Ein Ergebnis unserer Halbbildung <span class="pagenumber">[258]</span>

85 Hitlers Aussage erinnert stark an eine Textstelle in der Broschüre Die Juden in den Kriegs-Gesellschaften und in der Kriegs-Wirtschaft, die der Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbunds (DVSTB), Alfred Roth, 1921 unter dem Pseudonym Otto Armin veröffentlichte. In ihr warf Roth den »Judenblätter[n]« und »jüdischen Zeitschriften« vor, »krampfhaft in sogenannter ›Objektivität‹ [zu] machen und dadurch die Geister ständig neu zu verwirren«. Roth griff damit einen Vorwurf auf, der schon in der völkischen Bewegung des wilhelminischen Kaiserreichs erhoben worden war. So hatte der antisemitische Literaturwissenschaftler Adolf Bartels in der Schrift Heine-Genossen. Zur Charakteristik der deutschen Presse und der deutschen Parteien (1907) in dieselbe Kerbe geschlagen, indem er mit dem grobschlächtigen Argument aufwartete: »Im übrigen ist die jüdisch-deutsche Literaturwissenschaft noch weit befangener als ich, und sie heuchelt Objektivität, während ich aus meiner Subjektivität nie einen Hehl gemacht habe […].«

Vgl. Bartels, Heine-Genossen, Zitat S. 174; Armin, Juden (1921), Zitat S. 44 f.; Kap. I/3, Anm. 233; Kap. II/10, Anm. 8, 10.

86 Die seit 1856 publizierte Frankfurter Zeitung entwickelte sich im Kaiserreich zum zentralen, auch im Ausland hoch angesehenen Sprachrohr des liberalen Bürgertums. Zwischen 1875 und 1917 wuchs ihre Auflage von rund 20.000 auf 170.000 Exemplare. Beim Aufstieg des Blatts spielte die von Hitler angesprochene »Anständigkeit« tatsächlich eine wichtige Rolle. Der Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat bescheinigte schon 1925 der Frankfurter Zeitung, sich »in der Form […] in einem beinahe akademischen Rahmen« zu bewegen, »im deutlichen Bemühen, niemals die agitatorische, sondern die sachliche Begründung in den Vordergrund zu rücken, oder es doch so scheinen zu lassen«. Trotz einer oft hasserfüllten Ablehnung des Blatts in völkischen Kreisen wurde die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich nicht verboten, sondern erschien bis zum August 1943.  Auch die Eingriffe in die Zusammensetzung der Redaktion blieben gering. Erklärtes Ziel der NS-Führung war es, aus dem internationalen Renommee der Zeitung Profit zu schlagen. In einem Brief an Werner Best vom 9. 7. 1936 betonte der damalige Ministerialrat im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Alfred-Ingemar Berndt: »Die Schreibweise der Frankfurter Zeitung ist absichtlich so gehalten, daß sie im Ausland als oppositionell angehaucht gilt, da sie das einzige Blatt ist, mit dessen Hilfe wir mancherlei lancieren können und auch schon lanciert haben. Zur Erfüllung dieser Aufgabe muss man ihr schon eine gewisse Freiheit lassen. Wenn es zu bunt wird, schreiten wir jedes Mal ein«.

Vgl. Dovifat, Zeitungen, Zitat S. 63; Paupié, Zeitung, bes.S. 244 – 249; Gillessen, Zeitung; Siering, Zeitung, Zitat S. 39.

87 Hitlers Polemik ist nicht nur Ausdruck seines Anti-Intellektualismus, sondern zugleich eine Wendung gegen jene völkischen Personen und Gruppierungen, die sich nach außen um ein gemäßigtes Image bemühten. Dass dieser Anspruch in der Praxis häufig obsolet war, zeigt das Beispiel des DVSTB. Dieser behauptete 1919 zwar, seine Ziele »mit Ruhe und Vornehmheit der Kampfweise verfolgen« zu wollen, war jedoch immer wieder in gewaltsame Konflikte verwickelt, entfaltete eine hemmungslose antisemitische Hetzpropaganda und stand in engem Kontakt zu den Mördern von Walther Rathenau und Matthias Erzberger. Einzelnen Autoren des völkischen Lagers war es mit dem Bemühen um bildungsbürgerliche Umgangsformen und Diskursstandards jedoch ernst. Exemplarisch zeigt dies ein Brief des Dichters Börries Freiherr von Münchhausen an Hans Grimm, den Autor des Romans Volk ohne Raum, vom 19. 1. 1927. Münchhausen distanzierte sich darin von den »unsagbar einseitig eingestellte[n] und verrannte[n] Antisemiten« Adolf Bartels und Arthur Dinter, bezeichnete sich selbst jedoch als »deutsch-völkische[n] Autor«, der »im Judentum den furchtbarsten Feind unseres Volkes, seiner Sitte, seiner Ehre, seiner Kunst, seines Staates« erblicke. Der »Kampf gegen das Judentum«, so glaubte Münchhausen, dürfe jedoch »nur ritterlich und gerecht« geführt werden. Für eine Person wie Hitler, die Gewalt ideologisch rechtfertigte und sie als notwendige Voraussetzung für die dauerhafte Durchsetzung des Nationalsozialismus erachtete, war eine solche Haltung freilich undenkbar.

Vgl. Lohalm, Radikalismus, bes.S. 222 – 237; Schneider, Ballade; Plöckinger, Soldaten, Zitat S. 256; Vordermayer, Bildungsbürgertum, Zitate S. 68 – 70; Kap. II/5, Anm. 20.

lich-demokratischen Judenblätter, sich den Anschein der berühmten »Objektivität«# 1926: »Objektivität« ersetzt durch: Objektivität zu geben85, mieden peinlich alle Kraftworte, genau wissend, daß alle Hohlköpfe auch# 1930: gestrichen: auch bei allem anderen# 1926: gestrichen: bei allem anderen nur nach dem Äußeren zu urteilen vermögen und nie die Fähigkeit besitzen, in das Innere einzudringen, so daß für sie der Wert einer Sache eben# 1926: gestrichen: eben nach diesem Äußeren bemessen wird statt nach dem Inhalt; eine menschliche Schwäche, der sie glücklich ja# 1926: gestrichen: glücklich ja auch die eigene Beachtung verdanken.

Für diese Leute war und ist dann# 1926: gestrichen: dann freilich die »Frankfurter Zeitung« der Inbegriff aller Anständigkeit86; verwendet sie doch niemals rohe Ausdrücke, lehnt jede körperliche Brutalität ab und appelliert sie doch# 1926: gestrichen: sie doch immer an den Kampf mit den »geistigen« Waffen, der eigentümlicherweise gerade den geistlosesten Menschen am meisten am Herzen liegt.87 Es ist dies ein# 1926: Es ist dies ein ersetzt durch: Das ist ein Ergebnis unserer Halbbildung, die die Menschen von dem Instinkt der Natur loslöst, ihnen ein gewisses Wissen einpumpt, ohne sie aber zur letzten Erkenntnis führen zu können, da hierzu der Fleiß und gute Wille# 1930: der Fleiß und gute Wille ersetzt durch: Fleiß und guter Wille allein nichts zu nützen vermögen, sondern der nötige Verstand und zwar als angeboren da sein muß. Die letzte Erkenntnis aber ist immer nur# 1930: gestrichen: nur das Verstehen der Ursachen des Instinktes; das# 1930: der Ursachen des Instinktes; das ersetzt durch: Instinktursachen – das heißt: der Mensch wird dann# 1926: wird dann ersetzt durch: darf nie# 1930: nie ersetzt durch: niemals in den Irrsinn verfallen zu glauben, daß er wirklich nun# 1926: gestrichen: nun zum Herrn und Meister der Natur aufgerückt sei, wie der Dünkel einer Halbbildung dies so leicht vermittelt, sondern er wird dann erst recht# 1926: wird dann erst recht ersetzt durch: muß vor allem die fundamentale Notwendigkeit des Waltens der Natur verstehen, und begreifen, wie sehr auch sein Dasein diesen Gesetzen des ewigen Kampfes und Ringens nach oben unterworfen ist. Er wird dann fühlen, daß in einer Welt, in der Planeten um# 1933: um ersetzt durch: und;
1944: um Sonnen kreisen, Monde um# 1937: um ersetzt durch: und;
1939: um Planeten ziehen, in der immer nur die Kraft Herrin der Schwäche ist und sie zum gehorsamen Dienen# 1926: Dienen ersetzt durch: Diener zwingt oder zerbricht, für den Menschen nicht Sondergesetze gelten können. Auch für ihn walten die ewigen Grundsätze dieser letzten Weisheit. Er kann sie zu erfassen versuchen, sich von ihnen zu lösen vermag er niemals.88

Gerade für unsere geistige Halbwelt aber schreibt der Jude seine sogenannte Intelligenzpresse. Für sie sind die »Frankfurter Zeitung«