Notwendigkeit der Massenversammlung <span class="pagenumber">[120]</span>

95 Zwar waren die großen Weimarer Zeitungen mehrheitlich keine offiziellen Parteiblätter, viele wurden jedoch aufgrund ihrer jeweiligen politischen Orientierung einzelnen Parteien zugerechnet. Daran änderte auch der unter Journalisten und Redakteuren geläufige Anspruch wenig, gleichsam über den Parteien zu stehen und unabhängig von ihnen zu urteilen. In den 1920er Jahren standen der linksliberalen DDP die Frankfurter Zeitung, die Vossische Zeitung, der Berliner Börsen-Courier sowie – mit Abstrichen – das Berliner Tageblatt nahe. Für die DVP ist vornehmlich die Deutsche Allgemeine Zeitung zu nennen. Demgegenüber konnte die DNVP in aller Regel auf die Schützenhilfe des Berliner Lokal-Anzeigers und der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuz-)Zeitung zählen, während das katholische Zentrum gemeinhin durch die Kölnische Volkszeitung und die Berliner Germania unterstützt wurde. Die SPD stützte sich indessen schon seit den 1890er Jahren auf den Vorwärts als ihrem Zentralorgan – auch wenn die Konflikte zwischen Redaktion und Parteiführung in den Jahren 1915/16 belegen, dass der SPD-Vorstand das Blatt nicht beliebig steuern konnte. Zu einem für die KPD sehr zuverlässigen Zentralorgan entwickelte sich Die Rote Fahne.

Vgl. Becker, Haltung; Koszyk, Presse (1972), S. 160 – 336; Rohleder/ Treude, (Kreuz-)Zeitung, bes.S. 222 f.; Fischer, Zeitung, bes.S. 276 – 279; Stiegler, Germania, bes.S. 303 f.; Schulze, Vorwärts, bes.S. 338 – 343; Koszyk, Fahne; Foitzik, Intellektuellenmilieu; Graf, Zukunft, S. 45 – 50; Schilling, Erbe, S. 137 – 151, 178 – 189, 214 – 229, 259 – 269, 319 – 326, 400 – 411, 421 – 436, 455 – 483; Kap. I/7, Anm. 51.

98 Entgegen dem Eindruck, den Hitler auf den abschließenden Seiten dieses Kapitels zu vermitteln sucht, war die Durchführung von Massenversammlungen durch die NSDAP keine Innovation im rechtsradikalen Lager der frühen 1920er Jahre. Für München ist hier etwa auf eine Großveranstaltung des DVSTB im Kindl-Keller am 7. 1. 1920 zu verweisen, die annähernd 7.000 Menschen besuchten und damit den Saal restlos füllten. Zu den Teilnehmern dieser Massenversammlung – die dem Thema »Die Judenfrage« gewidmet war und die von einer äußerst aggressiven, fast schon pogromartig antisemitischen Stimmung erfüllt war – gehörte auch Hitler, der sich in der Diskussion zu Wort meldete. Die Erfahrung, vor einem so großen Publikum zu sprechen, blieb auf den in dieser Hinsicht damals noch unerfahrenen Hitler nicht ohne Wirkung, zumal seine Wortmeldung – laut einem zeitgenössischen Polizeibericht – auf Zustimmung stieß: »Der größte Schuft ist nicht der Jude, sondern der, der sich dem Juden zur Verfügung stellt (Beifall)«. Als erste nationalsozialistische Massenversammlung gilt die »Gründungsversammlung« der NSDAP vom 24. 2. 1920, mit deren Schilderung Hitler den ersten Band von Mein Kampf beendet.

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 71, Zitat S. 101; Lohalm, Radikalismus, bes.S. 292 – 295; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 189; Kap. I/12, S. 387 – 391 sowie die dortige Kommentierung.

und einheitliche Erziehung der oberen und unteren Führer haben als für die Gewinnung gegnerisch eingestellter Massen. Nur in den seltensten Fällen wird ein überzeugter Sozialdemokrat oder ein fanatischer Kommunist sich herbeilassen, eine nationalsozialistische Broschüre oder gar ein Buch zu erwerben, dieses#1944: dieses ersetzt durch: diese zu lesen und daraus einen Einblick in unsere Weltauf‌fassung zu gewinnen oder die Kritik der seinen zu studieren. Selbst eine Zeitung wird nur ganz selten gelesen werden, wenn sie nicht von vornherein#1930: vornherein ersetzt durch: vorneherein;
1937: vornherein den Stempel der Parteizugehörigkeit trägt.95 Übrigens würde dies auch wenig nutzen#1937: nutzen ersetzt durch: nützen;
1939: nutzen; denn das Gesamtbild einer einzigen Zeitungsnummer ist ein so zerrissenes und in seiner Wirkung so zersplittertes, daß man von einmaliger Kenntnisnahme keinen Einfluß auf den Leser erwarten dürfte. Man darf und soll aber niemandem#1933: niemandem ersetzt durch: niemanden;
1937: niemandem, für den schon Pfennige eine Rolle spielen, zumuten, daß er, nur aus dem Drang nach objektiver Aufklärung, dauernd eine gegnerische Zeitung abonniert. Es wird dies unter Zehntausenden kaum einer tun. Erst wer der Bewegung bereits gewonnen ist, wird das Organ der Partei, und zwar als laufenden Nachrichtendienst seiner Bewegung dauernd lesen.96

Ganz anders ist es schon mit dem »geredeten« Flugblatt! Das wird der eine oder andere, besonders wenn er es unentgeltlich bekommt, viel eher in die Hand nehmen, um so mehr, wenn schon in der Überschrift ein Thema, das augenblicklich in aller Leute Munde#1933: Munde ersetzt durch: Mund ist, plastisch behandelt ist. Nach mehr oder weniger gründlicher Durchsicht wird er vielleicht durch ein solches Flugblatt auf neue Gesichtspunkte und Einstellungen, ja auch auf eine neue Bewegung aufmerksam gemacht werden können. Allein auch dadurch wird, selbst im günstigsten Fall, nur ein leiser Anstoß gegeben, niemals jedoch eine vollendete Tatsache geschaffen. Denn auch das Flugblatt kann nur zu etwas anregen oder auf etwas hinweisen, und seine Wirkung wird nur eintreten in Verbindung mit einer nachfolgenden gründlicheren#1939: gründlicheren ersetzt durch: gründlichen Belehrung und Aufklärung seiner Leser.97 Diese ist und bleibt aber immer die Massenversammlung.98

Die Massenversammlung ist auch schon deshalb notwendig, weil in ihr der einzelne, der sich zunächst als werdender Anhänger einer jungen Be-