Band I, Kapitel 2
Ich will nicht behaupten, daß die Art und Weise, in der ich sie kennenlernen sollte, mir besonders angenehm erschien. Noch sah ich im Juden nur die Konfession und hielt deshalb aus Gründen menschlicher Toleranz die Ablehnung religiöser Bekämpfung auch in diesem Falle aufrecht. So erschien mir der Ton, vor allem der, den die antisemitische Wiener Presse153 anschlug, unwürdig der kulturellen Überlieferung eines großen Volkes. Mich bedrückte die Erinnerung an gewisse Vorgänge# 1944: Vorgänge ersetzt durch: Vorfälle des Mittelalters154, die ich nicht gerne wiederholt sehen wollte. Da die betreffenden Zeitungen allgemein als nicht# 1944: als nicht ersetzt durch: nicht als hervorragend galten (woher dies kam, wußte ich damals selber nicht genau), sah ich in ihnen mehr die Produkte ärgerlichen Neides als Ergebnisse einer grundsätzlichen, wenn auch falschen Anschauung überhaupt.
Bestärkt wurde ich in dieser meiner Meinung durch die, wie mir schien, unendlich würdigere Form, in der die wirklich große Presse auf all diese Angriffe antwortete oder sie, was mir noch dankenswerter vorkam, gar nicht erwähnte, sondern einfach totschwieg.
Ich las eifrig die sogenannte Weltpresse (»Neue Freie Presse«155, »Wiener Tageblatt# 1933: Tageblatt ersetzt durch: Tagblatt «156 usw.) und erstaunte über den Umfang des in ihr dem Leser Gebotenen sowie über die Objektivität der Darstellung im einzelnen. Ich würdigte den vornehmen Ton und war eigentlich nur von der Überschwenglichkeit des Stils manches Mal innerlich nicht recht befriedigt oder selbst unangenehm berührt. Doch mochte dies im Schwunge der ganzen Weltstadt liegen.
Da ich Wien damals für eine solche hielt, glaubte# 1937: glaubte ersetzt durch: glaube;
1939: glaubte ich diese mir selbst gegebene Erklärung wohl als Entschuldigung gelten lassen zu dürfen.
Was mich aber manches Mal# 1930: manches Mal ersetzt durch: wiederholt abstieß, war die unwürdige Form, in der diese Presse den Hof umbuhlte.157 Es gab kaum ein Ereignis in der Hofburg, das da nicht dem Leser entweder in Tönen verzückter Begeisterung oder klagender Betroffenheit mitgeteilt wurde, ein Getue, das besonders, wenn es sich um den »weisesten Monarchen«158 aller Zeiten selber handelte, fast dem Balzen eines Auerhahnes glich.
Mir schien die Sache gemacht.
Damit erhielt die liberale Demokratie in meinen Augen Flecken.