Preisgabe unseres Heeres <span class="pagenumber">[189]</span>

184 Der Versailler Vertrag legte Größe, Charakter und Bewaffnung der deutschen Streitkräfte minutiös fest. Die Streitkräfte mussten auf eine Gesamtstärke von 115.000 Mann reduziert werden, alle modernen Waffensysteme wurden verboten, ebenso die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Es charakterisiert die Position der Reichswehrführung, dass sie diese Bestimmungen bis an die Grenze des politisch Möglichen zu unterlaufen suchte. Diese Politik, die von allen Reichsregierungen gefördert oder zumindest akzeptiert wurde, konzentrierte sich vor allem auf drei Felder: (1) Vergrößerung der personellen Ressourcen durch das Konzept einer »Schwarzen Reichswehr«, durch das illegale paramilitärische Formationen von der Reichswehr gefördert und ihr als Personalreserve bereitgestellt wurden (allein im Wehrkreis III zählten im Oktober 1923 etwa 18.000 Mann zu solch illegalen Einheiten); (2) Anlage geheimer Waffendepots oder illegaler Waffenbestände. So besaß die Reichswehr im Herbst 1932 statt der erlaubten 102.000 Gewehre und Karabiner 663.650 Stück sowie 22.024 statt der erlaubten 1.926 Maschinengewehre. Außerdem verfügte sie über 1.000 verbotene Panzerabwehrwaffen, über 100 schwere Geschütze sowie seit 1926 über zwei Jagdflieger- und zwei Bomberstaffeln, die, als Lufthansa-Flugzeuge getarnt, im Dienst gehalten wurden; (3) Ausbildung an jenen Waffen, die der Reichswehr durch den Versailler Vertrag eigentlich verboten waren. Möglich wurde dies durch die streng geheime Rüstungszusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee auf den Gebieten der Luft-, Panzer- und Gaskriegführung, die beiden Partner die Möglichkeit bot, einschlägige Erfahrungen zu sammeln.

Vgl. RGBl. 1919, S. 919 – 971; Matuschka, Organisation, S. 305 – 343; Güth, Organisation, S. 314 ff.; Hahn, Waffen, S. 14; Nuß, Militär, S. 195; Zeidler, Reichswehr; Kap. II/15, Anm. 11.

186 Hitlers Behauptung stellt die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf. Nach 1918 versuchten Staat und Gesellschaft, den Einsatz der gefallenen, verwundeten und heimkehrenden deutschen Soldaten auf vielfältige Weise zu honorieren. Dazu gehörten nicht nur symbolische Gesten wie Feiern, Reden oder Denkmäler. Essenzieller und folgenreicher war eine Politik, deren Ziel es war, die Kriegsheimkehrer so weit wie möglich wirtschaftlich und gesellschaftlich zu integrieren und die Invaliden, Traumatisierten und Hinterbliebenen – unter ihnen etwa drei Millionen »Kriegskrüppel« – angemessen zu versorgen. Dafür wurde mit dem Reichsversorgungsgesetz vom 12. 5. 1920 eine Grundlage geschaffen, wie es sie in der deutschen Geschichte zuvor noch nie gegeben hatte. Zukunftsweisend waren auch die Gleichstellung aller Dienstgradgruppen, die Gleichsetzung von Kriegsdienstschäden mit allen übrigen Dienstschäden sowie die Anerkennung von psychischen Schäden als Versorgungsgrund. Ein weiterer Baustein dieser Politik war das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 6. 4. 1920, das Betriebe verpflichtete, mindestens 2 % Schwerbeschädigte einzustellen. Trotz der Leistungsfähigkeit der Kriegsopferversorgung – 1926 flossen etwa 30 % des öffentlichen Haushalts in die Pensionsversorgung – tat der Staat wenig, um für die Erfolge dieses sozialpolitischen Großprojekts zu werben. Schon deshalb überwog der Eindruck von Bürokratie, materieller Unzulänglichkeit und auch Ungerechtigkeit. Gründe hierfür lagen freilich oft weniger in den bestehenden gesetzlichen Regelungen als vielmehr in den wirtschaftlichen und finanziellen Krisen der Republik. Bezeichnenderweise wurde die Weimarer Kriegsopferversorgung nach 1933 strukturell kaum verändert. Ihre materiellen Leistungen jedoch wurden deutlich zurückgefahren. Das Gesetz über Änderungen auf dem Gebiete der Reichsversorgung vom 3. 7. 1934 stellte zudem wieder den eigentlichen Kriegsdienst in den Vordergrund und verschärfte die Anerkennungskriterien, sodass die Zahl der Versorgungsberechtigten von 840.000 (1930) auf 796.611 (1936) sank. Die Leitung der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung musste sich im August 1934 selbst eingestehen, dass eine »grundsätzliche Neuordnung der Gesamtversorgung […] noch nicht klar zu erkennen« sei. Während die Kriegsinvaliden nun durch zahlreiche symbolische Ehrungen als »Ehrenbürger des Staates« gefeiert wurden, sanken die staatlichen Leistungen der Kriegsopferversorgung von jährlich 84,5 Millionen Reichsmark (1928) auf 26,9 Millionen Reichsmark (1935). Wie menschenverachtend der Nationalsozialismus selbst die Veteranen des Ersten Weltkriegs behandeln konnte, zeigt das Schicksal derer, die aus rassistischen, politischen oder auch medizinischen Gründen aus der NS-»Volksgemeinschaft« ausgeschlossen wurden. Von den Veteranen, die aufgrund ihres Kriegsdiensts psychisch dauerhaft erkrankt waren, wurden bis 1938 etwa 680 – 850 zwangssterilisiert und 4.000 – 5.000 bis 1941 im Rahmen des Euthanasieprogramms ermordet. »Der Dank des Vaterlands für ehemalige Frontkämpfer kann jedenfalls nicht mehr krasser zum Ausdruck kommen als durch solchen Heldentod«, schrieb ein »Kriegervater« am 14. 10. 1940 an die Heilanstalt Weissenau.

Vgl. RGBl. 1920, S. 458 – 464; RGBl. 1934/I, S. 541 – 544; 619 f.; Das Reichsversorgungsgesetz (R. V. G.) vom 12. Mai 1920; Whalen, Wounds, S. 156 f.; Diehl, Fatherland, S. 6 – 53; Bieber, Kriege, S. 60 – 123; Ziemann, Konstruktion; Welzbacher, Redslob, S. 177 – 184; Kaiser, Helden, S. 24 – 209; Neuer, Politik; Rauh, Verdun; Löffelbein, Ehrenbürger, Zitate S. 261, 280, 295, 339, 344, 347; Kap. II/13, Anm. 144.

187 Dass den 1918 von der Front heimkehrenden deutschen Soldaten – meist den Offizieren, mitunter aber auch den Unteroffizieren und Mannschaften – von Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte die Dienstgradabzeichen und Orden, seltener die Kokarden, heruntergerissen wurden, war eine Erfahrung, die bei vielen Frontsoldaten für völliges Unverständnis, ja Erbitterung sorgte. Diese Akte symbolischer Gewalt nehmen in zahllosen zeitgenössischen Aufzeichnungen und Erinnerungen, aber auch in literarischen Darstellungen breiten Raum ein. So schildert etwa Ernst Udet, wie ihm in München im November 1918 ein Angehöriger des Soldatenrats vergeblich seinen Orden Pour le Mérite mit dem Ruf »Dös is Blech« abzureißen suchte. Mit Verordnung vom 19. 1. 1919 bestimmte die neue Reichsregierung, »die bisher als Rang- und Gradabzeichen dienenden Achselstücke und Tressen« seien von den »im Felde Gewesenen« sofort abzulegen und durch behelfsmäßige Kennzeichen in Form unterschiedlicher Ärmelstreifen zu ersetzen.

Vgl. Udet, Fliegerleben, Zitat S. 118 f.; Miller/ Potthoff (Bearb.), Regierung, Dok. 114, Anm. 27 f.; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 936 – 939.

189 Historischer Kontext dieser Passage ist der preußische Verfassungskonflikt, in dem Otto von Bismarck ohne ordnungsgemäßen Haushalt regierte: In der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 27. 1. 1863 protestierte der liberale Abgeordnete Maximilian Graf von Schwerin-Putzar gegen eine Rede des Ministerpräsidenten Bismarck und legte ihm den Satz in den Mund: »Macht geht vor Recht«. Bismarck wehrte sich gegen diesen Vorwurf: »Ich habe zu einem Kompromiß geraten, weil in Ermangelung eines Kompromisses sich Konflikte einstellen müssen, Konflikte aber zur Machtfrage werden, und daß, da das Staatsleben nicht einen Augenblick stille stehen kann, derjenige, der im Besitz der Macht sich befindet, daher genötigt ist, sie zu brauchen.« Welche Bedeutung diese Szene im damaligen deutschen Geschichtsverständnis besaß, illustriert auch der 1940 gedrehte deutsche Spielfilm Bismarck. Hier unterstellt der Abgeordnete Rudolf Virchow Bismarck diesen Satz, der daraufhin noch einmal klarstellt: »Ich habe nicht gesagt, dass Macht vor Recht gehe. Verdrehen Sie meine Worte nicht!«

Gleichzeitig sind Hitlers Ausführungen als Diffamierung eines politischen Systems zu lesen, das den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz verpflichtet war. Dabei ist die Nennung von Leipzig ein Verweis auf den dortigen Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik, der auf Grundlage des Republikschutzgesetzes vom 21. 7. 1922 errichtet worden war; er sollte über die entsprechenden Straftaten urteilen. Der Staatsgerichtshof hatte am 15. 3. 1923 die Beschwerde der NSDAP gegen ihr Verbot in Baden, Thüringen, Preußen, Mecklenburg-Schwerin, Hamburg und Bremen zurückgewiesen. Generell aber zeigte sich, dass die Anwendung des Republikschutzgesetzes »eher zurückhaltend« ausfiel und sich vor allem »in einer eher tendenziell einseitigen Rechtsprechung ›gegen links‹« manifestierte. Dass dem Staatsgerichtshof nur eine kurze Existenz beschieden war, passt in dieses Bild. Am 31. 3. 1926 wurden ihm die Mittel gestrichen, am 2. 6. 1927 wurde er ganz aufgelöst. Hitlers Larmoyanz stellt die Dinge auf den Kopf: Das Problem des Republikschutzrechts der Weimarer Republik war nicht seine Existenz, sondern vielmehr die Tatsache, dass es gegen die Republikfeinde von rechts nicht mit der gebührenden Härte angewendet wurde.

Vgl. Böhm, Bismarck, Bd. 2, S. 37 f.; Deuerlein (Hrsg.), Hitler-Putsch, Dok. 283; Gall, Bismarck (1980), S. 279 f.; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 671 – 683; Gusy, Weimar, bes.S. 345 – 354, Zitate S. 364; Hueck, Staatsgerichtshof; Kettler, Instrumentalisierung, S. 56 – 58; Kap. I/10, Anm. 171.

militärisch ausbilden zu wollen184, wenn der Staat wenige Jahre vorher achteinhalb Millionen bestausgebildeter Soldaten185 schmählich preisgab, nicht nur sich ihrer nicht mehr bediente, sondern als Dank für ihre Opfer sogar noch der allgemeinen Beschimpfung aussetzte.#1939: Punkt ersetzt durch: Fragezeichen186 Man will also Soldaten heranbilden für ein Staatsregiment, das die ruhmvollsten#1944: ruhmvollsten ersetzt durch: ruhmvollen Soldaten von einst beschmutzte und bespuckte, ihnen die Ehrenzeichen#1944: Ehrenzeichen ersetzt durch: Ehrenabzeichen von der Brust reißen ließ, die Kokarden wegnahm, die Fahnen zertrat und ihre Leistungen herabwürdigte?187 Oder hat dieses heutige Staatsregiment jemals auch nur einen Schritt unternommen, die Ehre der alten Armee wieder herzustellen, ihre Zersetzer und Beschimpfer zur Verantwortung zu ziehen? Nicht das geringste. Im Gegenteil: Wir#1937: Wir ersetzt durch: wir;
1939: Wir;
1944: wir können letztere in höchsten Staatsämtern thronen sehen.188 – Wie sagte man doch zu Leipzig: »Das Recht geht mit der Macht.«189 Da jedoch heute in unserer Republik die Macht in den Händen der gleichen Männer liegt, die einst die Revolution anzettelten190, diese Revolution aber den gemeinsten Landesverrat, ja die erbärmlichste Schurkentat der deutschen Geschichte überhaupt darstellt, so läßt sich wirklich gar kein Grund dafür finden, daß die Macht gerade dieser Charaktere durch Bildung einer neuen jungen Armee erhöht werden sollte. Alle Gründe der Vernunft sprechen jedenfalls dagegen.

Was aber dieser Staat, auch nach der Revolution von 1918, der militärischen Stärkung seiner Position für einen Wert beimaß, ging noch einmal klar und eindeutig hervor aus seiner Stellungnahme zu den damals bestehenden großen Selbstschutzorganisationen.191 Solange sie zum Schutz persönlich feiger Revolutionskreaturen einzutreten hatten, waren sie nicht unwillkommen. Sowie aber, dank der allmählichen Verlumpung unseres Volkes, die Gefahr für diese beseitigt schien und der Bestand der Verbände nunmehr eine nationalpolitische Stärkung bedeutete, waren sie überflüssig, und man tat alles, um#1944: gestrichen: um sie zu entwaffnen, ja, wenn möglich, auseinanderzujagen.192

Die Geschichte weist Dankbarkeit von Fürsten nur in seltenen Beispielen nach. Aber gar auf Dankbarkeit revolutionärer Mordbrenner, Volksausplünderer und Nationalverräter zu rechnen, bringt nur