Ursachen der völkischen Zersplitterung <span class="pagenumber">[158]</span>

19 Ein Vorwurf gegen Albrecht von Graefe, den Hitler bereits am 17. 3. 1926 in einem offenen Brief im Völkischen Beobachter formuliert hatte. Graefe habe, so Hitler, trotz seiner Behauptung einer »Notwendigkeit der vollkommenen Einheit« der völkischen Bewegung 1922 »eine eigene neue Partei ins Leben« gerufen – die Deutschvölkische Freiheitspartei. Graefe habe jedoch schon damals die NSDAP, »ihre Tendenz und ihre Lehre«, gekannt. Anstelle hieraus »die logische Konsequenz« zu ziehen, habe Graefe das »Prioritätsrecht« der NSDAP missachtet und sich einer Eingliederung verweigert. Verärgert war Hitler damals auch über den Nationalsozialen Volksbund (NSVB), den Anton Drexler am 1. 5. 1925 in Konkurrenz zur NSDAP gegründet hatte und der mit Graefes Partei zusammenarbeitete. Hitler bekämpfte den NSVB besonders vehement, weil sich ihm etliche frühere Aktivisten der NSDAP angeschlossen hatten. Die NSDAP schickte nicht nur Gegenredner in die Versammlungen des NSVB, sondern sprengte 1925/26 auch mehrere seiner Veranstaltungen – etwa die vom 24. 2. 1926, dem Jahrestag der Gründung der NSDAP. Die Folge waren juristische Auseinandersetzungen, bei denen Hitler schließlich im November 1926 vom Vorwurf freigesprochen wurde, die Versammlung gesprengt zu haben. Er musste jedoch nach einem gerichtlichen Vergleich im Januar 1927 seine im Völkischen Beobachter veröffentlichten Beleidigungen gegen den NSVB zurücknehmen. Danach ließen die Spannungen zwischen NSDAP und NSVB merklich nach.

Vgl. Hitler, Reden, Bd. I, Dok. 111, Zitat S. 342; Bd. II/1, Dok. 66; Wulff, Freiheitspartei, S. 144 – 146; Rösch, NSDAP, S. 171 – 174.

20 Auf einer Sitzung des Völkischen Führerrings Thüringen am 20. 10. 1926 in Weimar führte Hitler diesen Aspekt weiter aus: Er beklagte, die DVFP sei »mit demselben Programm wie die bereits bestehende N.S.D.A.P.« gegründet worden und habe zudem die angeblich von ihm »geprägten Ausdrücke wie Volksgemeinschaft usw.« übernommen. In Wirklichkeit war der Begriff »Volksgemeinschaft« schon im 19. Jahrhundert verbreitet und war seit Beginn der Weimarer Republik in praktisch allen politischen Lagern geläufig. Auch war das Parteiprogramm der NSDAP vom 24. 2. 1920 keineswegs originell, sondern umfasste lediglich Gemeinplätze völkischer Agitation. Ein möglicher Adressat dieser Passage aus Mein Kampf könnte auch Anton Drexler sein. Graefe hatte am 28. 2. 1926 in einem offenen Brief an Hitler geschrieben, Drexler habe schon vor Hitler »das nationalsozialistische Banner mutvoll [sic!] in Deutschland entrollt«. Hitler reagierte darauf in seinem offenen Gegenbrief vom 17. 3. 1926, in dem er Drexler, der sich 1920 maßgeblich an der Formulierung des Programms der NSDAP beteiligt hatte, wider besseres Wissen jegliche Bedeutung für die NS-Bewegung absprach.

Vgl. Reichswart vom 6. 3. 1926 (Beilage), »Offener Brief an Adolf Hitler« (Zitat); Hitler, Reden, Bd. I, Dok. 111, S. 341; Bd. II/1, Dok. 39, Zitat S. 75; Kap. I/2, Anm. 128; Kap. I/12, Anm. 208, 210.

21 Graefe hatte bereits am 9. 10. 1924 in einem Brief an Hitler, der damals noch in Landsberg inhaftiert war, beklagt, die Nationalsozialisten würden die Einheit der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands (die damalige Verbindung von NSDAP und DVFP) unterminieren. In seinem offenen Brief vom 28. 2. 1926 forderte er Hitler dann auf, zu seiner »ehemaligen schlichten Größe« zurückzufinden; Hitler habe einst »der hinreißende Trommler« für Ludendorff sein wollen, »ohne dessen Mission selbst vorzugreifen«. In den Nationalsozialisten sah Graefe »zur Zeit Irregeführte«; er schloss seinen Brief mit der Auf‌forderung, »den Kampf fortzuführen für die Einheit und Reinheit der großen völkischen Bewegung«. Andernfalls müsse »die letzte Hoffnung auf eine Befreiung unseres deutschen Volkes aus seinen internationalkapitalistischen [sic!] Sklavenketten zerschellen«.

Vgl. Informationsbrief 48 des Landtagsabgeordneten R. Wulle vom 16. 2. 1925, »Unser Weg ohne Hitler«; Reichswart vom 6. 3. 1926 (Beilage), »Offener Brief an Adolf Hitler« (Zitat).

22 Nur in München konnte sich die NSDAP relativ rasch als einflussreichste politische Kraft des völkischen Lagers etablieren. Dies belegt etwa ihr recht rasches Wachstum – von 190 Mitgliedern im Januar 1920 auf 676 im Mai und schließlich 2.352 im Dezember 1920. Im Verlauf dieses Jahres gelang es ihr sogar, in München die bis dahin führende völkische Organisation propagandistisch zu überflügeln – den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund (DVSTB), der freilich außerhalb der bayerischen Hauptstadt nach wie vor dominierte: Seine Mitgliederzahl stieg von 30.000 (Ende 1919) auf 110.000 (Ende 1920), und schließlich knapp 170.000 Personen (1922). Die NSDAP gründete hingegen erst am 18. 4. 1920 in Rosenheim eine erste Ortsgruppe außerhalb Münchens. Erst nach dem Verbot des DVSTB in den meisten deutschen Ländern im Sommer 1922 kamen viele seiner Mitglieder auch außerhalb Münchens zur NSDAP.

Vgl. IfZ-Archiv, MA 1217: Mitgliederliste der NSDAP (um Mai 1920,, Abschrift vom 26. 8. 1933); Lohalm, Radikalismus, S. 89, 290 – 330, Franz-Willing, Ursprung, S. 192 f.; Madden, Characteristics, S. 36, Anm. 11; Manstein, Mitglieder, S. 115; Rösch, NSDAP, S. 79 f.; Kap. II/1, Anm. 45; Kap. II/11, Anm. 48; Kap. II/13, Anm. 13.

lohnenden Bissen, der vielleicht am Ende dieses Weges liegen könnte. Sowie sie dann herausgebracht, wo er etwa zu finden ist, machen sie sich eifrig auf die Beine, um auf einem anderen, womöglich schnelleren Weg zum Ziele zu kommen.

Ist nunmehr#1929: nunmehr ersetzt durch: nun die neue Bewegung begründet#1937: begründet ersetzt durch: gegründet;
1939: begründet;
1944: gegründet und hat sie ihr bestimmtes Programm empfangen, dann kommen jene Menschen und behaupten, dieses gleiche Ziel zu verfechten; doch beileibe nicht, indem sie sich redlich in die Reihen einer solchen Bewegung stellen und so die Priorität derselben anerkennen, sondern sie bestehlen das Programm und gründen darauf eine eigene neue#1944: gestrichen: neue Partei.19 Sie sind dabei unverschämt genug, der gedankenlosen Mitwelt zu versichern, daß sie schon lange vorher genau dasselbe gewollt hätten wie der andere, und nicht selten gelingt es ihnen, sich damit in günstiges Licht zu setzen, anstatt berechtigterweise der allgemeinen Verachtung zu verfallen. Denn ist es nicht eine große Unverfrorenheit, vorzugeben, die Aufgabe, die ein anderer auf seine Fahne geschrieben hat, auf die eigene zu schreiben, dessen programmatische Richtpunkte zu entlehnen, dann aber, als hätte er#1944: er ersetzt durch: man selbst dies alles geschaffen, seine eigenen Wege zu gehen?20 Die#1944: Die ersetzt durch: Diese Unverfrorenheit zeigt sich aber besonders darin, daß dieselben Elemente, die zuerst durch ihre Neugründungen die Zersplitterung verursacht haben, erfahrungsgemäß am allermeisten von der Notwendigkeit der Einigkeit und Einheit reden, sobald sie zu bemerken glauben, daß der Vorsprung des Gegners doch nicht mehr eingeholt werden kann.21

Solchem Vorgang ist die sogenannte »völkische Zersplitterung« zu verdanken.

Allerdings war die Bildung einer ganzen Reihe als völkisch bezeichneter Gruppen, Parteien usw. im Jahre 1918/19#1944: 1918/19 ersetzt durch: 1918/1919 von den Gründern gänzlich unverschuldet aus der natürlichen Entwicklung der Dinge heraus erfolgt. Aus ihnen allen hatte sich schon im Jahre 1920 die N.S.D.A.P.#1937: N. S. D. A. P. ersetzt durch: NSDAP. als Siegerin langsam herauskristallisiert.22 Die grundsätzliche Redlichkeit jener einzelnen Gründer konnte nun durch nichts glänzender bewiesen werden als durch den bei vielen wahrhaft bewundernswerten Entschluß, der stärkeren Bewegung die