Die Sozialdemokratie <span class="pagenumber">[37]</span>

88 Die österreichische Arbeiterschaft war zunächst in gewerkschaftlichen Gruppen organisiert, deren unterschiedliche politisch-ideologische Vorstellungen lange Zeit die Gründung einer einheitlichen Partei verhinderten. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) wurde erst auf Initiative Victor Adlers auf einer Tagung im niederösterreichischen Hainfeld zum Jahreswechsel 1888/89 gegründet, der dann ihr erster Parteivorsitzender wurde. Adler verfolgte einen gemäßigten Kurs, der sich nicht nur an marxistischem Ideengut, sondern auch an der bürgerlichen Demokratie orientierte. So forderte er zunächst die Politisierung der Arbeiterschaft und die Schaffung eines Klassenbewusstseins, bevor an den Kampf um die politische Macht zu denken sei. In einem längerfristigen Emanzipationsprozess des Proletariats erblickte er die wahre »revolutionäre« Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser gemäßigte Kurs war auch das Ergebnis des Parteitags von 1892, auf dem der Putsch als revolutionäres Mittel abgelehnt wurde – zugunsten des langfristigen Transformationsprozesses. Die österreichische Sozialdemokratie zerbrach am Nationalitätenstreit; er führte 1912 dazu, dass sich die Tschechen in der Partei abspalteten.

Vgl. Maderthaner, Entwicklung; Maderthaner, Werden; Ardelt, Kampf, S. 10 – 16; Maderthaner, Entstehen; Hanisch/ Urbanitsch, Prägung, S. 80, 83, 86 – 88; Anm. 95, 106, 126 in diesem Kapitel.

89 Das Wahlrecht der Habsburgermonarchie war bereits 1882, 1893 und 1896 erweitert worden. Seit dem Wahlgesetz vom 26. 1. 1907 galt in der österreichischen – nicht aber in der ungarischen – Reichshälfte das allgemeine, direkte, gleiche und freie Wahlrecht für Männer. Wahlberechtigt war künftig »jede Person männlichen Geschlechtes, welche das 24.  Lebensjahr zurückgelegt« hatte und die österreichische Staatsbürgerschaft besaß. Wählbar als Abgeordneter war nun »jede Person männlichen Geschlechtes, welche die österreichische Staatsbürgerschaft seit mindestens drei Jahren« besaß und »das 30.  Lebensjahr zurückgelegt« hatte. Für diese Reform hatte sich die SDAP in der Tat besonders engagiert, was wiederum ihre Popularität förderte: 1907 wurde die SDAP zweitstärkste, ab 1911 stärkste Fraktion im österreichischen Abgeordnetenhaus.

Vgl. Reiter (Hrsg.), Texte, Zitate S. 148 f.; Kann, Problematik, S. 1323; Ucakar, Demokratie, S. 353; Brauneder, Verfassungsentwicklung, S. 233 f.

90 Die Verachtung alles Slawischen hatte in der deutschen Geschichte eine lange Tradition. Schon August Wilhelm Schlegel erklärte 1803, die Slawen seien »überall und unter allen Umständen zur Sklaverey bestimmt«. Georg Wilhelm Friedrich Hegel nannte sie gar »geschichtslose Völker«, da außer den Russen kein slawisches Volk selbstständig staatsgestaltend hervorgetreten sei. So fühlten sich viele Deutsche den Slawen, vor allem den Polen, kulturell überlegen, fürchteten aber zugleich die wachsenden slawischen Ansprüche auf Eigenstaatlichkeit wie überhaupt ihre schiere »Masse«. Während deutsche Liberale sich anfänglich noch für die Wiederherstellung des polnischen Staats in den Grenzen von 1772 aussprachen, votierten 1848 in der Frankfurter Paulskirche Konservative wie die Mehrheit der Liberalen für die Teilung der preußischen Provinz Posen und für die Aufnahme von Teilen dieser Provinz in das zu gründende Deutsche Reich. Selbst Friedrich Engels, der dies 1848 noch kritisierte, plädierte 1849 für die »Germanisierung« slawischer Gebiete »im Interesse der Zivilisation« und »des Fortschritts«. In seinen berühmten, seit 1878 vielfach neu aufgelegten Deutschen Schriften forderte dann der Orientalist Paul de Lagarde, einer der »Säulenheiligen« der späteren völkischen Bewegung, die Annektierung und Kolonisierung slawischer Gebiete durch das Reich, da alle slawischen Völker – mit Ausnahme der »SüdSlaven« [sic!] nur »eine Last für Europa« seien; »je schneller sie untergehn, desto besser für uns und für sie«.

Vgl. Lagarde, Schriften, Zitat S. 112; Paul, Lagarde; Wippermann, Antislavismus, bes.S. 512 – 524, Zitate S. 513, 515; Koenen, Russland-Komplex, S. 41 f.; Sieg, Prophet, S. 59 – 66, 173 – 178. Zur deutschen Polenpolitik vor 1918 und dem Stereotyp polnischer »Rückständigkeit« vgl. Kap. II/2, Anm. 16, 17.

92 Der Vergleich Österreich-Ungarns mit Babylon und seinem Reich erscheint an dieser Stelle erstmals in Mein Kampf und wird noch mehrfach wiederholt. Hitler versucht mit dieser biblischen Konnotation die Habsburgermonarchie zu diskreditieren. Tatsächlich hinkt der Vergleich: Das Babylonische Reich verlor durch die persische Eroberung 539 v. Chr. zwar seine politische Eigenständigkeit, blieb aber in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht weitgehend intakt. Ganz davon abgesehen war der Vergleich nicht originell: Schon 1907 hatte der Schriftsteller Hermann Bahr Wien als eine »europäisch-asiatische Grenzstadt« charakterisiert; es sei falsch, Wien an europäischen Maßstäben zu messen, wobei Wien damals genau das war – eine europäische Metropole.

Vgl. Bahr, Wien, Zitat S. 116; Jursa, Babylonier, S. 38 f.

95 In ihrem »Brünner Programm« (1899) bekannte sich die SDAP zur Gleichberechtigung aller Völker des Habsburgerreichs und forderte eine Umwandlung der Monarchie in einen demokratischen Bundesstaat gleichberechtigter Nationalitäten. Jede Nation sollte eine demokratisch gewählte Nationalkammer bekommen, die Rechte der nationalen Minderheiten sollten gewahrt werden, eine einheitliche Staatssprache für den Gesamtstaatsverband sollte es nicht geben. Gleichzeitig blieb die Solidarität der Arbeiterklasse ein zentrales Ziel der österreichischen Sozialdemokratie. Auf jeden Fall war das Bekenntnis zum Erhalt der Habsburgermonarchie und zum Ausgleich zwischen den Nationalitäten eine klare Absage an jeden gewaltsamen Systemwandel. In ihrer Organisation war die SDAP gewissermaßen ein Modell eines solch föderativen Systems; die Partei bestand aus fünf, später sechs nationalen Organisationen (Deutsche, Tschechen, Polen, Südslawen, Italiener sowie Ruthenen) und wurde schon deswegen als »Kleine Internationale« bezeichnet. Die Parteileitung saß in Wien, bei den Deutschen, was die Tschechen, die neben den Deutschen als einzige über einen Massenanhang verfügten, immer weniger akzeptierten. Auch sonst gewannen nationale Loyalitäten innerhalb der Partei zunehmend an Bedeutung. Bei der Wahl zum Reichsrat 1911 traten deutsche und tschechische Sozialdemokraten gegeneinander an, 1912 spaltete sich dann die tschechische Sozialdemokratie ganz von der Gesamtpartei ab.

Vgl. Löw, Nationalitätenkonflikte; Hanisch, Illusionist, S. 96 – 104; Winkler, Geschichte, S. 1022 f.

Wer weiß, wann ich mich in die Lehren und das Wesen des Marxismus einmal vertieft hätte, wenn mich nicht die damalige Zeit förmlich mit dem Kopfe auf dieses Problem gestoßen hätte!

Was ich in meiner Jugend von der Sozialdemokratie wußte, war herzlich wenig und reichlich unrichtig.88

Daß sie den Kampf um das allgemeine und geheime Wahlrecht führte, freute mich innerlich.89 Sagte mir doch mein Verstand schon damals, daß dies zu einer Schwächung des mir so sehr verhaßten Habsburgerregiments führen müßte. In der Überzeugung, daß der Donaustaat, außer unter Opferung des Deutschtums, doch nie zu halten sein werde, daß aber selbst der Preis einer langsamen Slawisierung des deutschen Elements noch keineswegs die Garantie eines dann auch wirklich lebensfähigen Reiches bedeutet hätte, da die staatserhaltende Kraft des Slawentums höchst zweifelhaft eingeschätzt werden muß90, begrüßte ich jede Entwicklung, die meiner Überzeugung nach zum Zusammenbruch# 1939: Zusammenbruch ersetzt durch: Zusammenbruche;
1944: Zusammenbruch dieses unmöglichen, das Deutschtum in zehn Millionen Menschen zum Tode verurteilenden Staates führen mußte. Je mehr das Sprachentohuwabohu auch das Parlament zerfraß und zerfetzte# 1944: zerfetzte ersetzt durch: zersetzte 91, mußte die Stunde des Zerfalls# 1930: Zerfalls ersetzt durch: Zerfalles dieses babylonischen Reiches92 näherrücken# 1937: näherrücken ersetzt durch: näher rücken;
1939: näherrücken und damit aber auch die Stunde der Freiheit meines deutschösterreichischen Volkes.93 Nur so konnte dann dereinst der Anschluß an das alte Mutterland wieder kommen# 1937: wieder kommen ersetzt durch: wiederkommen;
1939: wieder kommen .94

So war mir also diese Tätigkeit der Sozialdemokratie nicht unsympathisch. Daß sie endlich, wie mein damaliges harmloses Gemüt noch dumm genug war zu glauben, die Lebensbedingungen des Arbeiters zu heben trachtete, schien mir ebenfalls eher für sie, als gegen sie zu sprechen. Was mich am meisten abstieß, war ihre feindselige Stellung gegenüber dem Kampf um die Erhaltung des Deutschtums, das jämmerliche Buhlen um die Gunst der slawischen »Genossen«, die diese Liebeswerbung, soferne# 1944: soferne ersetzt durch: sofern sie mit praktischen Zugeständnissen verbunden war, wohl entgegennahmen, sonst sich aber arrogant hochnäsig# 1944: hochnäsig ersetzt durch: hochmütig zurückhielten, den zudringlichen Bettlern auf diese Weise den verdienten Lohn gebend.95