Ein Volk in zwei Hälften zerrissen <span class="pagenumber">[351]</span>

4 Hitlers Verweis auf die damaligen Wahlen ist paradox, belegen diese doch gerade eine entgegengesetzte Entwicklung. Die Wahlbeteiligung bei der Reichstagswahl am 4. 5. 1924 war mit 77,4 % sehr hoch, bei der Wahl am 7. 12. 1924 stieg sie noch auf 78,8 %. Bei der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung am 19. 1. 1919 hatte die Wahlbeteiligung sogar 83 % betragen, bei der Reichstagswahl vom 6. 6. 1920 dann 79,2 %. Hitler überzeichnet außerdem massiv den Erfolg der beiden »extremen« Linksparteien KPD und USPD, die am 4. 5. 1924 zusammen 13,4 % der Stimmen erhielten, am 7. 12. 1924 nur noch 9,3 %. Auch im ersten Durchgang der Reichspräsidentenwahl am 29. 3. 1925 erhielt der 1944 im KZ Buchenwald ermordete Kandidat der KPD, Ernst Thälmann, lediglich 7,0 % der Stimmen; den bei Weitem größten Zuspruch fand mit 38,8 % Karl Jarres, der von einem rechtsnationalen Bündnis unter Führung von DVP und DNVP unterstützt wurde. Die Wahlbeteiligung lag hier bei 68,9 % und steigerte sich entgegen Hitlers behaupteter Wahlmüdigkeit beim zweiten Wahlgang am 26. 4. 1925, aus dem dann Paul von Hindenburg als Sieger hervorging, nochmals deutlich auf 77,6 %. Der Stimmenanteil Ernst Thälmanns sank im zweiten Wahlgang auf 6,4 %.

Vgl. Falter/ Lindenberger/ Schumann, Wahlen, S. 41, 44, 46; Falter, Hindenburg; Büttner, Weimar, S. 802, 806.

7 Gemeint sind hier vor allem der Alldeutsche Verband (ADV) und die Deutsche Vaterlandspartei (DVLP). Der 1891 gegründete ADV teilte zahlreiche Vorstellungen der Völkischen, insbesondere ihren Rassismus und Antisemitismus, seine soziale Basis besaß er jedoch vor allem im Großbürgertum. Das in der rabiaten völkischen Agitation immer wieder attackierte kapitalistische Wirtschaftssystem befürwortete der Verband. Vorsitzender des ADV war seit 1908 Heinrich Claß, der 1912 unter dem Pseudonym Daniel Frymann die bekannte Schrift Wenn ich der Kaiser wärʼ verfasst hatte. Im Ersten Weltkrieg trat der Verband für einen kompromisslosen »Siegfrieden« mit weitreichenden Annexionen ein. Nach 1918 wurde Claß zu einem Mentor zahlreicher radikaler völkischer Gruppen. Auch Hitler und die NSDAP fanden zunächst Unterstützung durch den ADV. Hitlers Weigerung, sich seinem Netzwerk einzufügen, führte jedoch bereits 1921/22 zur Distanzierung.

In der Anfang September 1917 gegründeten DVLP formierten sich die Kräfte, die zum Sturz des in der radikalen Rechten verhassten Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg am 13. 7. 1917 beigetragen hatten. Auch war die Partei eine Reaktion auf die Friedensresolution des Reichstags vom 19. 7. 1917. Den Höhepunkt ihres Einflusses erreichte die DVLP im Frühjahr 1918. Mit der sich abzeichnenden militärischen Niederlage zerfiel sie jedoch rasch und löste sich im Dezember 1918 ganz auf. Ihre Nachfolgeorganisationen waren Gruppierungen, die den neuen Staat mehr oder weniger radikal ablehnten und meist monarchistisch gesinnt waren, ohne sich dabei jedoch – von Ausnahmen abgesehen – ernsthaft für die Restauration der Königs- und Fürstenhäuser einzusetzen. Die wichtigste war die DNVP.

Vgl. Hagenlücke, Vaterlandspartei, S. 143 – 164, 372 – 393; Hering, Nation, bes.S. 134 – 138, 187 – 219; Leicht, Semantiken; Breuer, Völkischen, S. 62 – 67; Leicht, Claß, S. 119 – 125, 151 – 164, 286 – 291; Leonhard, Büchse, bes.S. 738 – 743; Kap. I/10, Anm. 216.

8 Hitler zielt hier pauschal gegen die »Rechtspresse«, deren Gesamtauflage mit drei bis vier Millionen Exemplaren (1930) weit höher war als die der sozialdemokratischen Blätter. Den größten medialen Einfluss auf Seiten der Rechten besaß der Mitbegründer der DNVP, Alfred Hugenberg, dessen Medienkonzern auch über mehrere eigene Nachrichtendienste verfügte. Bedeutende Periodika in der rechtskonservativen bayerischen Presselandschaft waren die Münchner Neuesten Nachrichten, die München-Augsburger Abendzeitung und die Süddeutschen Monatshefte. Letztere agitierten seit 1919 besonders gegen die »Kriegsschuldlüge« und propagierten die Dolchstoßlegende. Hitlers abschätzige Bemerkung dürfte besonders gegen Paul Nikolaus Cossmann gerichtet gewesen sein, seit 1903 Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte und seit 1920 faktisch Verlagsleiter der Münchner Neuesten Nachrichten. Gerade die Münchner Neuesten Nachrichten wurden als angebliches »Spartakistenblatt« zur Zielscheibe nationalsozialistischer Polemik. Mit Cossmanns Kritik an Hitlers Ansichten zur »Südtirolfrage« sollten sich die Angriffe gegen Cossmann seit 1925 nochmals steigern – bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. »Zwischen dem halbarischen Vollbart der ›Münchener Neuesten Nachrichten‹ Herrn Coßmann und dem völkischen Schnurrbart des ›Beobachters‹ Herrn Hitler«, so spottete der Schriftsteller Peter Scher 1927 in der Berliner Zeitschrift Das Tagebuch, seien »blutige Kämpfe entbrannt«.

Vgl. Scher, Cossmann, Zitat S. 679; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 96, 105, 305; Wernecke/ Heller, Führer, bes.S. 88 – 93; Hoser, Hintergründe, S. 90, 132 – 168; Kraus, Kulturkonservativismus, S. 29 – 33; Flemming, Zersetzung, S. 175 – 179; Plöckinger, Hörer, S. 25 – 29; Ohnezeit, Opposition, bes.S. 83 – 87; Kap. I/10, Anm. 13; Kap. II/6, Anm. 60. Zu Hitlers Haltung in der »Südtirolfrage« vgl. Kap. II/13, Anm. 124.

10 Hitlers Darstellung verliert sich hier völlig im Vagen. Ob für ihn zur »breite[n] Masse der handarbeitenden Bevölkerung« nur die Arbeiterschaft oder auch Bauern und Handwerker gehören, ist nicht auszumachen. Gleiches gilt für die »mehr oder minder radikalmarxistischen Bewegungen«, mit denen er – bar jeder Differenzierung – SPD, USPD und den Spartakusbund bzw. die am 1. 1. 1919 aus diesem hervorgegangene KPD meinen dürfte. Schon zahlenmäßig sind Hitlers Auslassungen grotesk. Die SPD hatte im März 1918 einen Tiefstand von 250.000 Mitgliedern erreicht, erst 1919 konnte sie wieder annähernd zum Vorkriegsstand von rund einer Million aufschließen. Für USPD und Spartakusbund liegen für 1918 keine verlässlichen Zahlen vor. Allerdings erreichte die USPD erst im Herbst 1919 ihren Höchststand von rund 750.000 Mitgliedern. Die KPD brachte es 1919 nur auf knapp über 100.000 Mitglieder – eine Zahl, die sich fast halbierte, ehe die KPD Ende 1920 mit dem linken Flügel der USPD fusionierte. Es kann daher keine Rede davon sein, dass 1918 die »breite Masse der handarbeitenden Bevölkerung« in diesen Parteien zusammengefasst gewesen sei. Selbst die Gewerkschaften erreichten erst 1920 ihren Höchststand an Mitgliedern.

Vgl. Weber, Wandlung, Bd. 1, S. 362; Krause, USPD, S. 146; Winkler, Revolution, S. 243 – 282, bes.S. 243, 251, 266; Weber/ Herbst, Kommunisten, S. 14 f.; Kap. II/12, Anm. 3.

Unzufriedenheit dürfen ebenso gelten# 1926: gestrichen: gelten die Wahlmüden# 1926: eingefügt: gelten , wie aber# 1926: gestrichen: aber auch die vielen zum fanatischsten# 1944: fanatischsten ersetzt durch: fanatischen Extrem der linken Seite sich Neigenden.4

Und an diese sollte sich auch die junge Bewegung in erster Linie wenden. Sie soll nicht eine Organisation der Zufriedenen, Satten bilden, sondern sie soll die Leidgequälten und Friedlosen, die Unglücklichen und Unzufriedenen zusammenfassen5, und sie soll vor allem nicht auf der Oberfläche des Volkskörpers schwimmen, sondern im Grunde desselben wurzeln.6

Rein politisch genommen, ergab sich im Jahre 1918 folgendes Bild: Ein Volk ist in zwei Hälften# 1930: zwei Hälften ersetzt durch: zwei Teile zerrissen. Die# 1930: Die ersetzt durch: Der eine, weitaus kleinere, umfaßt die Schichten der nationalen Intelligenz unter Ausschluß aller körperlich Tätigen. Sie ist äußerlich national, vermag sich aber unter diesem Worte etwas anderes als eine sehr fade und schwächliche Vertretung sogenannter staatlicher Interessen, die wieder identisch erscheinen mit dynastischen, nicht vorzustellen.7 Sie versucht, ihre Gedanken und Ziele mit geistigen Waffen8 zu verfechten, die ebenso lückenhaft wie oberflächlich sind, der Brutalität des Gegners gegenüber aber an sich schon versagen. Mit einem einzigen furchtbaren Hieb wird diese kurz vorher noch regierende Klasse zu Boden gestreckt und erträgt nun# 1926: gestrichen: nun in zitternder Feigheit jede Demütigung von seiten des rücksichtslosen Siegers.9

Ihr steht als zweite Klasse gegenüber die breite Masse der handarbeitenden Bevölkerung. Sie ist in mehr oder minder radikal-marxistischen# 1930: radikal-marxistischen ersetzt durch: radikalmarxistischen Bewegungen zusammengefaßt, entschlossen, jeden geistigen Widerstand durch die Macht der Gewalt zu brechen. Sie will nicht national sein, sondern lehnt bewußt jede Förderung nationaler Interessen ebenso ab, wie sie umgekehrt jeder fremden Unterdrückung Vorschub leistet. Sie ist ziffernmäßig die stärkere, umfaßt aber vor allem diejenigen Elemente der Nation, ohne die eine nationale Wiedererhebung undenkbar und unmöglich ist.10

Denn darüber mußte man sich im Jahre 1918 doch schon klar sein. Jeder Wiederaufstieg des deutschen Volkes führt nur über die