Band I, Einleitung 10. Kapitel
Mit diesem Kapitel kehrt Hitler zurück zu einem der zentralen Themen von Mein Kampf: die Revolution von 1918/19. Gleichzeitig ist dieses Kapitel das disparateste des gesamten Buchs; durch seine zahlreichen verschiedenen Themen wirkt es sprunghaft und uneinheitlich. Hitler versucht hier, den »Zusammenbruch« Deutschlands im Herbst 1918 politisch und gesellschaftlich zu erklären. Das korrespondiert mit dem folgenden Kapitel Volk und Rasse (I/11), in dem Hitler eine rassistische Deutung jenes »Zusammenbruchs« vorlegt. Gemeinsam ist diesen beiden Kapiteln auch, dass sie weder parteigeschichtliche noch biografische Themen aufgreifen.
Zu dem vorliegenden Kapitel existieren mit insgesamt sechs Konzeptblättern die umfangreichsten Quellen aus der Entstehungszeit von Mein Kampf.1 Hitlers Arbeitsweise wird darin besonders deutlich: Bei der Ausarbeitung des Texts verliert er sich immer wieder in Ergänzungen, Erweiterungen und Umstellungen des Konzepts; oft findet er nur durch Neuansätze zurück zu seinem eigentlichen Thema. Dies macht auch die Datierung des Kapitels schwierig. Die Konzeptblätter wurden in der ersten Junihälfte 1924 verfasst, zahlreiche Textfragmente dürften jedoch zu einem anderen Zeitpunkt entstanden sein. Zusammengeführt wurden sie vermutlich erst in der endgültigen Ausarbeitung. Die Passage über die »Internationalisierung der deutschen Wirtschaft« entstand zwischen Anfang Mai und Ende August 1924.2 Der Abschnitt, in dem Hitler Erich Ludendorff gegen die Kritik der politischen Linken verteidigt, dürfte wiederum vor dem Hintergrund der heftigen öffentlichen Angriffe gegen Ludendorff im Herbst 1924 verfasst worden sein.3 Die ausschweifenden Passagen, die vom antiparlamentarischen Verdikt »Feigheit vor der Verantwortung« über Pressefragen, Jugenderziehung, die Syphilis bis hin zum sogenannten Schutzparagraphen reichen4, entziehen sich hingegen einer genauen Datierung. Die anschließenden Abschnitte über den antiken und modernen Städtebau, über das vermeintliche »Versagen des Parlamentarismus« sowie über die »Vorzüge« von Heer und Verwaltung im Kaiserreich5 orientieren sich dann wieder stark an den Konzeptblättern. Doch auch hier findet sich mit Hitlers Ausführungen zur deutschen Flottenpolitik6 ein später entstandenes und eingefügtes Textfragment. Das darin enthaltene erneute Lob für Ludendorff lässt vermuten, dass die Passage ebenfalls erst im Herbst 1924 entstand.
Den Übergang zum anschließenden Kapitel Volk und Rasse gestaltet Hitler schließlich deutlich anders als im Konzept. Während er in der Endfassung das allgemeine »Nichterkennen des Rasseproblems« zum »tiefste[n] und letzte[n] Grund des Unterganges des alten Reiches«7 erklärt, verweist das Konzept deutlich auf die Juden; ihr Wirken sei nicht erkannt worden und gegen sie müsse ein »Kampf auf Leben und Tod« geführt werden. Wahrscheinlich beabsichtigte Hitler ursprünglich, bereits früher entstandene Ausführungen über die »Judenfrage« direkt anzuschließen8, entschied letztlich jedoch, das folgende Kapitel mit Darstellungen zu »Rassenfragen« zu eröffnen, was ein neues Konzept und neue überleitende Sätze notwendig werden ließ.9
Was aber ist das Ziel dieses uneinheitlichen, verworrenen Kapitels? Hitler versucht darin, den Nachweis zu erbringen, dass nicht der militärischen Führung des Ersten Weltkriegs die Kriegsniederlage anzulasten sei, sondern den allgemeinen gesellschaftlichen Missständen im Kaiserreich, für die er in erster Linie »die« Juden verantwortlich macht. Konzeptionell erinnert das Kapitel damit an eine Forderung aus Paul Bangs Pamphlet Judas Schuldbuch (1919), das Hitler kannte und schätzte. Darin heißt es: »Wer einmal in Zukunft die Geschichte der Deutschen schreibt, der wird in dem unglücklichen Kriege und seinem unseligen Ausgange […] die naturnotwendige Folge einer jahrzehntelangen Entartungsentwicklung sehen und diese Entwicklung wird sich ihm darstellen als der Kampf Judas gegen das letzte Bollwerk aller wahren Kultur und Freiheit, gegen den letzten Halt innerer Seelengröße und Herzensreinheit.«10 Auffällig an dem Kapitel sind darüber hinaus die zahlreichen inhaltlichen Parallelen zur Schrift Wenn ich der Kaiser wär’ (1912) von Heinrich Claß. 11 Welche große Bedeutung Hitler dem titelgebenden Thema des Kapitels beimaß zeigt sich in einer Denkschrift an die bayerische Justiz vom 16. 5. 1923. Darin stellte er die »Beseitigung derjenigen Ursachen […], die zum Zusammenbruche des Vaterlandes innere Veranlassung gaben«, gar als das »einzige Ziel« der NSDAP dar.12 Diese angeblichen inneren Ursachen hat Hitler nirgends so ausführlich beschrieben wie in diesem Kapitel von Mein Kampf.