Die Gegensätze <span class="pagenumber">[22]</span>

39 Durch den sogenannten Ausgleich von 1867 wurde das Kaisertum Österreich in die k. u. k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt; die ungarische Reichshälfte erhielt damals eine eigene Regierung, ein eigenständiges Parlament sowie eine selbstständige Verwaltung. Die zentralistische Organisation dieses Staates unterstützten daher vor allem die Deutschösterreicher und die Ungarn. Allerdings verband jede der beiden Seiten damit andere Vorstellungen: Bezog sich der Zentralismus für die Magyaren auf Ungarn, so für die Deutschösterreicher und für die Krone auf die gesamte Habsburgermonarchie. Die kleineren »Völker« waren wiederum stärker föderalistisch orientiert und forderten die Anerkennung ihrer Autonomiebestrebungen. Die Doppelmonarchie war stark auf Kaiser Franz Joseph I. zugeschnitten. Dieser besaß zum Parlamentarismus ein sehr reserviertes Verhältnis und ließ sich erst 1867 zum König von Ungarn krönen, wobei der Festakt mit dem Eid auf die ungarische Verfassung verknüpft war. Zwar hatte die Konstitutionalisierung für eine Aufteilung der Macht gesorgt, doch waren die Rechte des Monarchen immer noch sehr groß. So besaß er noch immer ein Sanktions- bzw. Vetorecht bei der Gesetzgebung, ferner ein Notverordnungs- und Ausnahmerecht. Außerdem ernannte bzw. entließ er die Minister, selbst wenn das Parlament die Regierungstätigkeit kontrollieren durfte. Reichsrat und Landtage wurden vom Kaiser einberufen, eröffnet, vertagt, geschlossen und auch aufgelöst. Der Zentralismus zeigte sich zudem daran, dass keine Landesregierungen existierten, sondern allein dem Kaiser und dem Kabinett untergebene Statthalter oder Landespräsidenten. Die Landtage der österreichischen Reichshälfte – in Ungarn gab es diese, abgesehen vom kroatischen Sabor, nicht – besaßen darüber hinaus kein Budgetrecht.

Vgl. Galántai, Dualismus; Rumpler, Grenzen, S. 3; Malfèr, Konstitutionalismus, S. 17 – 38; Brauneder, Verfassungsentwicklung, S. 169 – 225; Lászlo, Verfassungsentwicklung, S. 295 ff.; Stourzh, Dualismus; Kap. I/1, Anm. 43.

40 Dieser Begriff begann sich im späten 19. Jahrhundert zu verbreiten – gerade mit Blick auf die Habsburgermonarchie. Er findet sich in so unterschiedlichen Büchern wie der beliebten »sprachpflegerischen« Schrift Allerhand Sprachdummheiten (1891) des Philologen Gustav Wustmann und der 1906 veröffentlichten Studie Vereinigte Staaten von Groß-Österreich des aus Siebenbürgen stammenden Publizisten Aurel Popovici. Popovici, der zum engen persönlichen Umfeld des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand gehörte, sprach etwa von der Notwendigkeit, »aus unserem Völkerbrei einen modernen Staat zu machen« – wobei Popovici, im Gegensatz zu Hitler, nicht die ethnische Vielfalt Österreich-Ungarns diffamierte, sondern deren angemessene politische Gestaltung forderte. 1918 bezeichnete schließlich auch der aus Lublin stammende Publizist Georg Cleinow in seiner Zeitschrift Die Grenzboten Österreich als einen »brodelnde[n] Völkerbrei«.

Vgl. Wustmann, Sprachdummheiten, S. 74; Popovici, Staaten, Zitat S. 331; Cleinow, Kriegszielpolitik, Zitat S. 152; Bled, Ferdinand, S. 211 – 213. 

42 Aufgrund des begrenzten Wohnraums, der starken Teuerung und des fehlenden Mieterschutzes waren Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit in Wien vor 1914 ein relativ häufiges Phänomen. Kubizek schildert, wie sehr das Wohnungselend Hitler bewegte; er habe gegen Bodenspekulanten und ausbeuterische Vermieter polemisiert und Entwürfe für verbesserte Arbeiterunterkünfte gezeichnet. Wahrscheinlich war Hitler selbst kurzzeitig ohne Unterkunft: Bis zum 18. 11. 1908 lebte er gemeinsam mit Kubizek in der Stumpergasse bei der Vermieterin Maria Zakreys, anschließend bis zum 20. 8. 1909 bei der Vermieterin Helene Riedl in der Felberstraße und schließlich, seit dem 22. 8. 1909, bei der Vermieterin Antonia Oberlechner in der Sechshauser Straße, wo er bis zum 16. 9. 1909 blieb und dann vermutlich die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Möglicherweise war er in Wien vorübergehend auch bei Verwandten einquartiert – bei seinen Taufpaten Johann und Johanna Prinz, die entfernt mit ihm verwandt waren und in der Löwengasse 28 wohnten. Im Herbst 1909 lebte er laut eigenen Angaben in einem Polizeiprotokoll von 1910 im Obdachlosenasyl in Meidling.

Vgl. Kubizek, Hitler, S. 175, 209 – 216; Jetzinger, Jugend, S. 79; Hamann, Wien, S. 196, 206, 222, 247; Sigmund, Diktator, S. 149 f.

43 In Wien lebten um 1910 etwa zwei Millionen Menschen, die sich auf rund 400.000 Wohnungen verteilten. Diese bestanden aber häufig aus lediglich einem oder zwei Zimmern und Küche, in denen dann oft über ein Dutzend Personen lebten. Hauptmieter versuchten nicht selten, durch Einkünfte von Untermietern oder »Bettgehern« ihre eigene Miete zu finanzieren. Nur etwa 5 % der Behausungen in Wien hatten fließendes Wasser und eine Toilette in der Wohnung, bei den meisten anderen gab es gemeinschaftliche Sanitäranlagen in Hausfluren oder Hinterhöfen. Hauptursachen dieser Verelendung waren die industrielle Revolution, der rasante demografische Wandel, die Verarmung breiter bäuerlicher Schichten aufgrund von Verschuldung unrentabel gewordener Höfe sowie Lohndumping bei Handwerkern. Gerade in den neu entstehenden Fabriken herrschten oft unmenschliche Arbeitsbedingungen. Da die Löhne niedrig blieben, waren auch Kinder gezwungen, zum Familieneinkommen beizutragen. Die Arbeit dauerte täglich 12 – 16 Stunden, Arbeitsschutzvorkehrungen existierten lange Zeit kaum. Die Unterkünfte der Arbeiter waren überfüllt und unhygienisch, Krankheiten (insbesondere Tuberkulose) grassierten, Armut und Hoffnungslosigkeit förderten Kriminalität und Prostitution. Erst langsam wurden Staat und Gesellschaft auf diese Probleme aufmerksam und suchten mittels Gesetzgebung bzw. Armenfürsorge dieser Entwicklung gegenzusteuern.

Vgl. Sauberer, Bevölkerungsentwicklung, S. 116; Hamann, Wien, S. 49; Maderthaner, Lebenswelten, S. 507 f.; Anm. 60, 180 in diesem Kapitel; Kap. I/10, Anm. 95; Kap. I/11, Anm. 189.

44 Diese verunglückte Formulierung fiel schon zeitgenössischen Kritikern Hitlers auf. In seiner 1935 in Amsterdam veröffentlichten Hitler-Biografie bemerkte der emigrierte Schriftsteller Rudolf Olden: »In so ein paar Worten sind mehr Fehler, als sich in einem ganzen Aufsatz richtigstellen läßt. Eine Natter hat keine Klammern, und eine Schlange, die einen Menschen umklammern kann, hat keine Giftzähne. Wenn aber ein Mensch von einer Schlange gewürgt wird, so lernt er doch dadurch nie ihre Zähne kennen. Der Volksschullehrer, der die Arbeiten einer Klasse von Hitlers zu korrigieren hätte, müßte über Fässer von roter Tinte verfügen«. Ähnlich äußerte sich im selben Jahr auch der bekannte Satiriker Walter Mehring. Allerdings dürfte es Hitler hier weniger um die Richtigkeit seiner Aussage im biologischen Sinn gegangen sein, sondern eher darum »zu verdeutlichen, was anhaltende materielle Not ist; ein Schicksal, das nicht nur erdrückend wirkt, sondern dem Betroffenen auch noch mit giftigen Bissen zusetzt.«

Vgl. Olden, Hitler, Zitat S. 140; Mehring, Mitternachtstagebuch, S. 88 f.; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 8. 2014, »War Adolf Hitler ein guter Schriftsteller?« (Zitat).

45 Vor den sozialen Umbrüchen des 18. und 19. Jahrhunderts konnten und wollten die oberen Schichten auf Dauer nicht die Augen verschließen. Neugier und Sensationslust führten gar zu regelrechten »Expeditionen« in die Elendsquartiere der großen Städte, für die selbst Reiseführer Hinweise druckten. Im viktorianischen England gab es dafür sogar den Begriff des »Slumming«. Hinzu kam auch echte, oft christlich motivierte soziale Anteilnahme. Auch in Wien existierten – nicht zuletzt wegen der defizitären Sozialgesetzgebung – etwa 250 Wohlfahrtsvereine, deren Vorsitzende oft Frauen waren, darunter der 1880 gegründete Verein gegen Verarmung und Bettelei, zu dessen Mitgliedern Aristokraten und Großindustrielle zählten, aber auch Schriftsteller-

innen wie Marie von Ebner-Eschenbach oder Politiker wie Victor Adler. Führend in dieser frühen Form des »Fundraising« war damals Pauline von Metternich, die nicht nur in Fragen der Mode als Vorbild galt, sondern auch permanent Benefizveranstaltungen initiierte, die zu ihrer in Wien sprichwörtlichen Popularität beitrugen. Dazu gehörten Kostümbälle, Redouten sowie Theater- und Musikaufführungen, bei denen sie selbst manchmal als Mann verkleidet auftrat oder Karl Lueger parodierte, sowie der Wiener Blumenkorso – ein Umzug, bei dem geschmückte Wagen mit den Repräsentanten der Oberschicht gegen Gebühr die Prater Hauptallee hinunterfuhren. Solche Spendenaktionen waren Hitler ein Dorn im Auge, dienten sie neben dem karitativen Zweck doch immer auch der Befriedigung der Eitelkeit, ohne an der Wurzel des Übels etwas Grundlegendes zu ändern. Zudem waren viele Philanthropen und Wohltäter in Wien jüdischer Herkunft wie die Familien Rothschild, Todesco und Wittgenstein oder der Bankier Moritz Freiherr von Königswarter, der dem Verein zur Errichtung und Unterhaltung von Wärmestuben 100.000 Gulden spendete. Diese Wärmestuben soll auch Hitler benutzt haben.

Vgl. Hanisch, Buddy, S. 240; Ackerl, Salonkultur, S. 694 – 709; Leitner, Fürstin, S. 73 – 132; Koven, Slumming; Payer, »Schlammvierteln«, bes.S. 1 – 4; Kap. I/10, Anm. 265.

Hof in seiner blendenden Pracht wirkte ähnlich einem Magnet# 1930: Magnet ersetzt durch: Magneten auf Reichtum und Intelligenz des übrigen Staates. Dazu kam noch die starke Zentralisierung der Habsburgermonarchie39 an und für sich.

In ihr bot sich die# 1944: die ersetzt durch: eine einzige Möglichkeit, diesen Völkerbrei40 in fester Form zusammenzuhalten. Die Folge davon aber war eine außerordentliche Konzentration von hohen und höchsten Behörden in der Haupt- und Residenzstadt.

Doch Wien war nicht nur politisch und geistig die Zentrale der alten Donaumonarchie, sondern auch wirtschaftlich. Dem Heer von hohen Offizieren, Staatsbeamten, Künstlern und Gelehrten stand eine noch größere Armee von Arbeitern gegenüber, dem Reichtum der Aristokratie und des Handels eine blutige Armut. Vor den Palästen der Ringstraße lungerten Tausende von Arbeitslosen, und unter dieser via# 1937: via ersetzt durch: Via triumphalis41 des alten Österreich hausten im Zwielicht und Schlamm der Kanäle die Obdachlosen.42

Kaum in einer deutschen Stadt war die soziale Frage besser zu studieren als in Wien.43 Aber man täusche sich nicht. Dieses »Studieren« kann nicht von oben herunter geschehen. Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.44 Im anderen Falle kommt nichts heraus als oberflächliches Geschwätz oder# 1944: oder ersetzt durch: und verlogene Sentimentalität. Beides ist von Schaden. Das eine, weil es nie bis zum Kerne des Problems zu dringen vermag, das andere, weil es an ihm vorübergeht. Ich weiß nicht, was verheerender ist: die Nichtbeachtung der sozialen Not, wie dies die Mehrzahl der vom Glück Begünstigten oder auch durch eigenes Verdienst Gehobenen tagtäglich sehen läßt, oder jene ebenso hochnäsige wie manchmal wieder zudringlich taktlose, aber immer gnädige Herablassung gewisser mit dem »Volk empfindender« Modeweiber45 in Röcken und Hosen. Diese Menschen sündigen jedenfalls mehr, als sie in ihrem instinktlosen Verstande überhaupt nur zu begreifen vermögen. Daher ist dann zu ihrem eigenen Erstaunen das Ergebnis einer durch sie betätigten sozialen »Gesinnung« immer null# 1944: null ersetzt durch: Null , häufig aber sogar empörte Ablehnung; was dann freilich als Beweis der Undankbarkeit des Volkes gilt.