Das Deutschtum in Österreich <span class="pagenumber">[72]</span>

34 Die Außenpolitik Österreich-Ungarns gestalteten der Monarch und mit ihm der Außenminister (Minister des kaiserlichen und königlichen Hauses und des Äußern), ferner die beiden Ministerpräsidenten für Österreich und Ungarn sowie die Führung der k.(u.)k. Armee. Den Parlamenten in den beiden Reichshälften fehlte hingegen jeder verfassungsrechtlich verankerte Einfluss auf die auswärtige Politik. Der Auswärtige Dienst, der sich in Österreich-Ungarn in die drei Zweige: den Ministerialdienst im Ministerium des Äußern, den Diplomatischen Dienst und schließlich den Konsulardienst gliederte, war ethnisch heterogen. So lag 1914 der Anteil der ungarischen Beamten in der Zentrale am Wiener Ballhausplatz bei 26 %, im Diplomatischen Korps bei 34 % und im Konsulatsdienst bei 32,3 %. Unter den 48 Absolventen der Konsularakademie befanden sich im Jahr 1912: 23 Deutsche, 17 Ungarn, sechs Tschechen, ein Pole und ein Südslawe. Allerdings waren für das Selbstverständnis dieser oft adligen Verwaltungselite ihre soziale Herkunft und die Bindung an den österreichisch-ungarischen Staat häufig genauso prägend wie ihre ethnische Herkunft.

Vgl. Pfusterschmid-Hardtenstein, Akademie, S. 122 – 137, 178 f.; Godsey, Dienst; Matsch, Dienst, S. 83 – 105; Somogyi, Professionalisierung, bes.S. 138.

39 Zwar lebten im Deutschen Reich damals freilich vor allem Deutsche, doch war der deutsche Nationalstaat keineswegs ethnisch so homogen, wie Hitler behauptet: Um 1900 wohnten 56.367.178 Menschen in Deutschland, von ihnen waren 3.086.489 polnischsprachig, 211.679 waren französische Muttersprachler, 142.049 waren Masuren und 141.061 Dänen. Außerdem sprachen 106.305 Einwohner des Reichs Litauisch, 100.213 Kaschubisch und 93.032 Sorbisch. In manchen Gebieten des Reichs war dies sehr augenfällig: Im Ruhrgebiet waren nahezu ein Drittel der Bergleute polnische Muttersprachler, in Elsass-Lothringen war Französisch, in den preußischen Provinzen Posen, Westpreußen und Schlesien Polnisch neben dem Deutschen die am häufigsten gebrauchte Sprache.

Vgl. Mazohl, Voraussetzungen, S. 242 f.; Kroll, Geburt, S. 30. 

40 Die Geschichte der Völker Österreich-Ungarns im 19. Jahrhundert entwickelte sich in die genau entgegengesetzte Richtung. Gerade zu dieser Zeit begannen sie sich ihrer Sprache, Geschichte sowie Literatur und damit auch ihrer Nationalität bewusst zu werden. Der aufkommende Nationalismus, der sich zunächst über die kulturelle Identität definierte, wurde in fast allen Teilen Österreich-Ungarns sichtbar. So diente tschechischen Nationalisten im 19. Jahrhundert etwa die Erinnerung an die eigene Geschichte als Voraussetzung für die Wiederbelegung der tschechischen Sprache in einer modernen Form. Daran beteiligt waren beispielsweise František Palacký, der als Urheber der modernen tschechischen Geschichtsschreibung gilt, und Pavel Jozef Šafárik, ein Mitbegründer der modernen Slawistik. Zentraler Bezugspunkt dieses Denkens war das ehemals eigenständige Königreich Böhmen, das seine Unabhängigkeit 1526 formal eingebüßt hatte, als die böhmischen Stände den Habsburger Erzherzog Ferdinand zu ihrem neuen König wählten. Nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) wurde Böhmen dann erbliches Königreich der Habsburger.

Vgl. Plaschka, Staatsrecht, S. 6 – 8; Kann, Nationalitätenproblem, Bd. 1, S. 149; Kořalka, Tschechen, S. 85 f.; Bahlke, Land, S. 57.

41 Während fünf der elf Nationalitäten der Habsburgermonarchie ausschließlich innerhalb Österreich-Ungarns lebten (Kroaten, Ungarn, Slowaken, Slowenen und Tschechen), existierten bei den restlichen sechs Nationalitäten (Deutsche, Italiener, Polen, Rumänen, Ruthenen und Serben) jeweils Staatsgebilde in angrenzenden Gebieten: Polen und Ruthenen lebten auch auf dem Territorium des Russischen Reichs. Die Entstehung des italienischen Nationalstaats bis 1870, des Deutschen Reichs 1871, des Königreichs Rumänien 1881 und des Königreichs Serbien 1882 musste die österreichisch-ungarischen Nationalitätenprobleme ebenso verschärfen wie das Aufkommen des Panslawismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Allerdings begann auch die Identifikation der Deutschösterreicher, also der bislang dominierenden Ethnie, mit der Habsburgermonarchie zu schwinden. Gerade der von Hitler verehrte Georg Schönerer machte aus seiner tiefen Abneigung gegenüber diesem Staat keinen Hehl und vertrat einen besonders radikalen Pangermanismus, dessen Ziel der »Anschluss« Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich war.

Vgl. Sked, Decline, S. 187; Sutter, Stellung, S. 238 – 240; Kann, Problematik, S. 1311, 1332 – 1338; Kořalka, Deutschland, S. 112 – 137; Ara, Haltung, S. 234 – 237; Vranešević, Beziehungen, S. 363 – 375; Pascu/ Nutu, Rumänien, S. 308 – 318; Kap. I/1, Anm. 3; Kap. II/14, Anm. 107.

Das Deutschtum war endlich noch der Träger der gesamten Außenpolitik34, wenn man von den der Zahl nach wenigen Ungarn absieht.

Dennoch war jeder Versuch, dieses Reich zu erhalten, vergeblich, da die wesentlichste# 1939: wesentlichste ersetzt durch: wesentliche;
1944: wesentlichste Voraussetzung fehlte.

Für den österreichischen Völkerstaat gab es nur eine Möglichkeit, die zentrifugalen Kräfte bei den einzelnen Nationen zu überwinden. Der Staat war# 1926: war ersetzt durch: wurde entweder zentral regiert und damit aber auch ebenso innerlich organisiert, oder er war überhaupt nicht denkbar.35

In verschiedenen lichten Augenblicken kam diese Einsicht auch der »Allerhöchsten« Stelle36, um aber zumeist schon nach kurzer Zeit vergessen oder als schwer durchführbar wieder beiseitegelegt# 1930: beiseitegelegt ersetzt durch: beiseitegetan zu werden. Jeder Gedanke einer mehr föderativen Ausgestaltung des Reiches mußte zwangsläufig infolge des Fehlens einer starken staatlichen Keimzelle von überragender Macht fehlschlagen.37 Dazu kamen noch die wesentlich anderen inneren Voraussetzungen des österreichischen Staates gegenüber dem Deutschen Reiche Bismarckscher Fassung. In Deutschland handelte es sich nur darum, politische Traditionen# 1944: Traditionen ersetzt durch: Tradition zu überwinden, da kulturell eine gemeinsame Grundlage immer vorlag.38 Vor allem aber# 1930: gestrichen: aber besaß das Reich, von kleinen fremden Splittern abgesehen, nur Angehörige eines Volkes.39

In Österreich lagen die Verhältnisse umgekehrt.

Hier fiel die politische Erinnerung eigener Größe bei den einzelnen Ländern, von Ungarn abgesehen, entweder ganz fort, oder sie war vom Schwamm der Zeit gelöscht, mindestens aber verwischt und undeutlich.40 Dafür entwickelten sich nun im Zeitalter des Nationalitätenprinzips in den verschiedenen Ländern völkische Kräfte, deren Überwindung in eben dem Maße schwerer# 1933: schwerer ersetzt durch: schwer werden mußte, als sich am Rande der Monarchie Nationalstaaten zu bilden begannen, deren Staatsvölker, rassisch mit den einzelnen österreichischen Volkssplittern verwandt oder gleich, nunmehr ihrerseits mehr Anziehungskraft auszuüben vermochten41, als dies umgekehrt dem Deutschösterreicher noch möglich war.

Selbst Wien konnte auf die Dauer diesen Kampf nicht mehr bestehen.