub von 1919, »die Sozialdemokratie, oder besser der Marxismus« habe »fast 60 oder 70.000 seiner Anhänger in alle möglichen Regierungsstellen hineingepreßt«. In Wirklichkeit blieb die Kontinuität im deutschen Beamtenapparat insgesamt sehr groß, auch wenn es der Systemwechsel von 1918/19 SPD-Anhängern erstmals ermöglichte, in leitende Positionen zu gelangen. Noch 1930 hatten knapp zwei Drittel der deutschen Beamten ihre Tätigkeit bereits im Kaiserreich ausgeübt. Auf Regierungsebene verlor die SPD schon 1920 ihren vorübergehend dominierenden Einfluss, nachdem sie nicht bereit war, mit einem bürgerlichen Minderheitskabinett zu koalieren. Den Reichskanzler stellte die SPD nur von Februar 1919 bis Juni 1920 sowie zwischen Juni 1928 und März 1930. Von den wichtigsten Ministerien leiteten Sozialdemokraten in den Jahren 1921 – 1923 zwar häufig die Ressorts für Inneres und Justiz; jenen für Äußeres, Arbeit, Ernährung und Reichswehr standen jedoch keine Sozialdemokraten vor. Zwischen November 1923 und Juni 1928 gab es überhaupt keine sozialdemokratischen Minister.

Vgl. VB vom 3. 1. 1920, »Auf dem Wege zur Weltherrschaft«; Hitler, Reden, Bd. I, Dok. 103, Zitat S. 307; Runge, Politik, S. 9; Sühl, SPD, S. 57, 195 ff.; Langewiesche, Klasse, S. 22, 24; Schröder, Ausbildung, S. 60 – 65; Mühlhausen, Ebert, S. 120 – 124; Büttner, Weimar, S. 244 – 250, 810 – 812; Kap. I/10, Anm. 288.

8 Gemeint sind: Politische Schwätzer und Besserwisser. Dieser seit Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchliche pejorative Begriff findet sich nach 1918 auch in Texten der KPD. In der Schrift Die Kommunistische Internationale auf dem Vormarsch (1923) des sowjetischen Politikers und Publizisten Grigori Sinowjew heißt es mit Blick auf den Parteibegriff der Komintern: »Sie spricht von der Partei als wirklicher Avantgarde des Proletariats. Was bedeutet ›Partei‹? Das Wort bedeutet, buchstäblich genommen, ›Teil‹, und zwar den besten Teil, den fortgeschrittensten Teil, und nicht eine Bande Politikaster, die wir aus tiefster Seele hassen.« In der deutschen Propaganda nach 1933 wurde dann der verächtliche Begriff »Kritikaster« popularisiert, um angebliche »Miesmacher« und »Meckerer« öffentlich zu diskreditieren.

Vgl. Sinowjew, Internationale, Zitat S. 194; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 359 f.; Kap. II/11, Anm. 32.

9 Das Klischee, die Deutschen seien ein geistig schwerfälliges Volk, das »politisch nicht denken« könne, griff Hitler schon früh auf, so am 10. 12. 1919 auf einer DAP-Versammlung. Neben damals geläufigen massenpsychologischen Vorstellungen, die »den« Massen prinzipiell Dummheit attestierten, wirkte hier auch das im 19. Jahrhundert kreierte Bild des naiven, spießigen und unterwürfigen »deutschen Michel«. Nach 1918 bediente sich sowohl die politische Linke als auch die Rechte dieses Stereotyps, um die Bevölkerung in ihrem Sinn zu mobilisieren. Erinnert sei etwa an das völkische Wochenblatt Michel, wach auf sowie an die 1918/19 verbreitete Flugschrift Michel wach auf! von Hans Georg von Beerfelde, der im November 1918 kurzzeitig Mitglied des Vollzugsrats des Arbeiter- und Soldatenrats Groß-Berlin war.

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 69, Zitat S. 96 f.; Kluge, Soldatenräte, S. 87 – 89, 92; Piel, Selbstbild, S. 58, 60, 63; Szarota, Michel, S. 115 – 252; Schröder, Politik, S. 32; Plöckinger, Rhetorik, S. 128 f.; Kap. I/6, Anm. 24, 25; Kap. II/4, Anm. 19.

wühlender nationaler Begeisterung nicht nur Ablehnung#1937: Ablehnung ersetzt durch: Ablenkung;
1939: Ablehnung, sondern einen Widerstand, der ihnen nicht selten zum Verhängnis wird. Man erinnere sich nur z. B. an die allgemeine Spionenfurcht, die bei Ausbruch von Kriegen in der Siedehitze menschlicher Leidenschaften plötzlich hervorbricht und zu brutalsten, manchmal sogar ungerechten Verfolgungen führt6, obwohl sich jeder sagen kann, daß die Spionengefahr in den langen Jahren einer Friedenszeit größer sein wird, auch wenn sie aus natürlichen Gründen die allgemeine Beachtung nicht im gleichen Umfang findet.

Der feine Instinkt der durch die Novemberereignisse an die Oberfläche gespülten Staatsparasiten7 ahnt schon aus diesem Grunde in einer durch geniale#1929: geniale ersetzt durch: kluge Bündnispolitik unterstützten Freiheitserhebung#1944: Freiheitserhebung ersetzt durch: Freiheitsbewegung unseres Volkes und der dadurch bedingten Entflammung nationaler Leidenschaften die mögliche Vernichtung des eigenen verbrecherischen Daseins.

So wird es verständlich, warum die seit dem Jahre 1918 maßgebenden Regierungsstellen in außenpolitischer Hinsicht versagten und die Leitung des Staates den wirklichen Interessen der deutschen Nation fast immer planmäßig entgegenarbeitete. Denn was auf den ersten Blick als planlos erscheinen könnte, entpuppt#1929: entpuppt ersetzt durch: entlarvt sich bei näherem Hinsehen nur als die konsequente Weiterverfolgung des Weges, den die Novemberrevolution 1918 zum ersten Male in aller Öffentlichkeit beschritt.

Freilich muß man hier unterscheiden zwischen den verantwortlichen oder besser »verantwortlichseinsollenden«#1937: »verantwortlichseinsollenden« ersetzt durch: »verantwortlich sein sollenden«;
1939: »verantwortlichseinsollenden« Führern unserer Staatsgeschäfte, dem Durchschnitt unserer parlamentarischen Politikaster8 und der großen stupiden Hammelherde unseres schafsgeduldigen Volkes.9

Die einen wissen, was sie wollen. Die anderen machen mit, entweder weil sie es wissen, oder doch zu feige sind, dem erkannten und als schädlich Empfundenen rücksichtslos entgegenzutreten. Die übrigen aber fügen sich aus Unverständnis und Dummheit.

Solange die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nur den
Umfang eines kleinen und wenig bekannten Vereines#1937: Vereines ersetzt durch: Vereins besaß, konnten
außenpolitische Probleme in den Augen mancher Anhänger unter-