Der Werdegang des Judentums <span class="pagenumber">[331]</span>

160 Die vermeintliche Diskrepanz zwischen Sprachkompetenz und rassischer Identität war ein weitverbreiteter Topos, den bereits Richard Wagner in seiner Schrift Das Judenthum in der Musik (1850) aufgriff: »Der Jude spricht die Sprache der Nation, unter welcher er von Geschlecht zu Geschlecht lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer. […] Zunächst muß im Allgemeinen der Umstand, daß der Jude die modernen europäischen Sprachen nur wie erlernte, nicht als angeborene Sprachen redet, ihn von aller Fähigkeit, in ihnen sich seinem Wesen entsprechend, eigenthümlich und selbständig kundzugeben, ausschließen.« Der Anthropologe Fritz Lenz bemerkte 1917: »Es kann ein Mensch die Sprache eines Volkes als Muttersprache sprechen und doch der Volksseele fremd gegenüberstehen. Die Sprache kann wechseln, und sie ist vergänglich; der organische Kern des Volkes aber hat Ewigkeitsbedeutung.« Und in einem offenen Brief von Karl Braßler an die Schriftleitung der Münchner Zeitung, der am 10. 4. 1920 im Völkischen Beobachter abgedruckt wurde, hieß es, der Jude könne niemals deutsch fühlen und deutsch denken: »In allem was er denkt, spricht und tut, dient er nur dem Judentum. […] Der Jude bleibt Jude, genau wie der Neger Neger und der Franzose Franzose bleibt. Und wenn die Juden anders sagen, so lügen sie – wissentlich.«

Antisemiten hielten zum einen die geschickte Beherrschung der deutschen Sprache durch die Juden und ihre »Überredungskunst« für ein wirksames Mittel, ihre nichtjüdischen Mitbürger zu betrügen; zum anderen unterstellten sie, dass Juden untereinander unverständlich »mauscheln« würden, um ihre vermeintlich unlauteren Pläne zu verschleiern. In dem damaligen »Standardwerk« Menschliche Erblichkeitslehre findet sich ab der 3.  Auflage (1927) die Aussage: »An Redegewandtheit und Überredungskunst ist er [der Jude] unerreicht. Die Neigung zu vielen Worten (scherzhaft als ›Geseires‹ bezeichnet) steht in auffallendem Gegensatz zu der germanischen Wortkargheit, die ›jüdische Hast‹ im Gegensatz zur germanischen Ruhe und Schwerfälligkeit.« Solche immer wiederkehrenden antisemitischen Vorwürfe kommentierte der Schriftsteller Arnold Zweig bereits am 3. 4. 1919 in einem Artikel in der Wochenschrift Die Weltbühne ironisch: »Der Widerpart dieses bösen und häßlichen [jüdischen] Dämons aber – und darum jene Wahl der deutschen Sprache durch den jüdischen Literatenteufel, dem es Lebenssache sein muß, grade den arglosen Deutschen Geist zu zersetzen und zu fälschen – ist der reine, ideale, blonde, keusche, strahlend schöne, selbstlose, zur Herrschaft berufene Lichtalbensproß, ist Siegfried der Deutsche«.

Vgl. Wagner, Schriften, Bd. 5, Zitate S. 70; Fritsch, Kelten, S. 30 f.; Lenz, Erneuerung, Zitat S. 37; Die Weltbühne vom 3. 4. 1919, »Die antisemitische Welle«; VB vom 10. 4. 1920, »Deutschlands geistige Vergiftung« (Zitat, Herv. i. Orig.); Baur/ Fischer/ Lenz, Erblichkeitslehre (³1927), Bd. 1, Zitat S. 558; Daxelmüller, Mauscheln, S. 144 – 146; Kremer, Juden, S. 137 – 139; Kap. I/2, Anm. 213.

162 »Mauscheln«, abgeleitet von »Mausche«, der jüdischen Form des biblischen Namens Mose, war seit dem 17. Jahrhundert als pejorativer Ausdruck für Handelsjuden gebräuchlich, und zwar im Sinn von betrügerischen »Schacherjuden«. Zugleich galt »Mauscheln« als eine typisch jüdische Sprechweise. »Gemauschel«, so Wilhelm Marr 1880, sei ein »Mangel an orthographischer Ausdrucksweise«. Mit Blick auf die angebliche »Verjudung« des deutschen Adels behauptete Marr, die Allianzen zwischen Adeligen und Juden hätten zu einer Mischung von »Salonton« und »Gemauschel« geführt: »Das Gemauschel war ja […] salonfähig geworden!« Obwohl unter Antisemiten die Begriffe »Gemauschel« und »Mauscheln« zunehmend als Synonym für »Judendeutsch« verwendet wurde, behielten sie auch die Bedeutung »schachern«, »täuschen« oder »betrügen«. Mitunter wurde »Mauschel« gar als Synonym für »die Juden« verwendet, etwa vom Verfasser der 1879 anonym erschienenen Schrift Der Mauscheljude. Die Einschränkung des Verfassers, mit dem »Mauschel« nur eine bestimmte »Sorte von Juden oder Semiten« zu meinen – nämlich denjenigen, der die »Christenleute jeglichen Standes und Geschlechtes in Hunderttausenden von Fällen auswuchert und ausmauschelt« – wirkt fadenscheinig. Hans F. K. Günther definierte in seiner Rassenkunde des deutschen Volkes das »Mauscheln« als »besondere Tongebung, die der Jude den von ihm gesprochenen Sprachen verleiht«; diese sei ein »blutmäßig bedingter Zug«. Allerdings, so Günther weiter, zeige sich das »Mauscheln« bei vielen westeuropäischen Juden kaum noch, »bei manchen hat es sich ganz verloren«.

Vgl. Der Mauscheljude, Zitate S. 3, 9; Marr, Ratten, Zitate S. 21 (Herv. i. Orig.); Grimm, Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1820; Günther, Ritter (1920), S. 155; Günther, Rassenkunde (1923), Zitat S. 443; Daxelmüller, Mauscheln; Althaus, Mauscheln, S. 29; Kap. I/10, Anm. 46; Kap. II/2, Anm. 18.

164 Die jüdische Emanzipation begann mit der Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) des preußischen Beamten Christian von Dohm und den Toleranzedikten (1782) Josephs II. Erst mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 erhielten die Juden in ganz Deutschland dann die vollen bürgerlichen Rechte. Zu einem Höhe- und Wendepunkt auf dem Weg zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden wurde die Revolution von 1848/49 und die aus ihr hervorgegangenen Gleichstellungsgesetze, auch wenn diese nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung fast überall wieder rückgängig gemacht wurden. In der Folgezeit versuchten die deutschen Juden verstärkt, diesen gesellschaftlichen Rückschritt durch wirtschaftlichen Erfolg zu kompensieren – 1856 postulierte beispielsweise die Allgemeine Zeitung des Judenthums, dass »[auf] dem Grund und Boden der Industrie jetzt der Weg zur Emanzipation« läge. Dadurch verstärkten sich allerdings auch die antisemitischen Ressentiments: Wirtschaftlicher Liberalismus und antijüdische Vorbehalte verbanden sich fortan immer mehr; und das Schlagwort »Judenfrage«, zu Beginn sowohl von Gegnern als auch von Befürwortern der Emanzipation gebraucht, entwickelte sich allmählich zu einem Kampfbegriff antijüdischer Propaganda.

Vgl. Allgemeine Zeitung des Judenthums vom 21. 1. 1856, »Die Stellung und Zukunft der Juden« (Zitat); Barkai, Minderheit, S. 4 f., 36; Volkov, Juden, S. 28; Brenner, Revolution, S. 298 – 302; Wyrwa, Emanzipation; Aly, Deutschen, S. 94; Kap. I/3, Anm. 51; Kap. II/7, Anm. 74.

165 Entsprechende Behauptungen finden sich bereits in älteren antisemitischen Schriften. In seinem Buch Vom Ghetto zur Macht (1921) behauptete der alldeutsche Historiker Otto Bonhard, bereits der Wiener Kongress (1814/15) habe »zum ersten Male die ungeheuren Fortschritte der jüdischen Geldmacht auf dem Wege zur Weltbeherrschung in dem eben beendeten Menschenalter der ununterbrochenen Kriege in Europa enthüllt«; seit dem Kongress sei die »Macht des Mammons« in Gestalt des jüdischen Bankhauses Rothschild »in unverhüllter Nacktheit« an ihre Stelle getreten. Auch Alfred Rosenberg kritisierte die liberale Judengesetzgebung im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts, namentlich das preußische »Judenedikt« von 1812, durch das die in Preußen lebenden Juden weitgehend die staatsbürgerliche Gleichstellung erlangten. Seither, so Rosenberg 1932, sei das deutsche Volkstum »durch die in die geistig und politisch ›führenden‹ Stellen eingedrungenen Juden zersetzt worden«.

In Wirklichkeit blieben den jüdischen Staatsbürgern auch nach dem Edikt von 1812 Karrieren im preußischen Staatsdienst, einschließlich des Offizierkorps, verwehrt. Dennoch war das Emanzipationsedikt ein Markstein der deutsch-jüdischen Geschichte und wurde von den preußischen Juden dankbar aufgenommen. Staatskanzler Karl August Freiherr von Hardenberg trat auch auf dem Wiener Kongress 1814/15 für die Judenemanzipation ein. In Artikel 16 der Deutschen Bundesakte (1815) wurden den Juden die bis dahin eingeräumten Rechte dann auch theoretisch garantiert. Hardenberg gelang es aber weder, die staatsrechtliche Gleichstellung der Juden für den gesamten Deutschen Bund durchzusetzen, noch hielten sich alle deutschen Städte und Staaten an die Abmachung, den Juden weiterhin die Rechte zu gewähren, die ihnen in der Zeit der napoleonischen Herrschaft zugestanden worden waren. So kehrten Frankfurt am Main, Hamburg, Bremen, Lübeck und Hannover zur früheren, diskriminierenden Rechtspraxis gegenüber den Juden zurück.

Vgl. Meister, Schuldbuch (^3/41919), S. 42; Kernholt, Ghetto, Zitate S. 83; Rosenberg, Wesensgefüge, Zitat S. 16; Rohlfes, Judenemanzipation, bes.S. 334, 336; Kirchhoff, Einfluss, S. 125 – 130; Heitmann, Anbruch.

bleibt.160 Seine Charaktereigenschaften sind dieselben geblieben, mochte er vor zweitausend Jahren als Getreidehändler in Ostia161 römisch sprechen oder mag er als Mehlschieber von heute deutsch mauscheln.162 Es ist immer der gleiche Jude. Daß diese Selbstverständlichkeit natürlich# 1930: gestrichen: natürlich von einem normalen heutigen Ministerialrat oder höheren Polizeibeamten nicht begriffen wird, ist freilich auch selbstverständlich, läuft doch etwas Instinkt- und Geistloseres schwerlich herum als diese »Diener«# 1926: »Diener« ersetzt durch: Diener unserer vorbildlichen »Staatsautorität«# 1926: »Staatsautorität« ersetzt durch: Staatsautorität der »Jetztzeit«# 1926: »Jetztzeit« ersetzt durch: Gegenwart .

Der Grund, warum sich der Jude entschließt, nun# 1926: gestrichen: nun auf einmal zum »Deutschen« zu werden, liegt auf der Hand. Er fühlt, wie die Macht der Fürsten langsam ins Wanken gerät und sucht deshalb frühzeitig eine Plattform unter seine Füße zu bekommen. Weiter aber ist seine geldliche Beherrschung der gesamten Wirtschaft schon soweit# 1926: soweit ersetzt durch: so weit;
1930: so fortgeschritten, daß er ohne den Besitz aller »staatsbürgerlichen« Rechte das ganze# 1933: ganze ersetzt durch: ganz;
1944: ganze ungeheure Gebäude nicht mehr länger zu stützen vermag, auf alle Fälle jedoch kann# 1930: gestrichen: jedoch kann keine weitere Steigerung seines Einflusses mehr stattfinden# 1930: eingefügt: kann . Beides aber wünscht er; denn je höher er klimmt, um so lockender steigt aus dem Schleier der Vergangenheit sein altes, ihm einst verheißenes Ziel heraus, und mit fiebernder Gier sieht er# 1930: sieht er ersetzt durch: sehen seine hellsten Köpfe den Traum der Weltherrschaft163 in seinen hellsten Köpfen# 1930: gestrichen: in seinen hellsten Köpfen schon wieder in faßbare Nähe treten# 1930: treten ersetzt durch: rücken . So ist nun# 1926: gestrichen: nun sein einziges Streben darauf gerichtet, sich in den Vollbesitz der »staatsbürgerlichen« Rechte zu setzen.164

Dies ist der Grund der Emanzipation aus dem Ghetto# 1944: Ghetto ersetzt durch: Getto .165

So# 1926: So ersetzt durch: i) So entwickelt sich aus dem Hofjuden166 nun# 1926: gestrichen: nun langsam der Volksjude, das heißt natürlich: der Jude bleibt nach wie vor in der Umgebung der hohen Herren, ja er sucht sich eher noch mehr in diesen# 1930: diesen ersetzt durch: deren Kreis hineinzuschieben; allein zu gleicher Zeit biedert sich ein anderer Teil seiner Rasse an das »liebe Volk«# 1926: »liebe Volk« ersetzt durch: liebe Volk an. Wenn man nun# 1926: gestrichen: nun bedenkt, wie sehr er an der Masse im Laufe der Jahrhunderte gesündigt hatte, wie er sie immer von neuem unbarmherzig auspreßte und aussog, wenn man weiter bedenkt, wie ihn das Volk dafür auch# 1926: gestrichen: auch allmählich hassen lernte und am Ende in seinem Dasein wirklich nur mehr eine Strafe des Himmels für die anderen Völker erblickte, so kann man