Desorganisation als Folge <span class="pagenumber">[168]</span>

39 Seit Dezember 1918 begann sich die bis dahin nahezu friedliche Revolution zu radikalisieren: Zu einem ersten Brennpunkt der Kämpfe entwickelte sich das Berliner Stadtschloss, in das sich die Volksmarinedivision einquartiert hatte. Ihr zunehmender Gegensatz zum Rat der Volksbeauftragten eskalierte am 23. 12., als sich die Division weigerte, das Schloss zu räumen, die Reichskanzlei besetzte und den Berliner Stadtkommandanten Otto Wels (SPD) als Geisel nahm. Als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten bat Ebert daraufhin das preußische Kriegsministerium um Hilfe. Bei den sich anschließenden Kämpfen starben 56 Angehörige der Regierungstruppen, elf Matrosen und einigen Zivilisten, ohne dass es der Regierungsseite gelang, die Matrosen zu vertreiben. Vielmehr musste sie in den folgenden Tagen deren Forderung nach der noch ausstehenden Löhnung und der Entlassung von Wels als Stadtkommandanten nachkommen. Diese Ereignisse verschärften die Spannungen zwischen SPD auf der einen sowie USPD und KPD auf der anderen Seite; am 28./29. 12. 1918 verließen die drei Vertreter der USPD den Rat der Volksbeauftragten. Auf die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn reagierte die radikale Linke am 5. 1. 1919 mit Massendemonstrationen, in deren Verlauf auch mehrere Berliner Verlagshäuser besetzt wurden. Nachdem Verhandlungen zwischen beiden Seiten gescheitert waren, gingen Regierungstruppen rücksichtslos gegen die Aufständischen vor. Diese hatten am Ende 156 Tote zu beklagen, darunter auch einige unbeteiligte Zivilisten, das Militär 13 Tote. Dabei verloren die Aufständischen auch die beiden führenden Köpfe der KPD, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die am 15. 1. 1919 von Angehörigen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ermordet wurden. Diese Morde sorgten für schwere Unruhen im gesamten Deutschen Reich, die sich vor allem auf die Städte konzentrierten und die erst im Mai/Juni 1919 mit der Zerschlagung der Münchner Räterepublik und dem Ende der Hamburger Sülze-Unruhen ihren Abschluss fanden.

Vgl. Winkler, Revolution, S. 97 – 190; Lange, Massenstreik; Bernstein, Revolution, S. 146 – 236; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 217, 397 – 408.

42 Tatsächlich standen Ebert zu Beginn der Weihnachtsunruhen des Jahres 1918 kaum erfahrene Truppen zur Verfügung. Von den Berliner Volkswehren waren damals lediglich 80 Mann bereit, für die Regierung zu kämpfen. Allerdings soll Ebert damals von sich aus auf die Unterstützung von 3.000 Soldaten verzichtet haben, die der Potsdamer Arbeiter- und Soldatenrat mobilisieren wollte – möglicherweise, um so den Einsatz regulärer Truppen zu rechtfertigen. Ein solcher Einsatz bereitete jedoch in den dramatischen Wochen nach Kriegsende sogar den militärischen Profis Probleme. So konnte Generalquartiermeister Wilhelm Groener, der Ebert vier Divisionen zugesichert hatte, lediglich 1.800 Mann gegen die Volksmarinedivision aufbieten; auch deshalb war es damals der Regierung nicht möglich, sich militärisch gegen die Matrosen durchzusetzen. Im Übrigen ignoriert Hitler die extrem heterogenen Strukturen und die nicht minder variierende weltanschauliche Verortung der zahlreichen Freikorps, Volkswehren, Milizen und Wehrverbände, die im Deutschen Reich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden waren – übrigens nicht selten auf Initiative der neuen Machthaber. Entsprechend unterschiedlich war auch die Haltung dieser Organisationen gegenüber der neuen Regierung, zu deren Schutz ursprünglich auch die Volksmarinedivision nach Berlin gekommen war.

Vgl. Kluge, Soldatenräte, S. 263; Winkler, Revolution, S. 97 – 133; Mühlhausen, Ebert, S. 143; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 217; Bergien, Republik, S. 91 – 107; Keller, Wehrmacht, S. 48 – 137; Anm. 45 in diesem Kapitel.

43 Für SPD und USPD war die Sozialisierung der Wirtschaft eine zentrale Forderung. Damit verband sich nicht nur die Hoffnung auf ein Ende innerbetrieblicher Willkür, sondern auch auf eine Demokratisierung durch eine entsprechende Betriebs- und Wirtschaftsverfassung. Nachdem der Rat der Volksbeauftragten am 4. 12. 1918 eine Sozialisierungskommission eingesetzt hatte, zeigte sich aber rasch, wie sehr die Interessen von USPD, SPD und den Gewerkschaften differierten. Die Versuche von Teilen der Arbeiterschaft, zwischen Januar und April 1919 mithilfe mehrerer Massenstreiks im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland die Sozialisierung der Betriebe durchzusetzen, verschärfte noch die Situation. Die geringen praktischen Erfahrungen der Linksparteien im Wirtschaftsmanagement, die akute materielle Notlage und die geringen Verteilungsspielräume, das negative sowjetrussische Beispiel und nicht zuletzt der starke Widerstand aus Politik und Industrie gegen jede Form einer Verstaatlichung der Wirtschaft sorgten jedoch dafür, dass diese während der gesamten Weimarer Republik nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurde und die Arbeit der beiden Kommissionen folgenlos blieb. Zwar wurden durch das Betriebsrätegesetz vom 4. 2. 1920 Vertreter der Arbeitnehmer in die Aufsichtsorgane großer Kapitalgesellschaften entsandt, ihre Mitwirkungsrechte blieben aber auf soziale Fragen beschränkt.

Vgl. Miller, Bürde, S. 141 ff.; Ullrich, Revolution, S. 82 – 88; Kap. II/4, Anm. 27.

44 Friedrich Ebert hatte als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten am 3. 12. 1918 vorgeschlagen, »neue militärische Organe auf demokratischer Grundlage zu schaffen«. Ihre Hauptaufgabe sei die »Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung«. Neun Tage später nahm der Rat der Volksbeauftragten das Gesetz zur Bildung einer freiwilligen Volkswehr einstimmig an, am 7. 1. 1919 verkündete er den Aufruf: »Freiwillige vor!« Allerdings sollte das Konzept einer Volkswehr, die direkt dem Rat der Volksbeauftragten unterstellt war, schon sehr bald am Widerstand der Armee, aber auch an dem der Siegermächte scheitern, die eine kleine, professionelle Truppe wollten. Am 6. 3. 1919 wurde daher das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr verabschiedet.

Vgl. RGBl. 1918, S. 1424; RGBl. 1919, S. 295 – 298; Ursachen und Folgen, Bd. 3, Dok. 741 – 782; Miller/ Potthoff, Regierung, Dok. 37, Zitat. S. 247; Kluge, Soldatenräte, S. 244 – 270; Winkler, Revolution, S. 68 – 72, 97 – 133; Schulze, Weimar, S. 105 – 118; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 216 – 218, 397 – 428.

gefaßt und auf einen anderen Boden gestellt zu werden. Die Republik mußte sich um jeden Preis konsolidieren.

So war sie fast augenblicklich gezwungen, neben der schwankenden Säule ihrer schwachen Popularität sich wieder eine Organisation der Gewalt zu schaffen, um auf ihr eine festere Autorität begründen zu können.

Als die Matadoren der Revolution in den Tagen des Dezembers, Januars, Februars#1939: Dezembers, Januars, Februars ersetzt durch: Dezember, Januar, Februar 1918/19#1944: 1918/19 ersetzt durch: 1918/1919 den Boden unter den Füßen wanken fühlten39, hielten sie Umschau nach Menschen, die bereit sein würden, die schwache Position, die ihnen die Liebe ihres Volkes bot, durch die Gewalt der Waffe zu stärken. Die »antimilitaristische« Republik40 brauchte Soldaten. Da aber die erste und einzige Stütze ihrer Staatsautorität – nämlich ihre Popularität – nur in einer Gesellschaft von Zuhältern, Dieben, Einbrechern, Deserteuren, Drückebergern usw. wurzelte41, also in jenem Teil des Volkes, den wir als das Extrem des Schlechten bezeichnen müssen, war alles Werben nach Menschen, die das eigene Leben im Dienste des neuen Ideals zu opfern bereit waren, in diesen Kreisen vergebliche Liebesmühe gewesen. Die tragende Schicht des revolutionären Gedankens und der Durchführung der Revolution war weder fähig noch bereit, die Soldaten zum Schutze derselben zu stellen.42 Denn diese Schicht wollte keineswegs die Organisation eines republikanischen Staatskörpers, sondern die Desorganisation des vorhandenen zur besseren Befriedigung ihrer Instinkte. Ihre Parole hieß nicht: Ordnung und Ausbau der deutschen Republik, als vielmehr: Ausplünderung derselben.43

So mußte der Schrei nach Hilfe, den die Volksbeauftragten damals in tausend Ängsten ausstießen44, in dieser Schicht ungehört verhallen, ja im Gegenteil Abwehr und Verbitterung auslösen. Denn man empfand in einem solchen Beginnen einen Bruch von Treu und Glauben, witterte man doch in der Bildung einer nicht mehr allein auf ihrer Popularität fußenden, sondern durch Macht gestützten Autorität den Beginn des Kampfes gegen das für diese Elemente