Erfüllungspolitik und bundesstaatliche Hoheitseinbuße <span class="pagenumber">[218]</span>

114 Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. 4. 1871 hatte den Ländern neben ihren originären eigenstaatlichen Hoheitsrechten auch teilweise besondere Hoheitsrechte, die Reservatsrechte, zugestanden. So besaß das Königreich Bayern unter anderem das Recht auf die Post- und Eisenbahnhoheit, das Recht auf den militärischen Oberbefehl über die bayerische Armee in Friedenszeiten oder das Biersteuerrecht; Letzteres besaßen auch Württemberg und Baden. Württemberg besaß ferner das Recht auf ein eigenes Postwesen und eine etwas größere Autonomie in seiner Militärverfassung. All diese Ausnahmen wurden durch die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 8. 1919 weitgehend abgeschafft, etwa durch Abbau der Länderfinanz- und -verkehrshoheit, den Wegfall der militärischen Hoheitsrechte, die Aufhebung des ausländischen Gesandtschaftsrechts, die Eingliederung des Post- und Telegraphenwesens in die Deutsche Reichspost, die Ausdehnung der Gesetzgebungszuständigkeit des Reichs auf Kosten der Länder, die Vereinheitlichung des Ausnahmerechts und der Einschränkung der Länderautonomie in den Bereichen Bildung, Schule und Religion. Des Weiteren verstärkte sich durch den Ausbau der Reichsverwaltung die Tendenz zur »Verreichlichung«.

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Zitate S. 806 – 808; Wengst, Staatsaufbau; Anm. 208 in diesem Kapitel.

119 Die Weimarer Republik tat sich schwer mit ihrer symbolischen Selbstdarstellung; das lag nicht nur an ihren schwierigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Folgenreicher war, dass die Republik von vielen als Ergebnis einer Niederlage empfunden wurde und der Kontrast zur Monarchie mit ihrem großen Aufwand in der staatlichen und militärischen Repräsentation überaus deutlich war. Entsprechend groß waren die Vorbehalte gegenüber der betont nüchternen Symbolik der neuen Republik. Schon allein die Tatsache, dass sich die schwarzrotgoldene Nationalflagge, immerhin festgelegt durch Artikel 3 der Reichsverfassung, nie ganz durchsetzen konnte, illustriert diese Skepsis. Auch das Abhalten von Verfassungsfeiern, durch die der 11. August als Unterzeichnungstag der Reichsverfassung hervorgehoben werden sollte, hatte nur mäßigen Erfolg. Nachdem die Öffentlichkeit 1920 vom ersten Feiertag kaum Notiz genommen hatte, versuchte die Reichsregierung mithilfe des »Reichskunstwarts« Edwin Redslob, den Verfassungstag zu popularisieren und ihm eine angemessene ästhetische Form zu geben; Redslob beabsichtigte, »eine Verbindung der Regierung und ihrer Gäste mit der Gesamtheit des Volkes« zu schaffen.

Die Strahlkraft von Beflaggungen, Ansprachen und Umzügen blieb jedoch begrenzt; nicht wenige empfanden den Verfassungstag als eine »befohlene, frostige Angelegenheit«. Obwohl die 1924 gegründete Massenorganisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold den Verfassungstag mit all ihren Möglichkeiten unterstützte, spricht es für sich, wenn Reichskanzler a. D. Joseph Wirth in der Illustrierten Reichsbanner-Zeitung drei Jahre später eingestehen musste: »Wie möchte man sie sich tummeln sehen auf den grünen Wiesen, unter Schwarz-Rot-Gold den großen Freudentag, den Sonnentag des deutschen Volkes zu feiern. Das wäre möglich, wenn Volk und Staat miteinander verwachsen wären. […] Leider sind wir noch nicht so weit.« Dass sich schließlich sogar der Reichsminister des Innern Wilhelm Freiherr von Gayl (DNVP) bei der Verfassungsfeier des Jahres 1932 zu der Behauptung versteigen konnte, »daß die Verfassung nicht einigt, sondern trennt«, war nichts anderes als eine Bankrotterklärung für das Projekt einer republikanischen Symbolfindung.

Vgl. Illustrierte Reichsbanner-Zeitung vom 13. 8. 1927, »Verfassungstag«; Lehnert/ Megerle (Hrsg.), Identität; Schellack, Nationalfeiertage, S. 133 – 276; Gusy, Reichsverfassung, S. 86 – 89, Zitat S. 89; Poscher (Hrsg.), Verfassungstag, Zitat S. 17; Buchner, Identität, S. 301 – 346; Mühlhausen, Ebert, S. 831 – 842; Welzbacher, Redslob, S. 197 – 199; Welzbacher (Hrsg.), Reichskunstwart, S. 82 – 88; Rossol, Nation, S. 58 – 101; Kap. II/2, Anm. 149.

120 Zweifellos war es ein zentrales Problem der Weimarer Republik, dass sich viele Deutsche stärker mit einzelnen Parteien, Konfessionen, Regionen oder Sozialmilieus identifizierten und weniger mit der Republik als Idee und Institution. Zwar war diese Republik, so Kurt Sontheimer, »ein Eldorado für Intellektuelle. Aber gerade, weil sie dies war, gab es keinen eigentlichen Geist der Republik.« Allerdings ignoriert Hitlers Behauptung die Ergebnisse der damals letzten Reichstagswahl vom 7. 12. 1924, die mit einem klaren Votum für jene Parteien endete, die sich mit der Republik identifizierten: SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP erhielten bei dieser Wahl zusammen 59,7 % der Stimmen.

Vgl. Bracher, Auflösung; Bussmann, Ideologien; Sontheimer, Denken, Zitat S. 391; Falter/ Lindenberger/ Schumann, Wahlen, S. 70; Asmuss, Republik Bussche, Konservativismus, S. 54 – 105; Gusy (Hrsg.), Denken; Breuer, Völkischen, S. 147 – 251; Wirsching/ Eder (Hrsg.), Vernunftrepublikanismus; Postert, Kritik.

Dieselben Parteien, die noch wenige Jahre vordem die Interessen ihrer Einzelstaaten – und dies besonders in Bayern – über das Interesse des Reiches gestellt hatten, mußten es nun erleben, wie unter dem Druck der Geschehnisse das Interesse des Reiches die Existenz der Einzelstaaten abwürgte. Alles durch ihr eigenes Mitverschulden.

Es ist eine Heuchelei sondergleichen, den Wählermassen gegenüber (denn nur an diese richtet sich die Agitation unserer heutigen Parteien) über den Verlust von Hoheitsrechten der einzelnen Länder zu klagen114, während sich alle diese Parteien ausnahmslos gegenseitig überboten haben in einer Erfüllungspolitik115, die in ihren letzten Konsequenzen natürlich auch zu tiefgreifendsten#1937: tiefgreifendsten ersetzt durch: tiefgreifenden Veränderungen im inneren Deutschland führen mußte. Das Bismarcksche Reich war nach außen frei und ungebunden. Finanzielle Verpflichtungen so schwerwiegender und dabei völlig unproduktiver Art, wie sie das heutige Dawes-Deutschland116 zu tragen hat, besaß dieses Reich nicht. Allein auch im Innern war es in seiner Kompetenz auf wenige und unbedingt notwendige Belange beschränkt.117 Somit konnte es sehr wohl einer eigenen Finanzhoheit entbehren und von den Beiträgen der Länder leben; und es ist selbstverständlich, daß einerseits die Wahrung des Besitzes eigener Hoheitsrechte und andererseits verhältnismäßig geringe finanzielle Abgaben an das Reich der Reichsfreudigkeit der Länder sehr zustatten kamen.118 Es ist aber unrichtig, ja unaufrichtig, heute mit der Behauptung Propaganda machen zu wollen, daß die derzeit mangelnde Reichsfreudigkeit bloß der finanziellen Hörigkeit der Länder dem Reiche gegenüber zuzuschreiben wäre. Nein, so liegen die Dinge wirklich nicht. Die mindere Freude am und zum#1929: gestrichen: und zum Reichsgedanken ist nicht dem Verluste von Hoheitsrechten seitens der Länder zuzuschreiben, sondern ist vielmehr das Resultat der jammervollen Repräsentation, die das deutsche Volk derzeit durch seinen Staat erfährt. Trotz aller Reichsbanner- und Verfassungsfeiern119 ist das heutige Reich dem Herzen des Volkes in allen Schichten fremd geblieben120, und republikanische Schutzgesetze121 können wohl von einer Verletzung republikanischer Einrichtungen abschrecken, sich#1929: gestrichen: sich; 1930: wieder eingefügt: sich aber nie-