Der Politiker <span class="pagenumber">[68]</span>

5 Das Attribut »frech« und die Formulierung »Kunst der Lüge« verraten, dass Hitler mit seiner Polemik gegen »die« Politiker in erster Linie auf Juden zielte. In antisemitischer Perspektive galten Eigenschaften wie »frech«, »aufdringlich«, »schamlos« oder »verlogen« als typisch jüdische Attribute. Da sich solch abstruse Unterstellungen natürlich nicht empirisch belegen ließen, beriefen sich viele antisemitische Propagandisten immer wieder auf einzelne »Kernsätze« literarischer oder philosophischer Klassiker, die – oft völlig aus dem Kontext gerissen – dann als Begründung für ihre Weltanschauung herhalten mussten. In diesem Fall handelt es sich um einen Verweis auf Arthur Schopenhauer, dessen Behauptung, die Juden seien »große Meister im Lügen«, von rechtsradikalen Kreisen häufig aufgegriffen wurde. Hitler hielt Schopenhauer für einen der »größten Denker«; er behauptete sogar, im Krieg habe er »fünf Bände« des Philosophen »im Tornister« mit sich »herumgeschleppt«. Sicher ist, dass Hitler Maria Groeners Broschüre Schopenhauer und die Juden (1920) kannte. Noch wichtiger für die Vermittlung dürfte indes Hitlers Mentor Dietrich Eckart gewesen sein, der selbst Mitglied der Neuen Deutschen Schopenhauer-Gesellschaft war.

Vgl. Hitler, Monologe, Zitat S. 411; Fritsch (Hrsg.), Handbuch, S. 525; Hansert, Schopenhauer, S. 92 – 103, Zitate S. 94 f., 97; Kap. I/10, Anm. 11; Kap. I/11, Anm. 110.

6 Trotz derartiger »Einsichten« wurde der Reichstag auch im Dritten Reich nicht aufgelöst, obwohl er in der nationalsozialistischen Diktatur jede Funktion verlor und zu einem reinen Akklamationsorgan degenerierte. Der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit war so eklatant, dass ein Abgeordneter 1941 selbstkritisch über sich und seine Kollegen meinte, sie hätten sich nach einer Ansprache Hitlers »durch mehr oder minder gutes Singen der Nationalhymne für etliche Monate« ihre »Diäten verdient«; deshalb firmierte der braun bzw. schwarz uniformierte Reichstag im Volksmund mitunter auch als »höchstbezahlte[r] Männergesangsverein der Welt«. Faktisch entwickelte er sich zu einer reinen Versorgungsanstalt für »verdiente« Parteigenossen; immerhin war der Reichstag in der NS-Zeit deutlich größer als alle Reichstage der Weimarer Republik – die Zahl der Abgeordneten erreichte 1941 mit 876 ihren Höchststand. Zwischen dem 4. 5. 1924 und dem 8. 5. 1945 waren insgesamt 1.295 Völkische und Nationalsozialisten – übrigens alles Männer – Mitglieder des Reichstags.

Vgl. Broucek (Hrsg.), General, Bd. 3, Zitat S. 104; Hubert, Reichstag; Döring, Arm, S. 374 – 456; Lilla, Statisten, Zitat S. 7*; Kap. II/4, Anm. 36.

für seine politischen Offenbarungen ernstlich einzutreten (man stirbt nicht für etwas, an das man selbst# 1930: selbst ersetzt durch: selber nicht glaubt), werden die Anforderungen an seine Anhänger jedoch in eben diesem Verhältnis immer größer und unverschämter, bis er endlich den letzten Rest des Führers opfert, um beim »Politiker« zu landen; das heißt bei jener Sorte von Menschen, deren einzige wirkliche Gesinnung die Gesinnungslosigkeit ist, gepaart mit frecher Aufdringlichkeit und einer oft schamlos entwickelten Kunst der Lüge.5

Kommt so ein Bursche dann zum Unglück der anständigen Menschheit auch noch in ein Parlament, so soll man aber auch# 1926: gestrichen: aber auch schon von Anfang an wissen, daß das Wesen der Politik für ihn nur noch im heroischen Kampf um den dauernden Besitz dieser Milchflasche seines Lebens und seiner Familie besteht. Je mehr dann Weib und Kind an ihr hängen, um so zäher wird er für sein Mandat streiten. Jeder sonstige Mensch mit politischen Instinkten ist damit allein schon sein persönlicher Feind; in jeder neuen Bewegung wittert er den möglichen Beginn seines Endes und in jedem größeren Manne die wahrscheinlich von diesem noch einmal drohende Gefahr.6

Ich werde auf diese Sorte von Parlamentswanzen7 noch gründlich zu sprechen kommen.

Auch der Dreißigjährige wird im Laufe seines Lebens noch vieles# 1944: vieles ersetzt durch: viel zu lernen haben, allein es wird dies nur eine Ergänzung und Ausfüllung des Rahmens sein, den die grundsätzlich angenommene Weltanschauung ihm vorlegt. Sein Lernen wird kein prinzipielles Umlernen mehr sein, sondern ein Hinzulernen, und seine Anhänger werden nicht das beklommene Gefühl hinunterwürgen müssen, von ihm bisher falsch unterrichtet worden zu sein, sondern im Gegenteil: das ersichtliche organische Wachsen des Führers wird ihnen Befriedigung gewähren, da sein Lernen ja nur die Vertiefung ihrer eigenen Lehre bedeutet. Dies aber ist in ihren Augen ein Beweis für die Richtigkeit ihrer bisherigen Anschauungen.

Ein Führer, der die Plattform seiner allgemeinen Weltanschauung an sich, weil als falsch erkannt, verlassen muß, handelt nur dann mit Anstand, wenn er in der Erkenntnis seiner bisherigen