Im Elternhaus <span class="pagenumber">[2]</span>

7 Der Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm war am 26. 8. 1806 von französischen Besatzungstruppen in Braunau standrechtlich erschossen worden. Anlass für das Todesurteil, das auf Befehl Napoleons erging, war die Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung (1806), die Palms Buchhandlung verlegt hatte und die zum Widerstand gegen die napoleonische Besatzung aufrief. Da sich Palm weigerte, den anonymen Autor preiszugeben, wurde er am 22.  8. in die Braunauer Festung überstellt und dort vier Tage später exekutiert. Palm galt seitdem als Paradebeispiel eines deutschen Patrioten, aber auch als Märtyrer der Meinungs- und Pressefreiheit. Seit 1866 erinnert in Braunau ein von dem Münchner Bildhauer Konrad Knoll geschaffenes Denkmal an Palm. Hitler bezog sich bereits in den Jahren 1923/24 mehrfach auf Palms Schrift, deren Titel im 19. Jahrhundert zu einem geläufigen Schlagwort patriotischer Texte geworden war. Auch Frontzeitungen des Ersten Weltkriegs griffen es auf. So beschwor Die Somme-Wacht, die Feldzeitung der 1.  Armee, der auch Hitlers Regiment angehörte, im Februar 1917 ihre Leser: »Nie werden wir das deutsche Elsass-Lothringen, das wir in den Zeiten von Deutschlands tiefster Erniedrigung verloren, wieder zurueckgeben.«

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 534, 626; Die Somme-Wacht vom 25. 2. 1917, »Was hat uns der Krieg gebracht und was wird er uns bringen?, III. Teil«; Echternkamp, Aufstieg, S. 192 – 194; Mühlen, Justizmord, S. 19 – 31, 42 – 56, 68 – 81, 100 – 109; Hahn/ Berding, Reformen, S. 117 f.; Dura/ Poser, Palm.

8 Albert Leo Schlageter, ein Kriegsfreiwilliger des Jahres 1914, war als Leutnant aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Während der Jahre 1919 – 1921 kämpfte er als Angehöriger verschiedener Freikorps im Baltikum, im Ruhrgebiet und in Oberschlesien. Seit Januar 1923 engagierte er sich als Mitglied der Organisation Heinz am Kampf gegen die französisch-belgische Ruhrbesetzung. Dazu gehörten auch die Sabotage des Zugverkehrs nach Frankreich, die »Überwachung und Verfolgung des französischen Spitzeldienstes« und sehr wahrscheinlich einzelne Fememorde. Nachdem Schlageter am 7. 4. 1923 von der französischen Sûreté festgenommen worden war, wurde er am 9. 5. von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und am 26. 5. standrechtlich erschossen. Schlageters Hinrichtung – die einzige Hinrichtung eines deutschen Attentäters während des »Ruhrkampfs« – sorgte in der deutschen Öffentlichkeit für großes Aufsehen. Schlageter wurde zu einer Kultfigur, deren Verehrung sich keineswegs auf die deutsche Rechte beschränkte. So sprach Karl Radek in einer Plenums-Sitzung der Kommunistischen Internationale von Schlageter als einem »Märtyrer des deutschen Nationalismus«. Die NSDAP stilisierte Schlageter zu einem »Blutzeugen« und vereinnahmte ihn bald für ihre Propaganda, auch wenn Hitler den »Ruhrkampf« stets abgelehnt hatte und nie eindeutig geklärt werden konnte, ob Schlageter Mitglied der NSDAP war.

Vgl. Hürten (Bearb.), Krisenjahr, Dok. 16; Franke, Schlageter, S. 37 ff.; Zwicker, Märtyrer, S. 32 – 139; Wiechert, Schlageter, bes.S. 44 – 67; Kap. II/15, Anm. 47.

9 Diese Analogie zwischen Palm und Schlageter hat es nie gegeben. Einiges spricht dafür, dass Schlageter in erster Linie eigener Unvorsichtigkeit zum Opfer fiel. So benutzte er in Hotels mehrfach seinen richtigen Namen, obgleich er im Besitz eines falschen Passes war. Auch eine 1933 initiierte Untersuchung der Gestapo Düsseldorf kam am 7. 7. 1935 zu dem Ergebnis, »Schlageter und seine Kameraden [hätten] es im Ruhrgebiet häufig an der erforderlichen Sorgfalt fehlen« lassen und ihr Schicksal durch eigene »Unvorsichtigkeit« heraufbeschworen. Es sei daher »anzunehmen, dass die Franzosen durch eigene Beobachtung einen Teil der Organisationsmitglieder festgestellt und so den Aufbau teilweise kennen gelernt« hätten.

Vgl. Franke, Schlageter, Zitat S. 54 (Herv. i. Orig.); Zwicker, Märtyrer, S. 57 – 60. 

10 Die Polizeibehörde Augsburg, seit dem 28. 6. 1806 geleitet von Ferdinand Freiherr von Andrian-Werburg, wurde im Juli 1806 durch einen Spitzel – vermutlich handelte es sich um den Rechnungskommissar Joseph Michael von Grauvogl – über die Auslage antinapoleonischer Flugschriften (darunter Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung) in einigen Buchhandlungen der Stadt informiert. Am 16. 7. verfügte Andrian-Werburg die Beschlagnahme der Schriften, wobei unter anderem ermittelt wurde, dass die von Karl Friedrich von Jenisch geführte Stegesche Buchhandlung zwölf Ausgaben der von Palm verlegten Schrift bezogen und neun Exemplare davon verkauft hatte. Andrian-Werburg denunzierte Jenisch jedoch nicht, ebenso wenig wie den ihm unbekannten Nürnberger Buchhändler Palm, vielmehr plädierte er in seinem Bericht an das General-Landes-Kommissariat dafür, dass »die Augsburger Buchhändler […] für den ersten Fall noch mit der gesetzmäßigen Strafe verschont« bleiben sollten. Dieses Schreiben wurde am 27. 7. jedoch an Maximilian von Montgelas weitergeleitet, der es dem französischen Gesandten in München, Louis-Guillaume Otto, zur Kenntnis brachte. Dieser benachrichtigte den französischen Kriegsminister Louis-Alexandre Berthier, der wiederum Napoleon über den Fall informierte. Wie wenig dies den Absichten Andrian-Werburgs entsprach, zeigt dessen mutiges Verhalten, nachdem er von Napoleons Befehl Kenntnis erhielt, die Buchhändler in Augsburg und Nürnberg als Hochverräter hinzurichten: Andrian-Werburg legte Beschwerde bei dem französischen Stadtkommandanten General René ein, setzte durch, dass der inhaftierte Buchhändler Jenisch auch von bayerischen Einheiten bewacht wurde, um so den geplanten Abtransport zu verhindern, informierte am 13. 8. den bayerischen König Maximilian I. und warb mit Erfolg bei Montgelas dafür, dass wenigstens Jenisch nicht vor ein französisches Kriegsgericht, sondern vor ein Münchner Zivilgericht gestellt wurde.

Vgl. Andrian-Werburg, Andrian-Werburg, bes.S. 198 – 200; Mühlen, Justizmord, bes.S. 32 – 46, 57 – 62, Zitat S. 40. 

11 Carl Severing, vom 7. 11. 1921 bis 6. 10. 1926 preußischer Minister des Innern, gehörte bereits lange vor der Veröffentlichung von Mein Kampf zu Hitlers politischen Gegnern. Hitler griff ihn schon 1921 öffentlich an und warf ihm während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung implizit Landesverrat vor. So betonte er auf einer Münchner NSDAP-Versammlung vom 10. 4. 1923, wie gut es Severing verstehe, dem französischen Premierminister Raymond »Poincaré in die Arme zu arbeiten«. Indem Hitler Severing die Schuld für das Schicksal Schlageters anlastet, reproduziert er die von der damaligen Rechten häufig erhobene, haltlose Unterstellung, der SPD-Politiker trage die Verantwortung für Schlageters Verhaftung. Severing reagierte am 26. 9. 1925: Nach dem Vorbild der Bayerischen Staatsregierung erließ er ein öffentliches Redeverbot gegen Hitler in Preußen. Dieses Verbot stellte Hitler bis zu seiner Aufhebung am 27. 9. 1928 vor große Probleme, da es ihn seiner wichtigsten Einflussmöglichkeit beraubte.

Vgl. Severing, Lebensweg, Bd. 1, S. 428 f.; Hitler, Reden, Bd. I, Dok. 6, 11, 113; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 217, 221, 508, Zitat S. 876; Alexander, Severing, bes.S. 688 – 692; Zwicker, Märtyrer, S. 57 f. mit Anm. 138; Kap. I/12, Anm. 211.

16 Alois Schicklgruber, am 7. 6. 1837 unehelich im niederösterreichischen Strones geboren, ließ sich ab 1850 in Wien zunächst zum Schuhmacher ausbilden. Seit 1855 diente er bei der österreichischen Finanzwache, die für die Überwachung der Zollgrenze zuständig war. 1864 wurde er zum Amtsassistenten für den Zolldienst ernannt und arbeitete anschließend in verschiedenen Zollämtern, darunter in Braunau am Inn, Passau und Linz. 1875 stieg er zum Zollamtsoffizial, 1892 zum Zollamtsoberoffizial auf. Im Jahr 1876 änderte er seinen Geburtsnamen in den Familiennamen seines Ziehvaters Johann Nepomuk Hiedler, allerdings in der Schreibweise »Hitler«. Über den verschlossenen Eindruck, den Alois Hitler unter Arbeitskollegen hinterließ, hat sich eine sprechende Aussage des Zollobersekretärs Hebenstreit vom 21. 6. 1940 erhalten, der 1881/82 im niederbayrischen Simbach mit Hitler zusammengearbeitet hatte: »Alois Hitler war uns allen unsympathisch. Er war sehr streng, genau, ja sogar Pedant im Dienst und ein sehr unzugänglicher Mensch. Außer Dienst verkehrten wir nicht mit ihm.« Alois’ Mutter war Maria Anna Schicklgruber (1795 – 1847), als Vater wurde posthum Johann Georg Hiedler (1792 – 1857) beurkundet. Wer Adolf Hitlers Großvater väterlicherseits war, lässt sich jedoch nicht mehr eindeutig bestimmen; infrage kommt auch Johann Nepomuk Hiedler. In diesem – spekulativen – Fall hätte Alois Hitler 1885 mit Klara Pölzl, einer Enkelin Johann Nepomuk Hiedlers, seine Nichte geheiratet. Wie stark sich Alois Hitler von seinen familiären Wurzeln distanzierte, geht nicht nur aus seiner Namensänderung hervor, sondern auch aus späteren Aussagen seiner Tochter Paula. Sie gab am 26. 5. 1945 zu Protokoll: »Unser Vater hat sich auch um die Verwandtschaft nicht gekuemmert. Nur die Verwandten muetterlicherseits waren fuer uns eigentliche Verwandte. […] Ich habe niemand von den Verwandten meines Vaters gekannt, so dass wir, meine [Halb-]Schwester Angela und ich, oefter gesagt haben: ›Wir wissen gar nicht, der Vater muss doch auch Verwandte haben.‹«

Vgl. IfZ-Archiv, MA 731: Niederschriften von Verwandten Hitlers über Begegnungen mit ihm; IfZ-Archiv, MA 1298/10: Besprechung zwischen Mr. Albrecht und Frl. Paula Hitler, 26. 5. 1945, Zitat S. 4; Jetzinger, Jugend, S. 45 – 47; Hamann, Wien, S. 66 f.; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 31 – 35, 40 f.

feind.7 Hartnäckig hatte er sich geweigert, seine Mit-, besser Hauptschuldigen anzugeben. Also wie Leo Schlageter.8 Er wurde allerdings auch, genau wie dieser, durch einen Regierungsvertreter an Frankreich denunziert.9 Ein Augsburger Polizeidirektor erwarb sich diesen traurigen Ruhm10 und gab so das Vorbild neudeutscher Behörden im Reiche des Herrn Severing.11

In diesem von den Strahlen deutschen Märtyrertums vergoldeten Innstädtchen, bayerisch dem Blute# 1937: bayerisch dem Blute ersetzt durch: bayrisch dem Blut;
1939: bayerisch dem Blute , österreichisch dem Staate nach, wohnten am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts meine Eltern12; der Vater als pflichtgetreuer Staatsbeamter, die Mutter im Haushalt aufgehend und vor allem uns Kindern13 in ewig gleicher liebevoller Sorge zugetan. Nur wenig haftet aus dieser Zeit noch in meiner Erinnerung, denn schon nach wenigen Jahren mußte der Vater das liebgewonnene# 1939: liebgewonnene ersetzt durch: liebgewordene;
1944: liebgewonnene Grenzstädtchen wieder verlassen, um innabwärts zu gehen und in Passau eine neue Stelle zu beziehen; also in Deutschland selber.14

Allein das Los eines österreichischen Zollbeamten hieß damals häufig »wandern«. Schon kurze Zeit später kam der Vater nach Linz und ging endlich dort auch in Pension. Freilich »Ruhe« sollte dies für den alten Herrn nicht bedeuten. Als Sohn eines armen, kleinen Häuslers hatte es ihn schon einst nicht zu Hause gelitten. Mit noch nicht einmal dreizehn Jahren schnürte der damalige kleine Junge sein Ränzlein und lief aus der Heimat, dem Waldviertel, fort. Trotz des Abratens »erfahrener« Dorfinsassen war er nach Wien gewandert, um dort ein Handwerk zu lernen. Das war in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ein bitterer Entschluß, sich mit drei Gulden15 Wegzehrung so auf die Straße zu machen ins Ungewisse hinein. Als der Dreizehnjährige aber siebzehn alt geworden war, hatte er seine Gesellenprüfung abgelegt, jedoch nicht die Zufriedenheit gewonnen. Eher das Gegenteil. Die lange Zeit der damaligen Not, des ewigen Elends und Jammers festigte den Entschluß, das Handwerk nun doch wieder aufzugeben, um etwas »Höheres« zu werden.16 Wenn nun# 1926: gestrichen: nun einst dem armen Jungen im Dorfe der Herr Pfarrer als Inbegriff aller menschlich erreichbaren Höhe erschien, so nun in der den Gesichtskreis