Der Verfall des Theaters <span class="pagenumber">[274]</span>

163 Hitler radikalisiert hier ein Ideologem, das auf das einflussreiche Werk Entartung (2 Bde., 1892/ 93) des jüdischen Arztes Max Nordau zurückgeht und seither in der konservativen und völkischen Kulturkritik sehr oft aufgegriffen wurde: die Pathologisierung der modernen Kunst. Nordau sah in ihr eine von mehreren Manifestationen der »Degeneration« und »Entartung«, die er in Anlehnung an den französischen Arzt Bénédict Augustin Morel als »krankhafte Abweichung von einem ursprünglichen Typus« und als allgemeines Signum seiner Zeit verstand. »Die Entarteten«, so Nordau, seien »nicht immer Verbrecher, Prostituierte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler«. Als Musterbeispiel des »entarteten« Künstlers galt ihm Richard Wagner. Dieser schien Nordau »mit einer größeren Menge Degeneration vollgeladen« zu sein »als alle anderen Entarteten zusammengenommen […]«; der »Krankheitszustand« der Entartung zeige sich in dem Komponisten »mit unheimlicher Vollständigkeit und in üppigster Entfaltung«. Während sich in diesem Punkt die Wahrnehmung Nordaus von der des Wagner-Verehrers Hitler klar unterscheidet, findet sich Hitlers Assoziation von moderner Kunst mit Gehirnschäden bereits in der Studie Nordaus. Diesen galten die neuen Tendenzen in Kunst und Literatur als Ausdruck von »Mystizismus« und »Ich-Sucht«, die er als Krankheitsbilder organisch bis auf die Zellstruktur des Gehirns und auf falsch geleitete neurologische Reize zurückführen zu können glaubte.

Vgl. Nordau, Entartung, Bd. 1, Zitate S. VII, 32, 307; Hamann, Wien, S. 119 – 124; Bernheimer, Subjects, bes.S. 155 – 162; Zudrell, Kulturkritiker, bes.S. 67 – 82; Person, Blick, S. 127 f.; Wildmann, Körper, S. 108 f.; Kap. I/2, Anm. 59.

164 Hitler dürfte hier vor allem das 1888 errichtete Hof-Burgtheater am Wiener Universitätsring vor Augen haben, für dessen Architektur er sich schon früh begeisterte. Das Hof-Burgtheater verweigerte sich unter den von 1898 – 1910 bzw. 1912 – 1917 amtierenden Direktoren Paul Schlenther und Hugo Thimig weitgehend modernen Impulsen und war um große Werktreue bemüht – ein traditionalistischer Ansatz, der auch Hitlers Vorbehalten gegen moderne Inszenierungen und seiner Ablehnung des experimentellen Theaters entsprach. Am 25. 4. 1908 besuchte er mit August Kubizek eine Aufführung von Goethes Faust II, die Hitler laut Kubizek sehr bewegte und möglicherweise auch diese Stelle in Mein Kampf beeinflusste. Aber auch in der facettenreichen Theaterszene des Kaiserreichs gab es traditionalistische Impulse, die Hitlers Kunstideal nahekamen. Zu nennen ist etwa das erfolg- und einflussreiche Meininger Hoftheater unter der Ägide Herzog Georgs II. von Sachsen-Meiningen, das sich an dem Ideal historisch korrekter Theateraufführungen orientierte, dem gemäß Regisseur und Schauspieler eine nur reproduzierende, dienende Funktion haben und der dichterische Urtext möglichst authentisch wiedergegeben werden sollte.

Vgl. Kubizek, Hitler, S. 227; Wagner/ Vacha, Aufführungen, S. 83; Hamann, Wien, S. 99 f., Biccari, Theaterdiskurse, S. 107 – 126; Kern/ Koch, Hoftheater; 108; Erck, Geschichte, bes.S. 40 – 57; Eisermann, Kainz, S. 220 f., 304 f. Zur Vorstellung einer »Verprostituierung der Kunst« durch das moderne Theater vgl. Anm. 136 in diesem Kapitel.

165 Im Theater des Kaiserreichs spielten Zutrittsverbote für Jugendliche höchstens eine marginale Rolle. Denkbar ist, dass etwa die Veranstalter »pikanter« Chansons und Tanzdarbietungen vereinzelt zu dieser vorbeugenden Maßnahme griffen, um mögliche Konflikte mit der Polizei zu umgehen. Der Staat setzte hingegen auf Vorzensur und verbot im Einzelfall Stücke, die angeblich die öffentliche Ordnung bedrohten oder als »unzüchtig« galten. So durfte Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen – von der konservativen Kulturkritik häufig unter Pornografieverdacht gestellt – erst uraufgeführt werden, nachdem für die Bühnenfassung anstößige Begriffe ersetzt worden waren: In der 1906 von Max Reinhardt an den Berliner Kammerspielen uraufgeführten Fassung wurde etwa der »Beischlaf« zur »Fortpflanzung« und das »Abortivmittel« zum »Geheimmittel«. 1908 war das Stück auch am Deutschen Volkstheater in Wien zu sehen. Hitler besuchte gemeinsam mit August Kubizek eine der Aufführungen. Nach Kubizeks Darstellung echauffierte sich Hitler über Wedekinds Thematisierung jugendlicher Sexualität, in die scharfe Kritik an der bürgerlichen Sexualmoral verwoben war. Folgt man Kubizek, nahm Hitler die Aufführung zum Anlass, das Wiener Prostituiertenviertel am Spittelberg zu besuchen, um sich den dortigen »Pfuhl der Laster« aus nächster Nähe anzusehen. Die staatliche Vorzensur des Theaters wurde erst in der Weimarer Republik abgeschafft – eine Voraussetzung für die Uraufführung von Arthur Schnitzlers skandalträchtigem, schon 1897 verfassten Bühnenwerk Reigen am 23. 12. 1920 am Kleinen Schauspielhaus in Berlin.

Vgl. Kubizek, Hitler, S. 281 f.; Seehaus, Wedekind, bes.S. 60 – 64, 219 f., 298 – 304; Hamann, Wien, S. 108 f., 522 f.; Brauneck, Stellung, S. 70 – 81, 108 – 110; Berghahn, Kaiserreich, S. 213 – 215.

verbänden«# 1926: »Kunstverbänden« ersetzt durch: Kunstverbänden präsidieren. Diese Seuche konnte damals nicht auftauchen, weil weder die öffentliche Meinung dies geduldet noch der Staat ruhig zugesehen hätte. Denn dies# 1926: dies ersetzt durch: es ist eine Sache des Staates, also seiner Leitung# 1930: eine Sache des Staates, also seiner Leitung ersetzt durch: Sache der Staatsleitung , zu verhindern, daß ein Volk dem geistigen Wahnsinn in die Arme getrieben werde# 1930: werde ersetzt durch: wird . Dabei# 1926: Dabei ersetzt durch: Hier;
1930: Bei diesem aber müßte eine derartige Entwicklung doch eines Tages enden. An dem Tage nämlich, an dem diese Art von Kunst wirklich der allgemeinen Auffassung entspräche, wäre eine der schwersten# 1930: schwersten ersetzt durch: schwerwiegendsten Wandlungen der Menschheit eingetreten; die Rückentwicklung des menschlichen Gehirns hätte damit begonnen, das Ende aber vermöchte man sich kaum auszudenken.163

Sowie man aber erst# 1926: Sowie man aber erst ersetzt durch: Sobald man erst von diesem Gesichtspunkte# 1937: Gesichtspunkte ersetzt durch: Gesichtspunkt;
1939: Gesichtspunkte aus die Entwicklung unseres Kulturlebens seit den letzten 25# 1939: 25 ersetzt durch: fünfundzwanzig Jahren vor dem Auge vorbeiziehen läßt, wird man mit Schrecken sehen, wie sehr wir bereits in dieser Rückbildung begriffen sind. Überall stoßen wir auf Keime, die den Beginn von Wucherungen darstellen# 1930: darstellen ersetzt durch: verursachen , an denen unsere Kultur früher oder später zugrunde gehen muß. Auch in ihnen können wir die Verfallserscheinungen einer langsam abfaulenden Welt erkennen. Wehe den Völkern, die dieser Krankheit nicht mehr Herr zu werden vermögen!

Solche Erkrankungen konnte man in Deutschland fast auf allen Gebieten der Kunst und allgemeinen# 1930: gestrichen: allgemeinen Kultur# 1930: eingefügt: überhaupt feststellen. Alles schien hier den Höhepunkt schon überschritten zu haben und dem Abgrunde zuzueilen. Das Theater sank zusehends tiefer und wäre wohl schon damals restlos als Kulturfaktor ausgeschieden, hätten nicht wenigstens die Hoftheater sich noch gegen diese Verprostituierung# 1930: diese Verprostituierung ersetzt durch: die Prostituierung der Kunst gewendet.164 Sieht man von ihnen und einigen weiteren rühmenswerten Ausnahmen ab, so waren die Darbietungen der Schaubühne solche# 1930: solche ersetzt durch: derart , daß es für die Nation zweckmäßiger gewesen wäre, ihren Besuch ganz zu meiden. Es war ein trauriges Zeichen des inneren Verfalls, daß man die Jugend in die meisten dieser sogenannten »Kunststätten« gar nicht mehr schicken durfte, was dann# 1926: gestrichen: dann auch ganz schamlos offen zugegeben wurde mit der allgemeinen Panoptikum-Warnung# 1937: Panoptikum-Warnung ersetzt durch: Panoptikumwarnung;
1939: Panoptikum-Warnung : »Jugendliche haben keinen Zutritt«!165

Man bedenke, daß man solche Vorsichtsmaßnahmen an den Stätten üben mußte, die ja# 1926: gestrichen: ja in erster Linie für die Bildung der Jugend