Der Werdegang des Judentums <span class="pagenumber">[330]</span>

152 Hitler beschreibt hier eine Dichotomie der Rassen: Juden und Nichtjuden. Damit knüpft er an Überzeugungen des 19. Jahrhunderts an, als viele Rassenforscher eine »Reinheit« der »jüdischen Rasse« postulierten. Zwar wiesen selbst antisemitische Autoren schon recht früh darauf hin, die Juden seien »ein Mischlingsvolk mit stark vorherrschend kaukasischem Typus«, das nie »raçenrein« und unvermischt gewesen sei, so Wilhelm Marr 1862.  Das Judentum habe »sich seit der letzten Zerstörung Jerusalems nur unvermischter erhalten als andere Völker«. Diese Feststellung wurde allerdings immer wieder dahingehend interpretiert, dass aus den Juden schließlich doch eine homogene oder gar reine »Rasse« oder »Klasse« von Menschen geworden sei. So erklärte Dietrich Eckart, es gebe unter den Kulturvölkern »nur zwei Arten von Menschen«, und zwar »die Juden und – die übrigen«. Die Juden seien »eine ganz für sich abgeschlossene Klasse und als solche auch überall an der beispiellosen Unveränderlichkeit ihres Charakters zu erkennen«. Und Alfred Rosenberg behauptete: »[D]ie Persönlichkeit des Juden dagegen ist der einheitliche, dazu noch durch strenge Rassenzucht gesteigerte unveränderliche Faktor.« Solchen Vorstellungen war Felix von Luschan bereits in den 1890er Jahren in seinen Vorträgen entgegengetreten. 1922 schrieb er dann in seinem Buch Völker, Rassen, Sprachen: »Die Juden treten […] als ein Mischvolk in die Geschichte ein, und sie haben seither nie aufgehört, sich mit ihren jeweiligen Nachbarn und ›Wirtsvölkern‹ zu vermischen. Ich habe nie verstanden, warum so viele Juden und gerade auch die meisten Autoren von Schriften zur Judenfrage das nicht begreifen und warum sie mit so zäher Hartnäckigkeit immer und immer wieder die Einheitlichkeit und absolute Rassenreinheit des ›auserwählten Volkes‹ betonen.«

Vgl. Marr, Judenspiegel, S. 34, 46 (Zitat, Herv. i. Orig.); Chamberlain, Grundlagen, Bd. 1, S. 282, 412; Eckart, Jude, Zitat S. 14; Rosenberg, Spur, Zitat S. 54; Luschan, Völker, Zitat S. 166; Cavalli-Sforza, Verschieden, S. 364 – 367; Efron, Defenders, S. 20 – 23, 29; Hart, Science, S. 87 – 92; Essner, Gesetze, S. 50. 

153 Am 20. 6. 1823 wurde die Ehe zwischen Christen und Juden im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach legalisiert – unter der Bedingung, »daß die in einer solchen Ehe erzeugten Kinder in der christlichen Religion erzogen« würden. Goethe erfuhr davon offenbar erst im September 1823.  Der damalige Staatskanzler des Großherzogtums und Freund Goethes, Friedrich von Müller, beschrieb die empörte Reaktion des Dichters am 23. 9. 1823 in seinem Tagebuch: »Ich war kaum gegen 6 Uhr in Goethe’s Zimmer getreten […], als der alte Herr seinen leidenschaftlichen Zorn über unser neues Judengesetz, welches die Heirath zwischen beiden Glaubensverwandten gestattet, ausgoß. Er ahndete die schlimmsten und grellsten Folgen davon, behauptet, wenn der Generalsuperintendent Karakter [sic!] habe, müsse er lieber seine Stelle niederlegen[,] als eine Jüdin in der Kirche im Namen der heiligen Dreifaltigkeit trauen. Alle sittlichen Gefühle in den Familien, die doch durchaus auf den religiösen ruhten, würden durch ein solch scandaloses [sic!] Gesetz untergraben.« Mit solchen antijüdischen Aussagen versuchten völkische Ideologen wie Houston Stewart Chamberlain und Theodor Fritsch, Goethe für den Antisemitismus zu vereinnahmen. Dessen Verhältnis zum Judentum war jedoch in Wirklichkeit ambivalent. Einerseits teilte er einige antisemitische Vorurteile seiner Zeit und war ein Gegner der Judenemanzipation; andererseits hatte er Hochachtung vor jüdischen Gelehrten und pflegte freundschaftlichen Umgang mit gebildeten Juden.

Vgl. Großherzoglich Sachsen Weimar-Eisenachsche Verordnung, Zitat S. 446 (Herv. i. Orig.); Burkhardt (Hrsg.), Unterhaltungen, Zitat S. 57 f.; Chamberlain, Grundlagen, Bd. 1, S. 397 f.; Fritsch (Hrsg.), Handbuch, S. 72; Wilson, Haltung; Homann, Goethe, bes.S. 80; Varga, Judenbild; Hartung, Verhältnis.

154 Den rhetorisch-pathetischen Einschub »wahrhaftiger Gott« verwendete auch Dietrich Eckart in seinen Schriften. Zudem gedachte dieser Goethes als »unsres größten Seelsorgers«. Bemerkenswerterweise genoss Goethe bei vielen Völkischen trotz seiner opportunistischen Haltung während der Herrschaft Napoleons I. großes Ansehen. Alfred Rosenberg bezeichnete ihn als »größten aller Deutschen«, und Goebbels schwärmte am 29. 4. 1924 in seinem Tagebuch: »Goethe ist noch immer mein größter deutscher Lehrmeister. Goethe als junger Student wäre heute bestimmt Nationalsozialist.«

Vgl. Goebbels, Tagebücher, Teil I, Bd. 1/I, Zitat S. 128; Eckart, Judentum, Zitat S. 31; Eckart, Jude, S. 59; Rosenberg, Spur, Zitat S. 51, 147; Seibt, Goethe, S. 39 ff.; Töppel, Sachsen, S. 180 f.

156 Gemeint ist offenbar eine Entwicklung des 18. Jahrhunderts, als sich Deutsch in jüdischen Gemeinden allmählich als Zweitsprache durchsetzte. Bis dahin hatten die deutschen Juden Westjiddisch gesprochen, Hebräisch galt als Sakralsprache. Erst der Aufklärer Moses Mendelssohn übersetzte die hebräische Bibel ins Deutsche. Um den deutschen Juden die Kenntnis der Landessprache nahezubringen, ihnen aber zugleich den Zugang zu erleichtern, wurde die übersetzte Bibel in hebräischen Lettern gedruckt. Im Lauf des 19. Jahrhunderts führte das in Deutschland entstandene Reformjudentum auch Synagogengottesdienste in deutscher Sprache ein. Deutsch entwickelte sich so allmählich von der Zweit- zur Primär- und Muttersprache der deutschen Juden. Da Philosophen und Sprachforscher wie Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt nicht rassistisch dachten, sondern überzeugt waren, dass die Sprache die nationale Identität mitgestalte, wurde den deutschen Juden infolge der Übernahme des Deutschen als Muttersprache die Entwicklung eines deutschen Nationalbewusstseins attestiert.

Vgl. Roemer, Sprachverhältnisse; Schatz, Vorgeschrieben; Kremer, Juden, S. 39 f., 53 f.; Aptroot/ Gruschka, Jiddisch, S. 29 – 30, 36 – 39, 76, 78 – 79.

158 Mit dem Aufkommen des biologistischen Rassismus veränderte sich auch das Verständnis von Sprache. Hatten Philosophen der Aufklärung noch verkündet, die Sprache sei das wichtigste Merkmal einer Nation, behaupteten völkische Rassisten nunmehr, lediglich das Blut bzw. die »Rasse« habe Bestand; die Sprache sei hingegen »ein Gewand«, das gewechselt werden könne. Diese Metapher wurde besonders in Theodor Fritschs Zeitschrift Hammer immer wieder gebraucht, etwa in einem im Oktober 1903 anonym erschienenen Aufsatz über den Nationalitätenstreit in Österreich-Ungarn: »Die Sprache ist immerhin nur ein Gewand des Geistes; und ein Sprach-Wechsel kann nicht viel anders auf uns wirken als ein Kleidungs-Wechsel.« Fast gleichlautend schrieb Norbert Jahn in einem wenige Monate später im Hammer veröffentlichten Artikel, »der Jude« würde jüdisch bleiben von Geschlecht zu Geschlecht, auch wenn er tschechisch spreche. Die Sprache sei ihm nur ein Gewand. Zuweilen verstrickten sich völkische Antisemiten allerdings in Widersprüche: So heißt es in einem Hammer-Artikel vom Juni 1912, Juden würden sehr gut Fremdsprachen erlernen und könnten die deutsche Sprache manchmal geschickter sprechen als die Deutschen selbst. Mitunter behaupteten Kultur- und Rassenforscher, Sprache und Sprechweise sei mit dem Blut verbunden, also rassisch bedingt. So hieß es in dem Aufsatz Rasse und Sprache, der im September 1906 im Hammer veröffent-licht wurde, die Sprache müsse »ursprünglich durch die physiologische Eigentümlichkeit der Rasse zunächst ihres Gehirnes, ihrer Sprach-Organe und etwa ihrer Hör-Organe bedingt sein«. Ähnliche Aussagen finden sich bei Hans F. K. Günther und Oswald Spengler. Die moderne Forschung hat festgestellt, dass die Fähigkeit, eine Fremdsprache zu erlernen, zum Teil genetisch bedingt ist, da mehr als 25 Gene die Sprachfähigkeit eines Menschen beeinflussen. Allerdings ist dieser biologische Faktor keineswegs mit »Rassen« verbunden, da jeder Mensch individuell davon beeinflusst ist und die genetischen Unterschiede innerhalb einer Ethnie zum Teil größer sind als zwischen Individuen verschiedener Ethnien. Zudem wird die Sprach-Lernfähigkeit von zahlreichen anderen Faktoren beeinflusst, zu denen das Alter, die Erziehung und die sozialen Kontakte ebenso zählen wie der individuelle Aufwand, den ein Mensch zu leisten bereit ist.

Vgl. Zum Nationalitäten-Streit in Österreich, Zitat S. 451; Sprache und Geist, S. 291; Thießen, Rasse, Zitate S. 545; Spengler, Untergang, Bd. 2, S. 148; Günther, Rassenkunde (1923), S. 368; Wladika, Vätergeneration, S. 53; Kremer, Juden, S. 99; Hollmann, Language, S. 61 – 78; Ellis, Understanding, S. 104 – 121; Jenkins, Biolinguistics, S. 17; Kremer, Blood Talks, S. 403, 417. Zu Hitlers Ablehnung einer »Germanisation« durch Sprache vgl. Kap. II/2, S. 18 – 21 sowie die dortige Kommentierung.

159 Wenn Hitler vom jüdischen Streben nach Reinhaltung des Blutes spricht, blendet er mehrere Tatsachen aus: Zum einen verhinderte die Rechtslage, etwa die des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, lange Zeit Ehen zwischen Juden und Christen. Erst die Einführung der Zivilehe in Deutschland 1874/75 legalisierte die jüdisch-christliche Mischehe. Zum anderen stießen Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden in der deutschen Gesellschaft auf geteilte Meinungen. Zwar sprachen sich selbst einige Antisemiten für die Mischehe aus, weil sie darin eine Möglichkeit erblickten, durch »Blutsvermischung« die »Stammesgegensätze« zwischen Juden und Christen auszugleichen, wie Heinrich von Treitschke 1880 schrieb; doch lehnten gerade Völkische die Ehe zwischen Juden und Nichtjuden strikt ab, da sie angeblich eine »Verjudung« und die Vermehrung der Macht des Judentums zur Folge hätte. Schließlich unterschlägt Hitler, dass »die Juden« keine homogene Gruppe darstellten. Innerhalb des Judentums gab es zum Teil sehr unterschiedliche Auffassungen über Mischehen und »Rassenvermischung«. Orthodoxe Juden lehnten Mischehen aus religiösen Gründen ab; liberale Reformjuden forderten vor dem Hintergrund der Judenemanzipation hingegen eine Zulassung der jüdisch-christlichen Mischehe. Selbst unter jüdischen Eugenikern waren die Meinungen geteilt. So beklagte der Mediziner Felix Aaron Theilhaber, ein Protagonist der »Rassenhygiene«, in seiner Schrift Der Untergang der deutschen Juden (1911) die starke Ausbreitung der Mischehe. Diese zeige, so Theilhaber, dass es mit dem »Rassenbewußtsein« der Juden zu Ende gehe. Solchen Stimmen standen jedoch Aussagen anderer jüdischer Eugeniker gegenüber, die das »jüdische Blut« durch Mischehen auffrischen und dadurch den vermeintlichen Degenerationsprozess der »jüdischen Rasse« stoppen wollten. Für völkische Antisemiten spielten solche innerjüdischen Meinungsverschiedenheiten indes keine Rolle, im Gegenteil: Juden, die Mischehen ablehnten, schienen die Behauptung zu bestätigen, »der Jude« wolle seine »Rasse« rein halten. Befürworteten Juden hingegen Mischehen, argumentierten Antisemiten, sie täten dies nur, um das deutsche Volk zu »verjuden«.

Vgl. Theilhaber, Untergang, S. 153; Heuß, Weg, S. 39; Boehlich (Hrsg.), Antisemitismusstreit, S. 81; Meiring, Mischehe, S. 16 – 73; Przyrembel, Rassenschande, S. 33 – 42. 

h) In der Judenheit beginnt sich nun# 1926: nun ersetzt durch: jetzt ein Wandel zu vollziehen. Sie waren bisher Juden, d.h. man legte keinen Wert darauf, als etwas anderes erscheinen zu wollen und konnte dies auch nicht bei den so überaus ausgeprägten Rassemerkmalen auf beiden Seiten.152 Noch in der Zeit Friedrichs des Großen fällt es keinem Menschen ein, im# 1930: im ersetzt durch: in den Juden etwas anderes als das »fremde« Volk zu sehen, und noch ein# 1926: gestrichen: ein Goethe ist entsetzt bei dem Gedanken, daß künftig die Ehe zwischen Christen und Juden nicht mehr gesetzlich verboten sein soll.153 Nun war aber Goethe# 1926: Nun war aber Goethe ersetzt durch: Goethe aber war denn doch, wahrhaftiger Gott154, kein Rückschrittler oder gar Helot# 1944: Helot ersetzt durch: Zelot 155; was aus ihm sprach, war nichts anderes als die Stimme des Blutes und der Vernunft. So erblickt trotz# 1930: erblickt trotz ersetzt durch: erblickte – trotz aller schmachvollen Handlungen der Höfe das Volk im Juden instinktiv den fremden Körper im eigenen Leibe und stellt# 1930: stellt ersetzt durch: stellte sich demgemäß auch zu ihm ein.

Nun aber sollte dies anders werden. Im Laufe von mehr als tausend Jahren hatte# 1930: hatte ersetzt durch: hat er die Sprache des Gastvolkes so weit beherrschen gelernt156, daß er es# 1930: eingefügt: nun wagen zu können glaubt, sein Judentum künftig etwas weniger zu betonen und sein »Deutschtum« mehr in den Vordergrund zu stellen; denn so lächerlich, ja aberwitzig es zunächst auch erscheinen mag, so# 1930: gestrichen: so nimmt er sich dennoch die Frechheit heraus und verwandelt sich nun# 1926: gestrichen: nun in einen »Germanen«, in diesem Falle also in einen »Deutschen«. Damit setzt eine der infamsten Lügen# 1930: Lügen ersetzt durch: Täuschungen ein, die sich nur# 1930: gestrichen: nur denken läßt. Da er vom Deutschtum wirklich nichts besitzt als die Kunst, seine Sprache (in dabei noch fürchterlicher Weise)# 1926: (in dabei noch fürchterlicher Weise) ersetzt durch: – noch dazu in fürchterlicher Weise – zu radebrechen157, im übrigen aber niemals sich mit ihm vermengte, beruht mithin sein ganzes Deutschtum nur auf der Sprache allein.158 Nun liegt aber die Rasse eben# 1926: Nun liegt aber die Rasse eben ersetzt durch: Die Rasse aber liegt nicht in der Sprache, sondern ausschließlich im Blute, etwas, das niemand besser weiß als der Jude, der gerade auf die Erhaltung seiner Sprache nur sehr wenig Wert legt, hingegen alles# 1930: alles ersetzt durch: allen Wert auf die Reinhaltung seines Blutes.159 Man kann einem Menschen# 1930: Man kann einem Menschen ersetzt durch: Ein Mensch kann ohne weiteres die Sprache ändern [sic!], d.h. er kann sich einer anderen bedienen; allein er wird dann eben# 1926: gestrichen: eben in seiner neuen Sprache die alten Gedanken ausdrücken, sein inneres Wesen wird nicht verändert. Dies zeigt am allerbesten der Jude, der in tausend Sprachen reden kann und dennoch immer der eine Jude