Sind Gewerkschaften notwendig? <span class="pagenumber">[250]</span>

11 In Hitlers Politik nach 1933 galt keine der bestehenden Gewerkschaften als »richtig«. Unmittelbar nach der »Machtergreifung« versuchten die Gewerkschaften trotz zunehmender Übergriffe, unter den neuen politischen Rahmenbedingungen einen Rest ihrer Handlungsspielräume zu erhalten. Noch am 30. 1. 1933 riefen alle Gewerkschaften gemeinsam dazu auf, »kühles Blut und Besonnenheit« zu bewahren: »Laßt Euch nicht zu voreiligen und darum schädlichen Einzelaktionen verleiten.« Die Freien Gewerkschaften verzichteten dementsprechend auf einen Generalstreik gegen die neue Regierung, lösten sich von der SPD und verkündeten, sie würden ihre »sozialen Aufgaben« unter jeder Regierung erfüllen. Dies schien jenen Bereichen zu entsprechen, die Hitler in Mein Kampf den Gewerkschaften als genuine Handlungsfelder zugebilligt hatte. Selbst an den Feiern zum »Tag der nationalen Arbeit« am 1. 5. 1933 nahmen Gewerkschaften noch teil, obwohl sich Überfälle auf ihre Funktionäre und Einrichtungen häuften. Trotz dieser »Kapitulation auf Raten« wurden die Gewerkschaften am 2. 5. 1933 endgültig zerschlagen und gewaltsam aufgelöst.

Vgl. Weber/ Schönhoven/ Tenfelde (Hrsg.), Quellen, Bd. 4, Dok. 169, Zitat S. 829 f., Dok. 187, 189; Potthoff, Gewerkschaften (1987), S. 302 f.; Winkler, Weg (1990), S. 920 – 929; Kittner, Arbeitskampf, S. 510 – 517.

12 Ähnlich betrachtete Arno Chwatal bereits 1924 die »völkischen Gewerkschaften […] als die Keimzelle für das kommende berufsständische Parlament«. Ein solch ständestaatliches Denken entwickelte sich in Ansätzen bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Als Reaktion auf die Klassenkampfideologie und vor den Erfahrungen der Kriegswirtschaft fand es jedoch vor allem seit Beginn der 1920er Jahre im rechten politischen Spektrum weite Verbreitung. Entsprechende Vorstellungen waren auch früh im Umfeld der DAP/NSDAP präsent und fanden Eingang in das Parteiprogramm; Punkt 25 forderte die »Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen Rahmengesetze in den einzelnen Bundesstaaten«. Gottfried Feder plädierte dann 1923 in seiner Erweiterung des Parteiprogramms für die »Bildung von berufsständischen Kammern«. Die Einflüsse auf die DAP waren vielfältig: Die Deutschsozialistische Partei hatte etwa schon in ihrem Programm vom Herbst 1919 sowohl eine Berufsvertretung (ständische Kammer) als auch ein Parlament (Volkskammer) gefordert. Die Zeitung Das Gewissen, das führende Organ der Jungkonservativen um Arthur Moeller van den Bruck, hatte zwischen 1923 und 1925 eine Beilage mit dem Titel Die ständische Bewegung. Moeller van den Bruck selbst propagierte in seiner Schrift Das dritte Reich (1923) den Ständestaat. Wesentliche Impulse kamen auch vom Wiener Nationalökonomen Othmar Spann, mit dem Feder in Verbindung stand und mit dessen Buch Klasse und Stand (1923) sich auch Rudolf Heß ausführlich beschäftigte. Darüber hinaus beriefen sich nationalsozialistische Autoren vor allem auf den Industriellen und späteren Vorsitzenden des Bayerischen Ordnungsblocks Paul Tafel, der in seiner Schrift Das neue Deutschland (1920) – die 1921 in Auszügen auch im Völkischen Beobachter veröffentlicht wurde – den Aufbau eines Ständestaats entwarf. Tafel, dessen Schriften Hitler schätzte, war bereits seit 1918 mit Anton Drexler bekannt und spätestens seit Frühjahr 1920 Mitglied der NSDAP.

Vgl. IfZ-Archiv, MA 1217: Mitgliederverzeichnis der NSDAP (um Mai 1920); Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 370; Mommsen (Hrsg.), Parteiprogramme, Zitat. S. 550; Feder, Staat (1919); [Brunner], Denkschrift, S. 2; VB vom 3. 3. 1920, »Berufsständische Vertretung«; vom 10. 4. 1921, »Ein Rätestaat auf nationaler Grundlage«; Jung, Sozialismus (1923), S. 153 f.; Feder, Staat (1923), Zitat S. 47; Chwatal, Kampfgewerkschaften, Zitat S. 21; Haubenberger, Ständepolitik, S. 5 – 7; Jöhr, Ordnung, S. 148 f.; Gerstenberger, Konservativismus, S. 345; Schulz, Aufstieg, S. 175 f.; Turner, Einstellung, S. 104; Kissenkoetter, Straßer, S. 26; Striesow, Volkspartei, S. 222; Heß, Briefe, S. 343; Nolte, Ordnung, S. 174 – 183, 193 f.; Senft, Vorfeld, S. 79 – 85; Döring, Arm, S. 32 – 34; Bauer, Nationalsozialismus, S. 92; Weiß, Antimoderne, S. 60 – 63; Kap. I/8, Anm. 17; Kap. I/12, Anm. 57.

13 Erst 1928 begann sich Hitlers Haltung gegenüber den Gewerkschaften zu ändern. Im August 1928 billigte er die Gründung einer Großdeutschen Gewerkschaft (Grodege) unter der Führung von Anton Rothenanger mit Sitz in Ingolstadt, die bis nach München ausgriff. Die Polizeidirektion München berichtete Ende Februar 1929, Hitler stehe »der Gründung der Grodege zwar nicht unsympathisch gegenüber, wünscht aber, dass sie zunächst mit der Partei nicht in engere Beziehung gebracht wird. Die Gründe liegen jedenfalls darin, dass Hitler fürchtet, dass die Gründung, wie schon vor 4 Jahren, wieder eingeht.« Tatsächlich beklagte sich die Grodege im April 1929 über mangelnde Unterstützung durch die Parteileitung und verwies darauf, dass sie nach wie vor auf eine am Parteitag 1927 versprochene Gewerkschaftstagung warte. Der Erfolg ihrer Münchner Ortsgruppe, die am 27. 1. 1929 gegründet wurde, blieb entsprechend gering. Lediglich zwischen 15 und 40 Personen erschienen bei den Versammlungen. Neben der Grodege entstanden seit 1928 von Berlin ausgehend vermehrt »wilde« Betriebszellen, die auf dem Nürnberger Parteitag vom 1. bis 4. 8. 1929 zur NSBO zusammengefasst wurden. Auch aufgrund innerparteilicher Widerstände erreichte die NSBO jedoch erst 1931 eine nennenswerte Größe. Hitlers Behauptung während des Parteitags, die NSBO sei ohnehin bereits eine Gewerkschaft unter anderem Namen, war nicht mehr als ein rhetorisches Entgegenkommen gegenüber dem linken Flügel der NSDAP. Die NSBO selbst wies diese Rollenzuschreibung zurück. Vielmehr betonte sie in ihrem Rundschreiben vom 31. 7. 1932: »Die N.S.B.O. ist keine Gewerkschaft, noch nicht einmal ein gewerkschaftsähnliches Gebilde, sondern sie war und ist die politische Kampfform der N.S.D.A.P. in den Betrieben, um Adolf Hitlers Idee zu verbreiten, den Betriebsmarxismus zu zerschlagen und brauchbare deutsche Arbeiterelemente für den Nationalsozialismus zu gewinnen.« Damit verschrieb sich die NSBO genau jener politischen Tätigkeit, die Hitler den Gewerkschaften eigentlich zum Vorwurf machte. Für die SPD waren Hitlers Eingeständnis in Mein Kampf, dass »er zunächst an der Möglichkeit der Zerschlagung der Gewerkschaften in Deutschland durch offenes Berennen verzweifle«, und die neue, von den Kommunisten übernommene Taktik der »Zellenbauerei« nur Belege für die Stärke der Freien Gewerkschaften. Tatsächlich hatte die NSBO Anfang 1933 lediglich rund 300.000 Mitglieder, also nur 5,2 % aller organisierten Arbeiter und Angestellten.

Vgl. BayHStA, MJu 13291: Bericht der Polizeidirektion München vom 23. 2. 1929 (Zitat); BA Berlin, NS 26/391: Schreiben der Grodege vom 16. 4. 1929; StA München, Pol. Dir. München 6850: Berichte der Polizeidirektion München aus 1929; BA Berlin, R 187/235: Statuten der Grodege; StA München, Pol. Dir. München 6850: Rundschreiben der Reichsorganisationsleitung der NSDAP, Haupt-Abteilung IV (Betriebszellen) vom 31. 7. 1932 (Zitat); Düwell, Gewerkschaften, Zitat S. 9; Turner, Einstellung, S. 111; Kratzenberg, Arbeiter, S. 78 – 89, 157 – 167; Frese, Betriebspolitik, S. 28 – 32; Bons, Nationalsozialismus, S. 284 – 292; Mai, Betriebszellen-Organisation, S. 167 f.; Plöckinger, Geschichte, S. 114, Anm. 491.

sucht werden. Es ging nicht an, sich weiterhin einfach mit Erkenntnissen zufrieden zu geben, sondern es war nötig, aus diesen praktische Folgerungen zu ziehen.

Es handelte sich um die Beantwortung folgender Fragen:

1. Sind Gewerkschaften notwendig?

2. Soll die N.S.D.A.P.#1937: N.S.D.A.P. ersetzt durch: NSDAP. selbst sich gewerkschaftlich betätigen oder ihre Mitglieder in irgendeiner Form einer solchen Betätigung zuführen?

3. Welcher Art muß eine nationalsozialistische Gewerkschaft sein? Was sind unsere Aufgaben und ihre Ziele?

4. Wie kommen wir zu solchen Gewerkschaften?

Ich glaube, die erste Frage eigentlich zur Genüge beantwortet zu haben. Wie die Dinge heute liegen, können meiner Überzeugung nach die Gewerkschaften gar nicht entbehrt werden. Im Gegenteil, sie gehören zu den wichtigsten Einrichtungen des wirtschaftlichen Lebens der Nation. Ihre Bedeutung liegt aber nicht nur auf sozialpolitischem Gebiet, sondern noch viel mehr auf einem allgemeinen nationalpolitischen. Denn ein Volk, dessen breite Massen#1937: Massen ersetzt durch: Masse;
1939: Massen;
1944: Masse durch eine richtige Gewerkschaftsbewegung die Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse, zugleich aber auch eine Erziehung erhalten#1937: erhalten ersetzt durch: erhält;
1939: erhalten;
1944: erhält, wird dadurch eine außerordentliche Stärkung seiner gesamten Widerstandskraft im Daseinskampf erlangen.11

Die Gewerkschaften sind vor allem notwendig als Bausteine des künftigen Wirtschaftsparlaments bzw.#1929: bzw. ersetzt durch: beziehungsweise der Ständekammern.12

Die zweite Frage ist ebenfalls noch leicht zu beantworten. Wenn die Gewerkschaftsbewegung wichtig ist, dann ist es klar, daß der Nationalsozialismus nicht nur rein theoretisch, sondern auch praktisch zu ihr Stellung nehmen muß. Allerdings ist dann das Wie schon schwerer zu klären.

Die nationalsozialistische Bewegung, die als Ziel ihres Wirkens den nationalsozialistischen völkischen Staat vor Augen hat, darf nicht im Zweifel darüber sein, daß alle künftigen Institutionen dieses Staates von einst aus der Bewegung selbst herauswachsen müssen.13 Es ist der größte Fehler, zu glauben, daß man plötzlich aus