Die drei Klassen des Volkskörpers <span class="pagenumber">[165]</span>

16 Ähnliche Vorstellungen vertrat etwa der Münchner Psychiater Emil Kraepelin nach dem Ersten Weltkrieg. Gesellschaftliche Veränderungen könnten – so seine These – wie individuelle psychische Erkrankungen verlaufen: Da der Weltkrieg »auch die seelische Gesundheit des Volkes in Mitleidenschaft gezogen« habe, sei schließlich ein »Strom der Volksleidenschaften« entfesselt und erst so »Glück und Wohlstand des eigenen Landes« vernichtet worden. Die revolutionären Veränderungen der Jahre 1918/19 seien nichts anderes als eine Art Aufstand der Minderwertigen. Das Proletariat sei »eine Zusammenfassung derjenigen Volksgenossen, deren Vorfahren im Laufe der Jahrhunderte ein Aufsteigen nicht möglich war«. Zudem stünden – so Kraepelin unter Verweis auf die revolutionäre Linke – »an der Spitze von Massenbewegungen nicht selten Persönlichkeiten mit ausgeprägten hysterischen Zügen«. Die eigentlichen Träger solcher Bewegungen seien die »geistig unentwickelten Volksgenossen«. Die Volksherrschaft aber könne nur gelingen, wenn sie »zu einer Herrschaft der Besten« würde.

Vgl. Kraepelin, Randbemerkungen, Zitate S. 174, 175, 177, 181; Geyer, Welt, S. 98 – 103.

18 Die sozialdarwinistische Vorstellung vom Krieg als einem Prozess der Selektion begründete zwei Ideen, die sich eigentlich widersprachen: Entweder wurden seine Opfer oder aber seine Überlebenden als Auslese und damit als Elite betrachtet. Während des Ersten Weltkriegs wurden derartige Vorstellungen häufig propagiert, so etwa von dem Münchner Psychologen Oswald Külpe, der im Krieg eine »unbarmherzige, aber gerechte Auslese« sah. Der Leipziger Philosoph Ernst Bergmann vertrat die Ansicht, dass »der Menschheit der artveredelnde Wettstreit der Auslese, der natürliche Kampf […] nicht erspart bleiben kann«. Dabei begrenzten sich solche Erkenntnisse nicht nur auf ein intellektuelles Milieu, welches das kriegerische Geschehen nie oder nur von Ferne erlebte; auch Kriegsteilnehmer wie etwa Ernst Jünger deuteten den Tod auf dem Schlachtfeld als eine Art Vollendung. In seinem Buch Der Kampf als inneres Erlebnis schrieb er: »Anständig sterben, das können wir, dem drohenden Dunkel entgegenschreiten mit Kämpferkühnheit und wagender Lebenskraft. […] Mehr als überwindend sterben kann der Mensch nicht. Darum müssen ihn selbst die unsterblichen Götter beneiden.«

Vgl. Jünger, Kampf, Zitat S. 75; Hoeres, Krieg, Zitate S. 454, 554 f.; Salomon-Delatour, Schriften, S. 111 f.; Kap. I/10, Anm. 16.

Triebe und Laster. Zwischen beiden Extremen liegt als dritte Klasse die große, breite mittlere Schicht, in der sich weder strahlendes Heldentum noch gemeinste Verbrechergesinnung verkörpert.

Zeiten des Emporstiegs eines Volkskörpers zeichnen sich aus, ja existieren nur durch die absolute Führung des extrem-besten#1937: extrem-besten ersetzt durch: extrem besten;
1939: extrem-besten Teiles.

Zeiten einer normalen, gleichmäßigen Entwicklung oder eines stabilen Zustandes zeichnen sich aus und bestehen durch das ersichtliche Dominieren der Elemente der Mitte, wobei die beiden Extreme sich gegenseitig die Wage [sic!] halten beziehungsweise sich aufheben.

Zeiten des Zusammenbruchs eines Volkskörpers werden bestimmt durch das vorherrschende Wirken der schlechtesten Elemente.16

Bemerkenswert ist aber dabei, daß die breite Masse als die Klasse der Mitte, wie ich sie bezeichnen will, nur dann fühlbar in Erscheinung tritt, wenn die beiden Extreme selbst sich in gegenseitigem Ringen binden, daß sie aber im Falle des Sieges einer der Extreme sich stets dem Sieger willfährig unterordnet. Im Falle des Dominierens der Besten wird die breite Masse diesen folgen, im Falle des Emporkommens der Schlechtesten wird sie ihnen mindestens keinen Widerstand entgegensetzen; denn kämpfen wird die Masse der Mitte selber niemals.17

Der Krieg hat nun in seinem viereinhalbjährigen blutigen Geschehen das innere Gleichgewicht dieser drei Klassen insofern zerstört#1929: zerstört ersetzt durch: gestört, als man – bei Anerkennung aller Opfer der Mitte – dennoch feststellen muß, daß er zu einer fast vollständigen Ausblutung des Extrems des besten Menschentums führte.18 Denn was in diesen viereinhalb Jahren an unersetzlichem deutschen Heldenblut vergossen wurde, ist wirklich ungeheuer.19 Man summiere alle die Hunderttausende von Einzelfällen zusammen, in denen es immer wieder hieß: Freiwillige vor die Front, freiwillige Patrouillengänger, freiwillige Meldegänger, Freiwillige für Telephontrupps, Freiwillige für Brückenübergänge, Freiwil-