Das Wesen der sozialen Tätigkeit <span class="pagenumber">[28]</span>

59 Der Begriff der »Entartung« erfreute sich seit der Jahrhundertwende in kulturkritischen und -pessimistischen Schriften großer Popularität. Hierzu trug maßgeblich Max Nordaus Schrift Entartung (2 Bde., 1892/93) bei, in der gerade das damalige moderne Kunst- und Kulturleben scharf attackiert und pauschal diffamiert wurde. Der Begriff der »Entarteten Kunst« richtete sich gegen sehr verschiedene Kunstrichtungen der Moderne, etwa gegen Impressionismus, Expressionismus und Kubismus sowie – nach dem Ersten Weltkrieg – im Besonderen gegen den Dadaismus und die Neue Sachlichkeit. In demonstrativer Abkehr von allen Formen der Avantgarde-Kunst gründete die NSDAP 1928 den Kampfbund für deutsche Kultur, der bis zu seiner Auflösung im Jahr 1934 von Alfred Rosenberg geleitet wurde. Während der NS-Herrschaft legitimierte der Begriff »Entartete Kunst« eine Kulturpolitik, die mit aggressiver Intoleranz all das verfolgte, beschlagnahmte oder zerstörte, was nicht dem eigenen, eng begrenzten Kunst- und Kulturbegriff entsprach. In diesem Sinne führte Hitler am 18. 7. 1937 anlässlich der Eröffnung der »Großen Deutschen Kunstausstellung« aus: »Wir werden von jetzt ab einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung. […] Nun aber werden – das will ich Ihnen hier versichern – alle die sich gegenseitig unterstützenden und damit haltenden Cliquen von Schwätzern, Dilettanten und Kunstbetrügern ausgehoben und beseitigt. Diese vorgeschichtlichen prähistorischen Kultur-Steinzeitler und Kunststotterer mögen unseretwegen in die Höhlen ihrer Ahnen zurückkehren, um dort ihre primitiven internationalen Kritzeleien anzubringen.« Einen Tag später eröffnete in München die Ausstellung »Entartete Kunst«, die bis November 1937 rund zwei Millionen Besucher zählte (der Eintritt war kostenlos) und die in den Jahren 1938 – 1941 mit unterschiedlichen Exponaten in mehreren deutschen Städten zu sehen war. In seiner Funktion als Ausstellungsleiter und Präsident der Reichskammer für bildende Künste bezeichnete der Maler Adolf Ziegler bei der Eröffnung der Münchner Ausstellung die gezeigten Kunstwerke als »Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtkönnertums und Entartung«.

Vgl. Zuschlag, Ausstellungsstrategien; Hein, Kunstkritik; Gimmel, Organisation, S. 13 – 107; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 178 – 189; Engelhardt, Ausstellung, Zitate S. 95; Grüttner, Reich, S. 356 – 400; Kap. I/10, S. 273 sowie die dortige Kommentierung. Zum Begriff der »Entartung« bei Max Nordau vgl. Kap. I/10, Anm. 163.

nisse trauriger Gesetze; wobei mich die Schwere des eigenen, doch nicht leichteren Lebenskampfes davor bewahrte, nun etwa in jämmerlicher Sentimentalität vor den verkommenen Schlußprodukten dieses Entwicklungsprozesses zu kapitulieren.

Nein, so soll dies nicht verstanden werden.

Schon damals ersah ich, daß hier nur ein doppelter Weg zum Ziele einer Besserung dieser Zustände führen könne:

Tiefstes# 1939: Tiefstes ersetzt durch: tiefstes;
1944: Tiefstes soziales Verantwortungsgefühl zur Herstellung besserer Grundlagen unserer Entwicklung, gepaart mit brutaler Entschlossenheit in der Niederbrechung unverbesserlicher Auswüchslinge [sic!].

So wie die Natur ihre größte Aufmerksamkeit nicht auf die Erhaltung des Bestehenden, sondern auf die Züchtung des Nachwuchses, als dem Träger# 1937: dem Träger ersetzt durch: des Trägers der Art, konzentriert, so kann es sich auch im menschlichen Leben weniger darum handeln, bestehendes Schlechtes künstlich zu veredeln, was bei der Veranlagung des Menschen zu neunundneunzig Prozent unmöglich ist, als darum, einer kommenden Entwicklung gesündere Bahnen von Anfang an zu sichern.

Schon während meines Wiener Existenzkampfes war mir klar geworden# 1944: klar geworden ersetzt durch: klargeworden , daß

die soziale Tätigkeit nie und nimmer in ebenso lächerlichen wie zwecklosen Wohlfahrtsduseleien ihre Aufgabe zu erblicken hat, als vielmehr in der Beseitigung solcher grundsätzlicher# 1939: grundsätzlicher ersetzt durch: grundsätzlichen;
1944: grundsätzlicher Mängel in der Organisation unseres Wirtschafts- und Kulturlebens, die zu Entartungen59 einzelner führen müssen oder wenigstens verleiten können.

Die Schwierigkeit des Vorgehens mit letzten und brutalsten Mitteln gegen das staatsfeindliche Verbrechertum liegt ja nicht zum wenigsten gerade in der Unsicherheit, die# 1930: Unsicherheit, die ersetzt durch: Unsicherheit des Urteils über die inneren Beweggründe oder Ursachen solcher Zeiterscheinungen vorhanden ist# 1930: gestrichen: vorhanden ist [sic!].

Diese Unsicherheit ist nur zu begründet im Gefühl einer eigenen Schuld an solchen Tragödien der Verkommenheit; sie lähmt aber nun jeden ernsten und festen Entschluß und hilft so mit an der,