Die Psyche der Masse <span class="pagenumber">[42]</span>

113 Hitlers Vorstellung von der »Masse« war ambivalent: Er sah sie als Bedrohung wie als triumphale Kraft der Zukunft, die durch Disziplinierung und Formung seinem Willen untertan gemacht werden und einem übergeordneten Interesse dienen sollte. Die »Masse« war für ihn sowohl »feminin« und damit manipulierbar als auch Trägerin eines natürlichen »Instinkts« und Grundlage einer schlagkräftigen Parteiorganisation. Die zwiespältige Einschätzung der »Masse« war allerdings kein Spezifikum Hitlers und des Nationalsozialismus, vielmehr kennzeichnete diese Ambiguität alle faschistischen Bewegungen: »Neben der Fähigkeit zur Mobilisierung großer Menschenmassen steht die gleichzeitige Verachtung der Massen durch den Faschisten; er wendet sich an sie, fühlt sich aber gleichzeitig aus ihr erhoben, als Elite gegenüber der niedrigen ›Masse Mensch‹.« Auch in Mein Kampf überwiegt, bei aller Ambivalenz, eindeutig der abschätzige Blick auf »die Masse«.

Die Verachtung der »Masse« durchzieht bereits das Werk Psychologie des foules (1895) des französischen Soziologen Gustave Le Bon. 1908 erschien es in deutscher Übersetzung unter dem Titel Psychologie der Massen. Die Ursache für deren Verführbarkeit sah Le Bon in ihren heterogenen Strukturen und Meinungen; aufgrund der zunehmenden Säkularisierung und der wachsenden Bedeutung der Presse würde die moderne Massengesellschaft immer unberechenbarer. Mit seinen Thesen griff Le Bon wiederum Anregungen von Scipio Sighele auf, der sich in dem Werk Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen (ital. Fassung 1891, dt. Übersetzung 1897) vor allem den Themen Kriminalität und Masse widmete. Hitler selbst gab nicht preis, aus welchen Quellen seine Vorstellungen über Massenpsychologie stammten. Ob Hitler die Schriften Le Bons kannte, ist unklar.

Vgl. Sighele, Psychologie, S. 17 – 19; Le Bon, Psychologie, S. 107 – 111; Paul, Aufstand, S. 36 – 38; Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2, Zitat S. 8; Plöckinger, Rhetorik, S. 129 – 134; Zehnpfennig, Hitler (2011), S. 32; Kap. I/6, Anm. 24, 25, 28; Kap. II/4, Anm. 19; Kap. II/5, Anm. 27.

114 Hitler reproduziert hier das bürgerliche Modell der weiblichen und männlichen »Geschlechtscharaktere«, das auf einer starren, dichotomen Gegenüberstellung vorgeblich »natürlicher« Wesensunterschiede zwischen Frauen und Männern basierte. Im Zentrum standen hier Gegensatzpaare wie (weibliche) Emotionalität und (männliche) Rationalität, Gefühl und Geist, Passivität und Aktivität, Bescheidenheit und Tapferkeit sowie nicht zuletzt Gewähren und Begehren. Schon der Psychiatrieprofessor Richard von Krafft-Ebing vertrat in diesem Kontext in seiner einflussreichen Schrift Psychopathia sexualis (1886) die Meinung, Frauen würden Männer nur in der »Rolle des Starken und Herrschenden« bewundern. Im selben Jahr äußerte der Philosoph Eduard von Hartmann in seinem Buch Moderne Probleme: »Noch weit schädlicher [als schwere körperliche Arbeit] wirkt anstrengende geistige Arbeit auf den weiblichen Organismus, denn das weibliche Gehirn und Nervensystem verträgt lange nicht soviel, wie das männliche, weshalb schon die Erziehung und geistige Ausbildung beider Geschlechter stets eine verschiedene bleiben muss.« Solcherlei Vorstellungen von der geistigen Unterlegenheit der Frau, ja gar von ihrem »physiologischen Schwachsinn« – so der Psychiater Paul Julius Möbius in einem 1900 veröffentlichten Essay – hatte man bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich zu belegen versucht, etwa durch vergleichende Messungen des weiblichen und männlichen Gehirns. Frauen, die offensichtlich »männlichen« Intellekt besaßen, aber auch Männer, welche die Emanzipation der Frau befürworteten, galten weithin als »entartet«.

Vgl. Hartmann, Probleme, Zitat S. 40; Möbius, Schwachsinn; Kotze, Altjungfernkoller; Hausen, Polarisierung; Frevert, Geschlechter-Differenzen, bes.S. 13 – 60, 133 – 165; Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2, S. 8 – 12; Hanisch, Männlichkeiten, Zitat S. 158; Kap. I/10, Anm. 120.

116 Der Vorwurf des »geistigen Terrors« gegen die extreme Linke war nicht neu. Schon in seinem explizit gegen Sozialismus und die Weimarer Demokratie gerichteten Pamphlet Denkt Kinder und Enkel…! Eine Materialiensammlung zur Beurteilung der demokratischen und sozialistischen Politik (1919) glorifizierte der Publizist Fritz Stephan Neumann die DNVP als eine Partei, die »sich mit aller Entschlossenheit gegen den internationalen Gedanken« wende und »gegenüber dem geistigen Terror des Kommunismus die Freiheit der sittlichen und geistigen Persönlichkeit« vertrete. Von »geistigem Terror« konnte indes auch im Falle Wiens keine Rede sein, eher von einer antibürgerlichen kritischen Öffentlichkeit. So wachte die Arbeiter-Zeitung mit Argusaugen über die Wiener Stadtverwaltung, vor allem über deren Auftragsvergaben, und behauptete, die Verwaltung sei in hohem Maße korrupt. Der Aufstieg der Sozialdemokratie in Österreich und insbesondere in Wien vor dem Ersten Weltkrieg war aber weniger das Resultat erfolgreicher antibürgerlicher Pressekampagnen als vielmehr der Schwäche und Konzeptionslosigkeit der Christlichsozialen Partei, die nach dem Tod des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger in eine tiefe Krise stürzte. Die Suche nach einem Nachfolger wurde öffentlich ausgetragen, Wahlmanipulation, Korruption und Patronage wurden bekannt und von der Presse genüsslich kommentiert.

Vgl. Neumann, Kinder, S. IV, 181 – 188, Zitat S. 187 (Herv. i. Orig.); Boyer, Lueger (2010), S. 303 – 333; Benesch, Partei, S. 26 – 33. 

Entfernung der Blick für die inneren Ursachen der sozialdemokratischen Erfolge. Nun begriff ich die Bedeutung der brutalen Forderung, nur rote Zeitungen zu halten, nur rote Versammlungen zu besuchen, rote Bücher zu lesen usw.112 In plastischer Klarheit sah ich das zwangsläufige Ergebnis dieser Lehre der Unduldsamkeit vor Augen.

Die Psyche der breiten Masse113 ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache.

Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht114, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden115, und fühlt sich im Inneren# 1944: Inneren ersetzt durch: Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen, der sie sich endlich immer beugt.

Wird der Sozialdemokratie eine Lehre von besserer Wahrhaftigkeit [sic!] aber gleicher Brutalität der Durchführung entgegengestellt, wird diese siegen, wenn auch nach schwerstem Kampfe.

Ehe nun# 1933: nun ersetzt durch: nur zwei Jahre vergangen waren, war mir sowohl die Lehre als auch das technische Werkzeug der Sozialdemokratie klar.

Ich begriff den infamen geistigen Terror116, den diese Bewegung vor allem auf das solchen Angriffen weder moralisch noch seelisch gewachsene Bürgertum ausübt, indem sie auf ein gegebenes Zeichen immer ein förmliches Trommelfeuer von Lügen und Verleumdungen gegen den ihr am gefährlichsten erscheinenden Gegner losprasseln läßt, so lange, bis die Nerven der Angegriffenen brechen, und sie, um nur wieder Ruhe zu haben, den Verhaßten opfern.

Allein die Ruhe erhalten die# 1944: die ersetzt durch: diese Toren dennoch nicht.