Der Sieg der ersten großen Kundgebung <span class="pagenumber">[391]</span>

215 Hitlers Angabe lässt sich im Detail nicht überprüfen, ist aber vermutlich weit überzogen. Dass Vertreter der USPD anwesend waren, belegt ein Bericht, der zwei Tage später in der USPD-Zeitung Der Kampf erschien. Auch war eine Gruppe aus der Münchner Erwerbslosenbewegung erschienen, wie aus dem Polizeibericht und aus verschiedenen Zeitungsberichten hervorgeht. Die Zahl der politisch linksstehenden Teilnehmer war allerdings bei Weitem kleiner, als Hitler glauben machen wollte. Der Polizeibericht nennt etwa 100 Gegner. Auch Anton Drexler sprach in seinem Dankschreiben an Johannes Dingfelder hinsichtlich der Versammlungsteilnehmer nur von Parteimitgliedern und »sonstigen Zuhörern«.

Vgl. IfZ-Archiv, MA 743/1214: Dankschreiben Anton Drexlers vom 26. 2. 1920; Der Kampf vom 26. 2. 1920, »Ein gestohlenes ›Programm‹!«; Phelps, Hitler (1963), S. 296.

216 Gemeint ist der Hauptredner Johannes Dingfelder (1867 – 1945), der über die drei »Weltgesetze« Ordnung, Arbeit und Liebe dozierte. In den Berichten über die Versammlung stand sein Vortrag entsprechend im Vordergrund, nicht aber derjenige Hitlers. Im Wochenbericht der Polizeidirektion München heißt es: »Ebenso stürmisch verlief eine Versammlung der deutschen Arbeiterpartei, in der Dr. Dingfelder sehr sachlich und von tiefem religiösen Geist getragen über ›Was uns nottut [!]‹ vor mehr als 2.000 Personen sprach. Erst die Diskussion gestaltete sich zu einer ziemlichen Hetze gegen die Juden.« Der Vortrag wirkte mit seinem religiösen Pathos auf Teile des Publikums befremdlich. Zudem wurde Dingfelder vorgeworfen, das Wort »Jude« gemieden zu haben. Anton Drexler bedankte sich am 26. 2. 1920 hingegen bei Dingfelder; er habe »einer der wichtigsten Zeitfragen vor unseren Mitgliedern und den sonstigen Zuhörern sowohl der Oeffentlichkeit im Allgemeinen, wie aber auch vor allen Dingen unserer Partei im Besonderen einen wichtigen Dienst geleistet«. Dingfelder trat auch weiterhin als politischer Aktivist auf, wenn auch in Distanz zur NSDAP. Er engagierte sich beim Bayerischen Königsboten, der Zeitung der Bayerischen Königspartei. Auch das kann erklären, warum Hitler Dingfelder hier nicht namentlich nennt.

Dennoch scheint es später wieder zu einer Annäherung zwischen Hitler und Dingfelder gekommen zu sein, als Dingfelder 1924 für die Großdeutsche Zeitung – einem Nachfolgeorgan des Völkischen Beobachters – arbeitete. Bei Gedenkfeiern des Dritten Reichs war Dingfelder regelmäßig Ehrengast. Ob es sich bei Johannes Dingfelder um den in völkischen Kreisen 1919/20 einflussreichen Autor mit dem Pseudonym Germanus Agricola gehandelt hat, ist unklar. Erstmals wurde diese Vermutung in einem Artikel der Münchener Post vom 21. 11. 1924 angestellt, Belege hierfür gibt es jedoch keine. Inhaltlich verband beide ihre religiöse und monarchistische Einstellung. Auffällig ist auch, dass Dingfelder 1920 eine Aufsatzsammlung von Germanus Agricola mit dem Titel Geldwahn und Rettung herausgab. Doch existierten auch deutliche Unterschiede: Germanus Agricolas zentrale Forderung »Schafft billige Lebensmittel!« und seine stark ökonomisch ausgerichtete Agitation finden bei Dingfelder keine Entsprechung.

Vgl. BayHStA, Kriegsarchiv, RWGrKdo 4, 271: Polizeibericht vom 1. 3. 1920; IfZ-Archiv, MA 743/1214: Rede und Bericht Dingfelders und Dankschreiben Drexlers vom 26. 2. 1920; BA Berlin, NS 26/2507: Handschrift der Rede Dingfelders; Münchener Zeitung vom 25. 2. 1920, »Deutsche Arbeiterpartei«; Großdeutsche Zeitung vom 29. 1. 1924, »Geleitworte«; Münchener Post vom 21. 11. 1924, »Bayerische Volkspartei und völkische Bewegung«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 363; Agricola, Geldwahn, S. 82; Phelps, Hitler (1963), S. 292 – 296; Fenske, Konservativismus, S. 124; Deuerlein (Hrsg.), Aufstieg, S. 105 – 112; Geyer, Welt, S. 303, Anm. 94; Joachimsthaler, Weg, S. 268; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 190 f.; Plöckinger, Soldaten, S. 175 f.

217 Im detaillierten Polizeibericht steht nichts von solchen Zwischenfällen; vielmehr habe Hitler seinen Vortrag freundlich begonnen: Er »dankt den Gegnern, die zahlreich anwesend sind, für ihr ruhiges Verhalten und betont, daß ›wir Ihnen dann auch nicht in den Rücken fallen werden‹«. Auch im weiteren Verlauf der Versammlung verzeichnet der Bericht ausschließlich Zustimmung bis hin zu »stürmischen Beifall«. Erst als sich Hitler dem Parteiprogramm zuwandte, kam es offenbar zu Protesten: »Während der Verlesung des Programms kam es von der Gegenseite oft zu Zwischenrufen, denen ›Hinaus‹-Rufe folgten. Es herrschte oftmals ein großer Tumult, so daß ich oft glaubte, jeden Augenblick kommt es zu Schlägereien.« Ähnliches berichteten auch die Münchner Neuesten Nachrichten: Bei der Vorstellung des Programms »prallten die Gegensätze heftig aufeinander, und mit knapper Not wurde verhindert, daß man von Zwischenrufen zu Tätlichkeiten überging«.

Vgl. Münchner Neueste Nachrichten vom 25. 2. 1920, »Die deutsche Arbeiterpartei«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 83; Phelps, Hitler (1963), Zitate S. 294. 

218 Dem Polizeibericht zufolge verhielt es sich genau umgekehrt. Von einer Abstimmung über das Programm ist dort keine Rede. Die Störungen erreichten erst ihren Höhepunkt, als es zu einer Abstimmung kam, die Hitler in Mein Kampf nicht erwähnt: »Nun liest der Vorsitzende noch eine Entschließung vor, in der gegen die Zuweisung von 40.000 Z[en]t[ne]r Weizenmehl an die israelitische Kultusgemeinde auf das Schärfste protestiert wird, während Tausende kein Krankenbrot bekommen. Es fällt irgendein Zwischenruf. Darauf große Unruhe. Alles steht auf den Stühlen und Tischen. Ungeheurer Tumult. Hinausrufe. Bei der Abstimmung hätte es niemand wagen dürfen, dagegen zu stimmen, da die Haltung der Versammlung zu drohend wurde. Die Entschließung wurde einstimmig angenommen.« Vor allem für diesen Entschluss interessierten sich antisemitische Zeitungen wie Das Bayerische Vaterland und der Völkische Beobachter, während sie das »25-Punkte-Programm« kaum beachteten. Der Protest gegen die vermeintliche Bevorzugung von Juden bei der Lebensmittelversorgung war ein häufiges Thema antisemitischer Agitation. In Mein Kampf aber rückt Hitler die Präsentation des Parteiprogramms ganz in den Mittelpunkt, die im Übrigen keine einmalige Angelegenheit blieb. In den folgenden Wochen wurden von Hitler und Drexler immer wieder einzelne Punkte aus dem Programm bei Versammlungen vorgestellt.

Vgl. Das Bayerische Vaterland vom 26. 2. 1920, »Vermischtes«; VB vom 28. 2. 1920, »Aus der Bewegung«; Phelps, Hitler (1963), Zitat S. 294; Plöckinger, Soldaten, S. 176, 304 f.

219 Die stürmische Aussprache nach der Vorstellung des Programms unterschlägt Hitler. Es meldeten sich vier Redner zu Wort. Max Sesselmann, führendes Mitglied der DsP in München und Redakteur beim Völkischen Beobachter, äußerte sich zustimmend, ebenso Ernst Ehrensperger, der sich bald darauf gemeinsam mit Hitler als Werbeobmann für die NSDAP engagierte und 1921 kurzzeitig auch als Geschäftsführer des Eher-Verlags amtierte. Für Tumulte sorgten gegnerische Wortmeldungen von zwei Versammlungsteilnehmern namens Braig und Freiberger. Letzterer drohte, einer Diktatur von rechts werde eine Diktatur von links entgegengesetzt werden. Der Polizeibericht hielt dazu fest: »Alles springt wieder auf! Große Unruhe! Hinausrufe! Der Vorsitzende spricht noch einige Worte, die aber im Lärm untergehen[,] und schließt um 10 Uhr die Versammlung.«

Vgl. IfZ-Archiv, MA 733: Anwesenheitsliste vom 26. 10. 1919; Phelps, Hitler (1963), Zitat S. 296; Joachimsthaler, Weg, S. 294, 371 f.

Um 7.30 Uhr sollte die Eröffnung stattfinden.213 7.15 Uhr betrat ich den Festsaal des Hofbräuhauses am Platzl in München, und das Herz wollte mir fast vor Freude zerspringen. Der gewaltige Raum, denn so# 1930: so ersetzt durch: gewaltig kam er mir damals noch vor, war mit Menschen überfüllt, Kopf an Kopf, eine fast zweitausend# 1937: eingefügt: Menschen zählende Masse.214 Und vor allem – es waren die gekommen, an die wir uns wenden wollten. Weit über die Hälfte des Saales schien von Kommunisten und Unabhängigen besetzt. Unsere erste große Kundgebung war von ihnen zu einem schnellen Ende bestimmt worden.215

Allein es kam anders. Nachdem der erste Redner216 geendet, ergriff ich das Wort. Wenige Minuten später hagelte es Zwischenrufe, im Saal kam es zu heftigen Zusammenstößen, eine Handvoll treuester Kriegskameraden und sonstige Anhänger schlugen sich mit den Störenfrieden und vermochten erst nach und nach einige Ruhe herzustellen. Ich konnte wieder weitersprechen. Nach einer halben Stunde begann der Beifall das Schreien und Brüllen langsam zu übertönen.217

Und nun ergriff ich das Programm und begann es zum ersten Male zu erläutern.

Von Viertelstunde zu Viertelstunde wurden die Zwischenrufe mehr und mehr zurückgedrängt von steigenden# 1930: steigenden ersetzt durch: beifälligen Zurufen.218 Und als ich endlich die fünfundzwanzig Thesen Punkt für Punkt der Masse vorlegte und sie bat, selber das Urteil über sie zu sprechen, da wurden sie nun eine nach der andern# 1944: andern ersetzt durch: anderen unter immer mehr sich erhebendem Jubel angenommen, einstimmig und immer wieder einstimmig, und als die letzte These so den Weg zum Herzen der Masse gefunden hatte, da# 1930: gestrichen: da stand ein Saal von# 1930: von ersetzt durch: voll Menschen vor mir, zusammengeschlossen von einer neuen Überzeugung, einem neuen Glauben, von einem neuen Willen.219

Als sich nach fast vier Stunden220 der Raum zu leeren begann und die Masse sich nun# 1926: gestrichen: nun Kopf an Kopf wie ein langsamer Strom dem Ausgange# 1937: Ausgange ersetzt durch: Ausgang;
1939: Ausgange zuwälzte, zuschob und zudrängte, da wußte ich, daß nun die Grundsätze einer Bewegung in das deutsche Volk hinauswandern# 1930: hinauswandern ersetzt durch: hinauswanderten , die nicht mehr zum Vergessen zu bringen sind# 1930: sind ersetzt durch: waren .221