Wiens letzter Aufschwung <span class="pagenumber">[70]</span>

13 Auf den Gegensatz zwischen dem blühenden, pulsierenden Wien und den Problemen des auseinander strebenden Vielvölkerstaats wurde schon vor 1914 oft hingewiesen. Als »Reichshaupt- und Residenzstadt« verkörperte freilich auch Wien selbst diese Ambivalenzen. Schon die Tatsache, dass Wien zwischen 1869 und 1910 um fast das Vierfache gewachsen war, veränderte den Charakter der Stadt grundlegend und stellte sie vor viele Probleme. Dennoch blieb ihre Anziehungskraft enorm: 1890 war nur ein Drittel ihrer Einwohner auch hier geboren. Um 1900 lebten in Wien, der mittlerweile viertgrößten Stadt Europas, über zwei Millionen Menschen. Die Stadt wirkte nicht nur als Magnet auf ihre unmittelbare Umgebung, sondern auch auf die weiter entlegenen Gebiete der Habsburgermonarchie wie Böhmen, Galizien oder Ungarn. Wien diente nicht nur als Regierungs- und Verwaltungszentrum, die Stadt war immer auch zentraler wirtschaftlicher Knotenpunkt der Monarchie mit großen Industriebetrieben, Handelshäusern und Banken, die durch sieben Bahnhöfe und über die Donau mit allen Teilen dieses Vielvölkerstaats verbunden war. Ferner bildete Wien das geistige Zentrum in einem Kosmos, den Robert Musil mit Blick auf die Abkürzung »k. (u.) k.« später wehmütig als »Kakanien« bezeichnen sollte.

Vgl. Musil, Mann, S. 31 – 35; John/ Lichtblau, Schmelztiegel, S. 12 ff.; Maderthaner, Lebenswelten, S. 495, 497; Kap. I/2, Anm. 36; Anm. 33 in diesem Kapitel.

17 Karl Lueger (1844 – 1910) stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Seit 1874 Rechtsanwalt machte er sich als »Anwalt der kleinen Leute« einen Namen. Nachdem der ursprünglich liberale Lueger von dem populären jüdischen Armenarzt und Wiener Gemeinderat Ignaz Mandl protegiert worden war, wurde er 1875 Gemeinderat und gehörte 1885 bis 1897 dem Reichsrat als Abgeordneter an. Mit seinem Blick für die zahlreichen sozialen Probleme und einem zunehmenden Antisemitismus, dessen sich Lueger populistisch bediente, gelang es diesem Demagogen neuen Stils, das Kleinbürgertum (Handwerker, Gewerbetreibende, niedere Beamte) in einem antiliberalen, antisozialistischen und antisemitischen Block zu sammeln und diesen erfolgreich gegen »die da oben« – die alten Eliten wie Kaiser, Adel, hoher Klerus und das Militär – zu positionieren. 1893 gründete Lueger die Christlichsoziale Partei. Als Bürgermeister von Wien (1897 – 1910) erwies sich Lueger als energischer und charismatischer Organisator und Reformer, der ganz auf kommunale anstatt auf private Strukturen setzte; er wollte – so sein Selbstverständnis – »in erster Linie für die arbeitende Bevölkerung« da sein, »die auf der Schattenseite geblieben ist«. Seine Verdienste um die Modernisierung Wiens waren groß: Unter seiner Ägide entstanden unter anderem eine kommunale Gas-, Wasser- und Stromversorgung, die Elektrifizierung der Straßenbahn, die städtische Lebens- und Rentenversicherungsanstalt sowie die Zentralsparkasse der Gemeinde Wien. Gebaut wurden ferner Schulen, Waisenhäuser, Spitäler, Schwimmbäder, Naherholungsgebiete, Obdachloseneinrichtungen, das Versorgungsheim Lainz sowie das Psychiatrische Krankenhaus am Steinhof. Luegers Gegenentwurf zur »Wiener Moderne« war das Wien der »Vaterstadt« – ein Konzept, das vorindustriell, bürgerlich, ständisch, familiär und christlich geprägt war. Lueger, der von sich behauptete, eigentlich sei er »der Herr Wiens« und nicht der Kaiser und der auch einen Ausbau der Christlichsozialen Partei mit der Äußerung ablehnte: »Die Organisation bin ich«, versäumte es, stabile Parteistrukturen zu etablieren, sodass die Christlich-sozialen nach seinem überraschenden Tod herbe Wahlverluste erlitten.

Vgl. Boyer, Radicalism, S. 205 f., 414; Hawlik, Bürgerkaiser, S. 209 f.; Spitzer, Lueger, S. 85 – 89, 166; Herre, Jahrhundertwende, Zitate S. 178, 203; Hamann, Wien, S. 393 – 435; Wladika, Vätergeneration, S. 272 f.; Boyer, Lueger (2010), bes.S. 179 – 225, Zitat S. 221 (Herv. i. Orig.); Maderthaner, Lebenswelten, S. 524 f.; Benesch, Partei, S. 21 – 30; Kap. I/2, Anm. 170. 

18 Hitlers Verhältnis zu den alten Eliten, gerade auch zu den Diplomaten, blieb von Unkenntnis, Verachtung, Misstrauen sowie spürbaren Minderwertigkeitsgefühlen geprägt. Noch am 2. 2. 1942 bekannte Hitler, er »gebe auf die ganzen diplomatischen Äußerungen nichts. Der Diplomat macht seine Antrittbesuche, da wird nur getratscht. In allen diesen Städten gibt es gewisse Zirkel, die sich für das Volk halten, die mit dem Volk aber nichts zu tun haben. Dort verkehren die Diplomaten. […] Sonst lernt ein Diplomat nichts kennen.« Die Nationalsozialisten versuchten vor allem seit 1938 die deutsche Diplomatie in eine Funktionselite umzuwandeln, die nicht allein professionellen Anforderungen, sondern auch den politisch-ideologischen Erwartungen des Regimes genügen sollte. 1943 waren schließlich 522 der 603 Beamten des Höheren Diensts im Auswärtigen Amt Mitglieder der NSDAP. Gleichzeitig wuchs der Personalbestand des Auswärtigen Diensts rapide – von 2.232 Personen (1933) auf 6.458 Personen (1943). Zugleich wurde die Ausbildung eines neuen Diplomatentypus eingeleitet, die zeitlich bedingt aber nur noch eine geringe Wirkung entfaltete, sodass der auswärtige Dienst auch im Dritten Reich eine weitgehend »geschlossene Gesellschaft« blieb. In den »klassischen« Bereichen der Diplomatie dominierten weiter die »alten«, meist nationalkonservativen Karrierebeamten. Ihre Anpassungsbereitschaft an die »neuen Verhältnisse« war freilich oft groß. Dass dies von der politischen Führung dennoch als unzureichend empfunden wurde, belegt auch die Tatsache, dass in den »neuen«, ideologisch besonders sensiblen Aufgabenfeldern wie Rassen- und Besatzungspolitik, Ausplünderung oder Holocaust »bevorzugt Seiteneinsteiger aus den konkurrierenden Parteiorganisationen eingesetzt« wurden.

Vgl. Hitler, Monologe, Zitat S. 254; Jacobsen, Außenpolitik; Döscher, Amt, Zitat S. 307; Conze u. a., Amt, S. 25 – 316; Hürter, Amt, Zitat S. 175; Conze, Amt, S. 69 – 101; Hürter/ Mayer, Amt.; Kap. I/4, Anm. 22.

19 In Wirklichkeit bildete die deutschsprachige stets die größte Gruppe unter den zehn großen Sprachgruppen der Habsburgermonarchie. Lebten 1851 insgesamt 7.870.719 Deutsche (21,6 %) im Kaisertum Österreich, so stieg ihre Anzahl und ihr Anteil bis 1880 sogar auf 9.962.775 Personen (25,6 %). Bis 1914 sollte sich dieses Verhältnis nur geringfügig zu Ungunsten der Deutschen verändern: 1900 wurden etwa 11.320.000 Deutsche gezählt (24,1 %), 1910 dann 12.010.669 Deutsche (23,4 %). Hitlers Vorstellung von der Existenz einer deutschen »Minderheit« ist das Resultat einer anachronistischen Addition aller nichtdeutschen Volksgruppen. Die statistischen Daten über die Ethnien der Vielvölkermonarchie sind aus heutiger Sicht freilich nicht unproblematisch, zumal diese Erhebungen seit dem späten 19. Jahrhundert nicht frei von politischen Einflüssen blieben. Im Nationalitätenkampf der Habsburgermonarchie diente Sprache immer auch als ein politisches Signal, als eine Methode zur Grenzziehung. Dennoch bleiben die zeitgenössischen Bevölkerungsstatistiken eine der wichtigsten politik- und sozialhistorischen Quellen zur Geschichte Österreich-Ungarns.

Vgl. Urbanitsch, Deutschen, S. 33 – 38.

und Zukunft dieses Staates gerade von der Erhaltung dieser Keimzelle des Reiches abhängig.

Waren die alten Erblande12 das Herz des Reiches, das immer wieder frisches Blut in den Kreislauf des staatlichen und kulturellen Lebens trieb, dann aber war Wien Gehirn und Wille zugleich.

Schon in ihrer äußeren Aufmachung durfte man dieser Stadt# 1939: Stadt ersetzt durch: Stunde [sic!];
1944: Stadt die Kraft zusprechen, in einem solchen Völkerkonglomerat als einigende Königin zu thronen, um so durch die Pracht der eigenen Schönheit die bösen Alterserscheinungen des Gesamten vergessen zu lassen.

Mochte das Reich in seinem Inneren# 1930: Inneren ersetzt durch: Innern noch so heftig zucken unter den blutigen Kämpfen der einzelnen Nationalitäten, das Ausland, und besonders Deutschland, sah nur das liebenswürdige Bild dieser Stadt. Die Täuschung war um so größer, als Wien in dieser Zeit vielleicht den letzten und größten sichtbaren Aufschwung zu nehmen schien.13 Unter der Herrschaft eines wahrhaft genialen Bürgermeisters14 wachte# 1930: wachte ersetzt durch: erwachte die ehrwürdige Residenz der Kaiser des alten Reiches15 noch einmal auf# 1930: gestrichen: auf zu einem wundersamen jungen Leben. Der letzte große Deutsche, den das Kolonistenvolk der Ostmark16 aus seinen Reihen gebar, zählte offiziell nicht zu den sogenannten »Staatsmännern«; aber indem dieser Dr. Lueger als Bürgermeister der »Reichshaupt- und Residenzstadt« Wien eine unerhörte Leistung nach der anderen auf, man darf sagen, allen Gebieten kommunaler Wirtschafts- und Kulturpolitik hervorzauberte17, stärkte er das Herz des gesamten Reiches und wurde über diesem# 1933: diesem ersetzt durch: diesen Umweg zum größeren Staatsmann, als die sogenannten »Diplomaten« es alle zusammen damals waren.18

Wenn das Völkergebilde, »Österreich« genannt, endlich dennoch zugrunde ging, dann spricht dies nicht im geringsten gegen die politische Fähigkeit des Deutschtums in der alten Ostmark, sondern war das zwangsläufige Ergebnis der Unmöglichkeit, mit zehn Millionen Menschen einen Fünfzig-Millionen-Staat von verschiedenen Nationen auf die Dauer halten zu können19, wenn eben nicht ganz bestimmte Voraussetzungen rechtzeitig gegeben wurden.