Sein oder Nichtsein der deutschen Nation <span class="pagenumber">[170]</span>

30 Der Begriff »Freiheitskampf« war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein verbreitetes Schlagwort, das vor allem für die Befreiungskriege gegen die französische Besatzungsherrschaft 1813 – 1815 verwendet wurde, aber auch im Zusammenhang mit anderen kriegerischen Auseinandersetzungen, etwa während des Zweiten Burenkriegs. Während des Ersten Weltkriegs benutzte die deutsche Propaganda den Begriff, um den Kampf gegen die »Welt von Feinden« und gegen die »Einkreisung«, die das Deutsche Reich bedrohe, positiv zu konnotieren. Auch kritische Intellektuelle wie der Philosoph Paul Natorp sahen den Kriegsausbruch 1914 als Beginn eines gerechten »Freiheitskampfs« in der Tradition der Befreiungskriege. Geradezu inflationär verwendet wurde das Schlagwort schließlich im Dritten Reich. Nicht nur politische Erfolge wie die »Machtergreifung« von 1933 und die Saarabstimmung von 1935 wurden zu Siegen im »Freiheitskampf« stilisiert; die Kriege gegen Napoleon wurden nun gar als Großdeutschlands Freiheitskampf gedeutet, der im Zweiten Weltkrieg seine Fortsetzung finde. In einem Ausstellungsführer der Nationalgalerie Berlin von 1940 heißt es dazu: »Das ganze deutsche Volk steht […] wieder im Entscheidungskampfe um sein Lebensrecht. Da mag es dankbar auch der Männer gedenken, die vor 125 Jahren um dasselbe höchste Gut stritten.« Auch eine ab 1940 herausgegebene dreibändige Sammlung von Hitlers Kriegsreden trug den Titel Der großdeutsche Freiheitskampf.

Vgl. Reventlow, Freiheitskampf, bes.S. 7; Graach, Freiheitskampf; 1813 bis 1815, Zitat S. 5; Der großdeutsche Freiheitskampf; Bruhn, Kulturkritiker, S. 59; Kap. II/13, Anm. 48.

32 Die Hoffnung auf eine rasche Beendigung des Kriegs war in den ersten Kriegsmonaten tatsächlich weitverbreitet, auch wenn sich die Presse mit konkreten Prognosen zurückhielt. Die politische und militärische Führung war in Bezug auf die Kriegsdauer hingegen skeptischer. Bekannt geworden ist der Ausspruch von Reichskanzler Bethmann Hollweg, der Krieg bedeute einen »Sprung ins Dunkle«. Am pessimistischsten war der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke, der den kommenden Krieg schon am 28. 7. 1914 als einen »Weltkrieg« bezeichnete, in dem sich die zivilisierten Nationen Europas gegenseitig »zerfleischen« würden. Dennoch sah Moltke hierzu keine Alternative und glaubte, das Deutsche Reich müsse losschlagen, bevor die Armeen Frankreichs und Russlands voll kriegsbereit seien; nur so könne es sich einen Vorsprung in dem zu erwartenden langen und harten Krieg sichern.

Vgl. Foerster (Hrsg.), Kämpfer, S. 67; Riezler, Tagebücher, Zitat S. 185; Bessel, Kriegserfahrungen, S. 127; Mommsen, Weltkrieg, S. 31; Verhey, Geist, S. 179; Herwig, Germany, Zitat S. 692. 

33 In Wirklichkeit war die Hoffnung groß, ein Kriegsausbruch könne doch noch verhindert werden. Über die Stimmung in Berlin schrieb die konservative Berliner Morgenpost am 31. 7. 1914: «›Wird der Weltbrand entfacht werden?‹ Werden auch wir unter die Waffen treten? Fast scheint es, als ob mit jeder Stunde die Friedenshoffnung geringer wird. [...] Das Bild Unter den Linden in diesen Tagen, das Bild der wogenden, angespannten Menschenmassen [...] ist uns beinahe zur Gewohnheit geworden. Aber gestern berührte es doch sympathischer. Die Rufer fehlten, die Hurrapatrioten und Stimmungsmacher. Es war ruhiger geworden, weil man den bitteren Ernst der Situation erfaßt hatte. [...] In wenigen Stunden vielleicht schon wird die bange Frage, die den Atem der Weltstadt stocken läßt, gelöst sein. Also warten wir ab.« Am folgenden Tag schrieb das liberale Berliner Tageblatt: »Als gestern nachmittag um 5 Uhr die Bekanntmachungen und Warnungen über den Kriegszustand an die Litfaßsäulen geklebt wurden, […] von diesem Augenblick ab senkte sich die Schwere der Zeit auf alle denkenden und fühlenden Menschen, und der Sang verstummte, den ein paar Tage vorher ein tausendstimmiger Chor bei allem und jedem Anlaß angestimmt hatte. Berlin besaß es jetzt schwarz auf weiß. Nicht getrost, sondern ernst und schwer trug man die Kunde nach Hause. [...] Und darum steigt auch aus Berlin jetzt die heiße Hoffnung hervor, daß das Unheil an unserem Lande in letzter Stunde noch vorübergehen möge!«

Vgl. Berliner Morgenpost vom 31. 7. 1914, »Zwischen Krieg und Frieden«; Berliner Tageblatt vom 1. 8. 1914 (MA), »Berlin im Kriegszustand«; Geinitz/ Hinz, Augusterlebnis, S. 24 – 26.

34 Gemeint ist der am 7. 10. 1879 geschlossene Zweibund, eine Defensivallianz, mit der sich das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn im Fall eines russischen Angriffs gegenseitig Beistand garantierten. Auch beim Angriff eines Drittstaats und gleichzeitiger Bedrohung durch Russland sollte der Bündnisfall eintreten – eine vage Beistandszusage Wiens im Fall eines französischen Angriffs auf Deutschland. Der Inhalt des Vertrags blieb geheim, nur der Abschluss wurde London und Sankt Petersburg mitgeteilt. Ursprünglich diente das Bündnis der Absicherung einer Gleichgewichtspolitik: Es sollte Österreich-Ungarns Existenz als Großmacht sichern und seine Position gegenüber Russland bei den Streitigkeiten auf dem Balkan stärken. Um 1900 wandelte sich der zunächst defensive Bund jedoch zunehmend zu einem gefestigten Machtblock, der auch expansive Ziele verfolgte. Der deutsche Führungsanspruch und divergierende militärstrategische Auffassungen sorgten indes wiederholt für Spannungen zwischen den Zweibund-Partnern. Dennoch blieb das Bündnis für beide Länder die Kernallianz; so beschwor der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow 1909 die »Nibelungentreue« zwischen den beiden Staaten. Obwohl der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat immer mehr zum Juniorpartner des Deutschen Reichs herabsank, konnte er bis zum Ersten Weltkrieg durch den Zweibund seine bedrohte Großmachtstellung bewahren. Nichtsdestoweniger ergaben sich aus der Konstellation gravierende Probleme: Die sich verfestigende Blockbildung auf dem Kontinent führte für das Deutsche Reich zum Verlust von potenziellen Bündnispartnern.

Vgl. Verosta, Theorie, S. 111, 113 – 140, 345; Pantenburg, Schatten, S. 468, 470; Angelow, Kalkül; Schöllgen, Außenpolitik, S. 60; Kap. I/4, Anm. 28.

Ein Freiheitskampf war angebrochen, wie die Erde noch keinen gewaltigeren bisher ersah# 1926: ersah ersetzt durch: gesehen 30; denn sowie das Verhängnis seinen Lauf auch nur begonnen hatte, begann# 1926: begann ersetzt durch: dämmerte auch schon den breitesten Massen die Überzeugung aufzudämmern# 1926: aufzudämmern ersetzt durch: auf , daß es sich dieses Mal nicht um Serbiens oder auch Österreichs Schicksal handelte, sondern um Sein oder Nichtsein31 der deutschen Nation.

Zum letzten Male auf viele Jahre war das Volk hellseherisch über seine eigene Zukunft geworden. So kam denn auch gleich zu Beginn des ungeheuren# 1933: ungeheuren ersetzt durch: ungeheueren;
1937: ungeheuren Ringens in den Rausch einer überschwenglichen Begeisterung der nötige ernste Unterton; denn diese Erkenntnis allein ließ die nationale Erhebung mehr werden als ein bloßes Strohfeuer. Dieses# 1930: Dieses ersetzt durch: Der Ernst aber war nur zu sehr erforderlich; machte man sich doch damals allgemein auch nicht die geringste Vorstellung von der möglichen Länge und Dauer des nun beginnenden Kampfes. Man träumte, den Winter wieder zu Hause zu sein, um dann in erneuter friedlicher Arbeit fortzufahren.32

Was der Mensch will, das hofft und glaubt er. Die überwältigende Mehrheit der Nation war des ewigen unsicheren Zustandes schon längst satt gewesen# 1930: satt gewesen ersetzt durch: überdrüssig ; so war es auch nur zu verständlich, daß man# 1930: eingefügt: an [an] eine friedliche Beilegung des österreichisch-serbischen Konfliktes gar nicht mehr glaubte, die endgültige Auseinandersetzung aber erhoffte.33 Zu diesen Millionen gehörte auch ich.

Kaum war die Kunde des Attentates# 1937: Attentates ersetzt durch: Attentats;
1939: Attentates in München bekannt geworden# 1937: bekannt geworden ersetzt durch: bekanntgeworden , so zuckten mir aber# 1930: gestrichen: aber auch sofort zwei Gedanken durch den Kopf: erstens, daß der Krieg nun endlich ein unvermeidlicher sein# 1930: nun endlich ein unvermeidlicher sein ersetzt durch: endlich unvermeidlich sein würde, weiter aber, daß nun der Habsburgische Staat gezwungen sei, den Bund auch zu halten34; denn was ich immer am meisten gefürchtet hatte, war die Möglichkeit, daß Deutschland selber eines Tages, vielleicht gerade infolge dieses Bündnisses, in einen Konflikt geraten konnte# 1944: konnte ersetzt durch: könnte , ohne daß aber Österreich die direkte Veranlassung hierzu gegeben hätte, daß aber nun# 1926: daß aber nun ersetzt durch: und nun;
1930: und so der österreichische Staat aus innerpolitischen Gründen nicht die Kraft des Entschlusses aufbringen würde, sich hinter den Bundesgenossen zu stellen. Die slawische Majorität des Reiches35 würde eine solche selbst gefaßte Absicht sofort zu sabotieren begonnen haben und hätte immer noch lieber den