Schwankende Taktik der Marxisten <span class="pagenumber">[128]</span>

30 Schon im Kapitel Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (I/12) behauptet Hitler fälschlicherweise, dass auf der »Gründungsversammlung« der NSDAP vom 24. 2. 1920 politische Gegner bekehrt worden seien. Kam es auf NSDAP-Versammlungen zu einzelnen zustimmenden Zwischenrufen politisch linksorientierter Teilnehmer, etwa wenn gegen »Kapital«, »Wucher« oder »Entente« agitiert wurde, missdeutete dies Hitler – und mit ihm andere nationalsozialistische Politiker – schon früh als Konversionen. Der Wunschglaube an die Unwiderstehlichkeit der eigenen Argumente gegenüber der politischen Linken wurde auch in Versammlungsberichten des Völkischen Beobachters verbreitet. Nach dem gescheiterten Putsch vom 8./9. 11. 1923 verklärte das parteieigene Blatt Hitler gar als einen Mann, der in der Frühzeit systematisch feindlich gesinnte Arbeiter zu Anhängern der NSDAP konvertiert habe. Diese Legende reproduziert Hitler in Mein Kampf als Teil seiner Selbstbeschreibung.

Vgl. StA München, Pol. Dir. 6698: Versammlungsberichte; BayHStA, Kriegsarchiv, RWGrKdo 4, 285: Bericht zur Versammlung am 6. 4. 1920; VB vom 15. 4. 1920, »Aus der Bewegung«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 139, Zitat S. 215; Plöckinger, Texte, S. 106; Kap. I/12, S. 391 f. sowie die dortige Kommentierung.

31 Belege dafür fehlen. Wenngleich die Münchener Post seit Mitte 1920 vermehrt kritisch über die NSDAP berichtete, setzte sich die SPD erst seit 1922 intensiver mit der »Gewaltpropaganda« und den von der NSDAP propagierten »terroristischen Gewaltmitteln« auseinander. Erhard Auer, Landesvorsitzender der bayerischen SPD und selbst wiederholt Ziel nationalsozialistischer Attacken, verurteilte am 21. 11. 1922 in einer Landtagsrede scharf und ausführlich die gewalttätigen Umtriebe der NSDAP. Hitlers Vorstellung, Mitglieder der SPD, USPD oder KPD hätten sich von ihren jeweiligen Parteiführungen beliebig dirigieren und lenken lassen, spiegelt freilich mehr Hitlers Idealbild einer »Führerpartei« wider als die politische Realität innerhalb der linken Parteien, die Hitler in Mein Kampf notorisch als einen einheitlichen Block missdeutet. In den bis Herbst 1920 erhaltenen Versammlungs- und Tagungsberichten linker Münchner Parteien, vor allem der USPD, spielte die NSDAP in Wirklichkeit keine Rolle.

Vgl. BayHStA, Kriegsarchiv, RWGrKdo 4, 238 – 241, 262 – 266, 417, 421, 426 – 460: USPD-, KPD- und SPD-Versammlungsberichte; Verhandlungen des Bayerischen Landtags, III. Tagung 1922/23, Bd. 7, bes.S. 184 – 192; Pyta, Hitler, S. 29 f.; Schmalzl, Auer, S. 453 – 456; Kap. II/1, Anm. 44; Anm. 126, 127 in diesem Kapitel.

32 Wie weit linke Gruppen zu dieser Zeit beabsichtigten, NSDAP-Versammlungen zu sprengen, lässt sich nicht nachweisen. Hitler behauptete dies jedenfalls schon früh. Bei einem Sprechabend am 9. 6. 1920 kündigte er an, dass die USPD plane, eine für den 11. 6. geplante Versammlung zu sprengen. Als »Beleg« verwies er dabei lediglich auf die Mitteilung eines namentlich nicht genannten NSDAP-Mitglieds. Später kam es allerdings sehr wohl zur Sprengung von NSDAP-Versammlungen, wenn auch kaum so häufig, wie die NSDAP selbst gegnerische Versammlungen zu sprengen versuchte. In einem Bericht vom 28. 3. 1923 verwies die Münchner Polizei auf planmäßige Störungen von NSDAP-Versammlungen durch die KPD, die dazu oft Anhänger aus anderen Orten herbeigeholt habe.

Vgl. StA München, Pol. Dir. 6708: Polizeibericht; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 107; Anm. 42 in diesem Kapitel.

34 Ein erster längerer, despektierlicher Kommentar der Münchener Post über die NSDAP erschien am 14. 5. 1920. Die NSDAP wurde darin zu einem »Parteigebilde« erklärt, das »noch in den Windeln« liege und »eine recht schwächliche Gesundheit« besitze. »Am Dienstag abend sprach ein Herr Hilter [sic!] über das Programm dieser ›Partei‹. Er verzapfte die gleichen Sprüche und warf mit den gleichen Schlagworten um sich, wie man sie in deutsch-völkischen Propagandaveranstaltun-gen schlucken muß.« Sechs Tage später kommentierte das Blatt eine am Vortag stattgefundene NSDAP-Versammlung im Münchner Hofbräuhaus mit den Worten, »studentische Claqueure«, »Hakenkreuzjünglinge« und »Münchener Bierdimpfl« seien dort anwesend gewesen, »nur keine Arbeiter«. Der Referent des Abends, Anton Drexler, habe mit noch »weniger Geschick als mancher Sprecher der Deutschvölkischen […] Judenhetze« betrieben. Davon, dass die NSDAP in der Münchener Post »jeden Tag irgendwie ›erwähnt‹« worden sei, kann indes keine Rede sein; in der großen Mehrzahl der Ausgaben der Jahre 1920/21 nahm man von ihr keine Notiz.

Vgl. Münchener Post vom 14. 5. 1920, »Gleiche Brüder, gleiche Kappen« (Herv. i. Orig.); vom 20. 5. 1920, »Die sogen. Nationalsozialistische Arbeiterpartei«; vom 10. 6. 1921, »Die blamierten Hakenkreuzler«; Anm. 128 in diesem Kapitel.

Pulverfaß, das jeden Augenblick in die Luft gehen konnte und an dem schon die brennende Lunte lag. Doch kam es immer anders#1933: anders ersetzt durch: anderes [sic!];
1937: anders. Die Menschen kamen herein als unsere Feinde und gingen hinaus, wenn schon nicht als unsere Anhänger, so doch als nachdenklich, ja kritisch gewordene Prüfer der Richtigkeit ihrer eigenen Lehre. Allmählich aber wurde es so, daß nach meinem dreistündigen Vortrag Anhänger und Gegner in eine einzige begeisterte Masse zusammenschmolzen.30 Da war dann jedes Signal zum Sprengen vergeblich. Und da bekamen es die Führer erst recht mit der Angst zu tun, und man wendete sich wieder denen zu, die gegen diese Taktik schon früher Stellung genommen hatten und die jetzt mit einem gewissen Schein von Recht auf ihre Ansicht hinwiesen, das allein Richtige sei es, dem Arbeiter grundsätzlich den Besuch unserer Versammlungen zu verbieten.31

Da kamen sie nicht mehr oder doch weniger. Allein schon nach kurzer Zeit begann das ganze Spiel erneut von vorne.

Das Verbot wurde doch nicht gehalten, die Genossen kamen immer mehr und endlich siegten wieder die Anhänger der radikalen Taktik. Wir sollten gesprengt werden.32

Wenn sich dann nach zwei, drei, oft auch acht und zehn Versammlungen herausstellte, daß das Sprengen leichter gesagt als getan war, und das Ergebnis jeder einzelnen Versammlung ein Abbröckeln der roten Kampftruppen bedeutete, dann kam plötzlich wieder die andere Parole: »Proletarier, Genossen und Genossinnen! Meidet die Versammlungen der nationalistischen#1933: nationalistischen ersetzt durch: nationalsozialistischen Hetzer!«

Die gleiche, ewig schwankende Taktik fand man übrigens auch in der roten Presse. Bald versuchte man uns totzuschweigen33, um sich dann von der Zwecklosigkeit dieses Versuchs zu überzeugen und wieder zum Gegenteil zu greifen. Wir wurden jeden Tag irgendwie »erwähnt«, und zwar meistens, um dem Arbeiter die unbedingte Lächerlichkeit unserer ganzen Existenz klarzumachen.34 Nach einiger Zeit mußten die Herren aber doch fühlen, daß uns das nicht nur nicht schadete, sondern im Gegenteil insofern nützte, als natürlich viele einzelne sich doch die Frage vorlegen mußten, warum man denn