Jüdische Dialektik <span class="pagenumber">[63]</span>

212 Schon die Christlichsoziale Partei hatte in Wien Sozialdemokratie und Judentum gleichgesetzt; daran knüpft Hitler hier an. Die Sozialdemokratie, die den Ruf als »Judenschutztruppe« fürchtete, rang sich indes nur zu einer halbherzigen Verurteilung des militanten politischen Antisemitismus durch. Vorurteile gegen Juden waren auch in der Arbeiterschaft präsent, ebenso der Wunsch, den Einfluss der Juden innerhalb der SDAP zu begrenzen, selbst wenn dies keinen Niederschlag in den Parteiprogrammen fand. Da eine ganze Reihe Wiener Juden als Bankiers, Unternehmer und Kaufleute eine große Rolle spielten, wurde dies zu einem weiteren Konfliktfeld zwischen SDAP und Judentum. Die sozial deklassierten jüdischen Immigranten aus allen Teilen des Habsburgerreichs waren nur selten Fabrikarbeiter und gehörten damit meist nicht zum klassischen Wählermilieu. Meist waren die zugezogenen Juden als Hausierer tätig, wohnten hauptsächlich in anderen Stadtvierteln als den proletarischen und waren durch eine kulturelle Kluft von den Nichtjuden getrennt. Die Entstehung des Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts war ein weiterer Grund für eine Distanzierung der österreichischen Sozialdemokratie von den Juden.

Vgl. Beller, Schicht; Wistrich, Sozialdemokratie; Kap. I/5, Anm. 70.

213 Der abwertende und zugleich warnende Hinweis auf ein besonderes dialektisches Geschick der Juden findet sich in zeitgenössischen völkischen Texten häufig. Hintergrund war das in der jüdischen Religion zentrale, diskursive und argumentative Element: Die Überlieferung des Talmuds wird durch Diskussion unterschiedlicher rabbinischer Lehrmeinungen stetig weiterentwickelt. Antisemitische Autoren führten hingegen ganze Institutionen wie Parlamente und Parteien auf die »Dialektik« und »rednerische Gewandtheit« der Juden zurück. Die »Ueberredungs-Kunst« ebenso wie »die Kunst der Verstellung«, so Theodor Fritsch in seinem Handbuch der Judenfrage, sei im Judentum »durch Vererbung zu hoher Meisterschaft entwickelt« worden. Insbesondere in Parlamenten, vor Gericht und in der Tagespresse gelinge es den Juden, das »naive Volk mit einem Phrasenschwall zu berauschen«.

Obgleich Hitlers Äußerungen zur »jüdischen Dialektik« also keineswegs originell waren, erhob sie Carl Schmitt am 3. 10. 1936 zu einem der »Leitsätze« einer Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbunds, die dem Thema »Das Judentum in der Rechtswissenschaft« gewidmet war. In seiner Eröffnungsansprache betonte Schmitt: »Hier [in Mein Kampf] ist in klarster Erkenntnis jüdischer Art und jüdischer Kunstgriffe alles gesagt, was wir mit unseren Ausführungen im einzelnen darlegen und veranschaulichen wollen. Was der Führer über jüdische Dialektik gesagt hat, müssen wir uns selbst und unseren Studenten immer wieder einprägen, um der großen Gefahr immer neuer Tarnungen und Zerredungen zu entgehen.«

Vgl. Fritsch (Hrsg.), Handbuch, Zitate S. 525 f.; Eckart, Herr, S. 588 f.; Armin, Juden (1919), S. 47; Deutschlands Erneuerung 6 (1922), S. 146; Schmitt, Eröffnung, Zitat S. 14; Kap. I/11, Anm. 160.

214 In der völkisch-nationalistischen Literatur wurde häufig auf die Metaphorik des Sumpf- und Schleimigen zurückgegriffen. Schlagworte wie »roter Sumpf« oder Sumpf der »Rassenvermischung« suggerierten nicht nur die Gefahr des Versinkens, sondern auch eine Verflüssigung der Verhältnisse, die eine Auflösung alles Harten, Greifbaren zur Folge habe. Mit der gleichen Absicht wurden Begriffe wie »Schleim« und »Brei« verwendet – Ausdrücke, die zugleich Ekelgefühle hervorrufen sollten. Der Journalist Friedrich Wilhelm Heinz, führendes Mitglied der Organisation Consul, aber später Gegner des Nationalsozialismus, schrieb 1933 in seinem Buch Die Nation greift an: »Unter der ›sozialistischen‹ Fahne der Revolte […] ergoß sich der pazifistische und perverse Schleim verkommener Literaten über das Land, wurden alle Güter der deutschen Kultur und alle Werte der deutschen Seele geschändet und entweiht, wurde alles Gesunde und Verwurzelte in den Schmutz gezerrt.«

Vgl. Heinz, Nation, Zitat S. 105; Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1, S. 405 – 410. 

215 Auch hierbei handelt es sich um ein altes antisemitisches Stereotyp. 1543 veröffentlichte Martin Luther die Schrift Von den Jüden und ihren Lügen, in der er die Juden unter anderem als »Teufel« diffamierte. Aus Luthers Pamphlet zitierte unter anderem Theodor Fritsch ausführlich. Hitler und auch sein Mentor Dietrich Eckart verwendeten zudem mit Vorliebe ein Diktum aus Arthur Schopenhauers Schrift Parerga und Paralipomena (1851), in der »die Juden« als »große Meister im Lügen« bezeichnet werden. Da Hitler bei der vorliegenden Passage keinerlei näheren Angaben zur Person seines Gesprächspartners oder auch nur zu den Umständen des angeblichen Gesprächs macht, dürfte es sich bei den geschilderten »Begebenheiten« ebenfalls um ideologisch motivierte Fantasieprodukte handeln.

Vgl. Luther, Werke, Bd. 32, Zitat S. 242; Fritsch (Hrsg.), Handbuch, S. 46 – 50; Kap. I/11, Anm. 110, 221; Kap. II/15, Anm. 113.

Die große Masse war zu retten, wenn auch nur nach schwersten Opfern an Zeit und Geduld.

Niemals aber war ein Jude von seiner Anschauung zu befreien.

Ich war damals noch kindlich genug, ihnen den Wahnsinn ihrer Lehre klarmachen# 1939: klarmachen ersetzt durch: klar machen;
1944: klarmachen zu wollen, redete mir in meinem kleinen Kreise die Zunge wund und die Kehle heiser und vermeinte, es müßte mir gelingen, sie von der Verderblichkeit ihres marxistischen Irrsinns zu überzeugen; allein dann erreichte ich erst recht nur das Gegenteil. Es schien, als ob die steigende Einsicht von der vernichtenden Wirkung sozialdemokratischer Theorien und ihrer Erfüllung nur zur Verstärkung ihrer Entschlossenheit dienen würde.212

Je mehr ich dann so# 1944: gestrichen: so mit ihnen stritt, um so mehr lernte ich ihre Dialektik213 kennen. Erst rechneten sie mit der Dummheit ihres Gegners, um dann, wenn sich ein Ausweg nicht mehr fand, sich selber einfach dumm zu stellen. Nützte alles nichts# 1933: nichts ersetzt durch: nicht;
1939: nichts , so verstanden sie nicht recht oder sprangen, gestellt, augenblicklich auf ein anderes Gebiet über, brachten nun Selbstverständlichkeiten, deren Annahme sie aber sofort wieder auf wesentlich andere Stoffe bezogen, um nun, wieder angefaßt, auszuweichen und nichts Genaues zu wissen. Wo immer man so einen Apostel angriff, umschloß die Hand qualligen Schleim214; das quoll einem geteilt durch die Finger, um sich im nächsten Moment schon wieder zusammenzuschließen. Schlug man aber nun# 1926: gestrichen: nun einen wirklich so vernichtend, daß er, von der Umgebung beobachtet, nicht mehr anders als zustimmen konnte, und glaubte man, so wenigstens einen Schritt vorwärtsgekommen zu sein, so war aber# 1926: gestrichen: aber das Erstaunen am nächsten Tag groß. Der Jude wußte nun von gestern nicht mehr das geringste, erzählte seinen alten Unfug wieder weiter, als ob überhaupt nichts vorgefallen wäre, und tat, empört zur Rede gestellt, erstaunt, konnte sich rein an gar# 1930: rein an gar ersetzt durch: an rein gar nichts erinnern, außer an die doch schon am Vortage bewiesene Richtigkeit seiner Behauptungen.

Ich stand manches Mal starr da.

Man wußte nicht, was man mehr bestaunen sollte: ihre Zungenfertigkeit oder ihre Kunst der Lüge.215

Ich begann sie allmählich zu hassen.