Beratende Kammern – verantwortliche Führer <span class="pagenumber">[89]</span>

36 Diese Würdigung des Parlamentarismus widerspricht den sonstigen Äußerungen Hitlers – im Kapitel Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit und Sonstiges (I/3) werden Parlamentarier etwa pauschal als »Nichtskönner und Schwätzer« diffamiert. Die Deutung des Parlaments als Instrument politischer Auslese war im politischen Denken liberaler Intellektueller verankert. Prominent vertreten wurde diese These etwa von Max Weber und Hugo Preuß, während konservative und nationalistische Staatsrechtslehrer sie kritisierten. 1926 merkte Carl Schmitt in der zweiten Auflage seiner Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus an: Ob dem »Parlament tatsächlich die Fähigkeit« zu eigen sei, »die besten und Tüchtigsten zur politischen Führerschaft gelangen zu lassen« und den »politischen Dilettantismus zu beseitigen«, sei »sehr zweifelhaft« geworden. »Heute«, so Schmitt, werde man »wohl nicht mehr so hoffnungsvoll über dieses Auslese-Instrument denken«. Völkische Agitatoren formulierten noch schärfer und behaupteten, in der Demokratie herrschten allein »bornierte, schwache und gewöhnliche Köpfe«.

Ähnliche Argumente finden sich auch in Schriften der radikalen Linken. Leonard Nelson, später Gründer des Internationalen sozialistischen Kampfbunds, betonte 1919 in dem Vortrag Demokratie und Führerschaft: »Die Demokratie ist nicht die große Arena, aus der der Tüchtigste als Sieger hervorgeht. Sie ist die Narrenbühne, auf der der pfiffigste und bestbezahlte Schwätzer dem vornehmen […] Charakter den Rang abläuft«. Folgen hatte Hitlers Deutung in der politischen Praxis nach 1933 indes keine. Die durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. 3. 1933 entmachteten Reichstagsabgeordneten wurden im Dritten Reich zu »Statisten in Uniform«. Im Volksmund geriet der Reichstag gar in den Ruf, der »bestbezahlte Gesangsverein Deutschlands« zu sein, denn – so Erich Wenderoth in seinen Memoiren – er »tagte zwei- oder dreimal im Jahr, sagte ohne Diskussion ›ja‹ und sang dann die erste Strophe der Nationalhymne und des Horst-Wessel-Liedes«.

Vgl. Semi-Imperator, Zitat S. 17; Preuß, Schriften, Bd. 1, S. 516 f.; Weber, Gesamtausgabe, Bd. I/15, S. 486 – 507; Nelson, Demokratie, Zitat S. 21; Schmitt, Lage, Zitat S. 8; Wenderoth, Jahren, Zitat S. 171; Lilla (Hrsg.), Statisten; Döring, Arm, S. 25 – 36; Mergel, Kultur, S. 367 – 374; Kap. I/3, Anm. 6, Zitat S. 83.

37 Die Formulierung »gewählte[r] Führer« blieb interessanterweise während der gesamten Publikationsgeschichte von Mein Kampf unverändert, obgleich sie in Widerspruch zur Praxis des »Führerprinzips« stand, das die Besetzung politischer Ämter durch den jeweils nächsthöheren »Führer« vorsah, keineswegs jedoch durch ein Wahlverfahren. Offenbar wurde die Formulierung bei späteren Überarbeitungen von Mein Kampf übersehen. Im Gegensatz dazu war eine ausführlichere Textpassage im Kapitel Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (I/12), die ursprünglich von der Wahl politisch »verantwortliche[r] Leiter« handelte, im Vorfeld der 1930 erschienenen Volksausgabe von Mein Kampf vollständig getilgt und durch die Formel ersetzt worden, dass sämtliche »Führer von oben eingesetzt« werden müssten.

Vgl. Kap. I/12, S. 364 f. sowie die dortige Kommentierung.

39 Das Konzept eines »Senats« als Beratungsgremium und Entscheidungsinstanz taucht in den Schriften Hitlers hier erstmals auf. Schon während seiner Landsberger Festungshaft hatte er jedoch gegenüber Rudolf Heß Überlegungen zu einem künftigen »Staatsaufbau« angestellt und dabei von einem »Senat« gesprochen, der »zusammen mit dem Staatsoberhaupt Gesetze« erlassen solle. Eine ähnliche Überlegung findet sich, bezogen auf die innere Organisation der NSDAP, auch in Hitlers Denkschrift über die inneren Gründe für die Verfügungen zur Herstellung einer erhöhten Schlagkraft der Bewegung vom 20. 12. 1932, in der es heißt: »Um eine engste Zusammenarbeit der Dienststellen der Parteileitung zu ermöglichen, soll aus ihren Amtsleitern und den für die einheitliche politische Führung der Partei verantwortlichen Männern ein engerer Rat entstehen, der unter meinem Vorsitz den kleinen Senat der Bewegung bildet.« Bereits Anfang 1931 war im Braunen Haus, der Münchner Parteizentrale der NSDAP, ein »Senatssaal« eingerichtet worden, der in der politischen Praxis jedoch ohne jede Bedeutung blieb: Für Hitler war es undenkbar, die Mitsprache oder gar Mitentscheidung eines obersten Parteigremiums neben sich zu dulden. Ein solches Konzept widersprach dem »Führerprinzip«, das für die innere Organisation der NSDAP stets ausschlaggebend blieb.

Vgl. Heß, Briefe, Zitat S. 327; Hitler, Reden, Bd. V/2, Dok. 106, Zitat S. 295 (Herv. i. Orig.); Calic (Hrsg.), Maske, S. 18 f.; Rebentisch, Führerstaat, S. 421 f.; Anm. 35 in diesem Kapitel.

nur ein Träger besitzen und mithin auch nur dieser allein die Autorität und das Recht des Befehls.

Die Parlamente an sich sind notwendig, weil ja vor allem in ihnen die Köpfe die Möglichkeit haben, sich langsam emporzuheben, denen man später besondere verantwortliche Aufgaben überweisen kann.36

Damit ergibt sich folgendes Bild:

Der völkische Staat hat, angefangen bei der Gemeinde bis hinauf zur Leitung des Reiches, keinen Vertretungskörper, der etwas durch Majorität beschließt, sondern nur Beratungskörper, die dem jeweilig gewählten Führer37 zur Seite stehen und von ihm in die Arbeit eingeteilt werden, um nach Bedarf selber auf gewissen Gebieten wieder unbedingte Verantwortung zu übernehmen, genau so wie sie im größeren der Führer oder Vorsitzende der jeweiligen Korporation selbst besitzt.

Der völkische Staat duldet grundsätzlich nicht, daß über Belange besonderer, zum Beispiel wirtschaftlicher Art, Menschen um Rat oder Urteil befragt werden, die auf Grund ihrer Erziehung und Tätigkeit nichts von der Sache verstehen können. Er gliedert deshalb seine Vertretungskörper von vornherein in politische und berufliche ständische#1937: ständische ersetzt durch: ständige;
1939: ständische Kammern.38

Um ein ersprießliches Zusammenwirken beider zu gewährleisten, steht über ihnen als Auslese stets ein besonderer Senat.39

In keiner Kammer und in keinem Senate#1937: Senate ersetzt durch: Senat;
1939: Senate findet jemals eine Abstimmung statt. Sie sind Arbeitseinrichtungen und keine Abstimmungsmaschinen. Das einzelne Mitglied hat beratende Stimme, aber niemals beschließende. Diese kommt ausschließlich nur dem jeweils dafür#1939: gestrichen: dafür verantwortlichen Vorsitzenden zu.

Dieser Grundsatz unbedingter Verbindung von absoluter Verantwortlichkeit mit absoluter Autorität wird allmählich eine Führerauslese heranzüchten, wie dies heute im Zeitalter des verantwortungslosen Parlamentarismus gar nicht denkbar ist.

Damit wird die staatliche Verfassung der Nation in Übereinstimmung gebracht mit jenem Gesetz, dem sie schon auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiete ihre Größe verdankt.