Bismarcks Rußlandpolitik <span class="pagenumber">[318]</span>

71 Als Reichskanzler bemühte sich Bismarck tatsächlich immer wieder um ein Bündnis mit Russland. Dieses war für ihn Voraussetzung für ein stabiles Gleichgewicht und einen dauerhaften Frieden in Europa. Dementsprechend wehrte er sich entschieden gegen die Idee eines Präventivkriegs, den um 1880 selbst führende Sozialdemokraten wie Wilhelm Liebknecht forderten, um Russlands Streben nach europäischer Hegemonie einzudämmen. In seinen Gedanken und Erinnerungen schrieb Bismarck unter anderem: »Mit Frankreich werden wir nie Frieden haben; mit Rußland nie die Notwendigkeit des Krieges, wenn nicht liberale Dummheiten oder dynastische Missgriffe die Situation fälschen.« Und: »Zwischen Deutschland und Rußland existiren [sic!] keine Verschiedenheiten der Interessen, welche die Keime von Conflicten und eines Bruches unabweislich in sich trügen.«

Vgl. Bismarck, Gedanken, Zitate S. 134, 363; Hildebrand, Bismarck, bes.S. 10 – 14; Groepper, Sturz, bes.S. 150 f.

73 Hitler pries auch in seinen Reden immer wieder Bismarcks Staatskunst. Privat äußerte er sich im Juni 1924 gegenüber Rudolf Heß jedoch deutlich kritischer: Bismarck, so Hitler, sei für ihn »kein Riese; er bewundere ihn auch durchaus nicht so, wie das sonst üblich wäre. Selbst auf dessen engstem Gebiet könne er ihm nicht immer zustimmen.« Bismarck hatte in Hitlers Geschichtsbild zwar große Bedeutung als Führerpersönlichkeit, und Hitler berief sich auf den »Eisernen Kanzler« mit Vorliebe, wenn er das parlamentarische System kritisierte. Bismarcks Russlandpolitik lehnte er jedoch entschieden ab. Außerdem hielt Hitler das Fehlen einer »Weltanschauung« bei Bismarck für ein Manko. Uneingeschränkte Verehrung brachte er hingegen Friedrich dem Großen entgegen. Dieser war für ihn ein »Wundergenie« und »genialer Held«, ein Vorbild als Militär- und Staatsführer sowie als Förderer der Kunst, wobei Hitler besonders die Bautätigkeit unter Friedrich dem Großen mit ihrer politisch-repräsentativen Funktion bewunderte. Militärisch wurde Friedrich der Große für Hitler vor allem während des Zweiten Weltkriegs zur zentralen Leitfigur – vor allem mit Blick auf dessen Durchhaltevermögen, selbst in aussichtslos scheinenden Situationen. Jeden Gedanken an Kapitulation lehnte Hitler unter Berufung auf Friedrich den Großen ab. Von Friedensinitiativen, wie sie auch der Preußenkönig während des Siebenjährigen Kriegs unternommen hatte, wollte Hitler nichts wissen.

Vgl. Heß, Briefe, Zitat S. 334; Hitler, Reden, Bd. II A, Zitat S. 42; Barthel, Friedrich; Hirschmüller, Geschichte; Nübel, Bismarck-Mythos, S. 351 f., 356.

74 Tatsächlich war Bismarcks Interesse an Kolonialpolitik relativ gering. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Jahre 1884/85, als sich der Reichskanzler zum Erwerb einiger Kolonien in Afrika und Ozeanien entschloss. Auslöser dafür war Großbritanniens aggressive Kolonialpolitik, welche die deutschen Handelsinteressen gefährdete. Obwohl Bismarck eine Konfrontation mit Großbritannien nicht wollte, eröffneten ihm die britischen Ambitionen innen- wie auch außenpolitische Chancen, die er nutzen wollte: Da Großbritannien auch Frankreichs koloniale Interessen bedrohte, schien ein Ausgleich zwischen dem Deutschen Reich und seinem »Erbfeind« plötzlich möglich. Auch war Kolonialpolitik in der deutschen Öffentlichkeit sehr populär, was sich für die Reichstagswahl von 1884 nutzen ließ. Ein weiteres Motiv waren Bismarcks Differenzen mit dem anglophilen preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dem späteren Kaiser Friedrich III. Ihm gegenüber wollte er die englisch-deutschen Gegensätze zuspitzen und dabei seine Unentbehrlichkeit für die deutsche Außenpolitik beweisen. Bereits 1885 beendete Bismarck jedoch seine offensive Kolonialpolitik. Da die Ausgleichsbemühungen mit Frankreich an der revisionistischen Haltung der französischen Öffentlichkeit und Regierung gescheitert waren, wollte Bismarck das Verhältnis zu Großbritannien durch die Unterstützung französischer Interessen nicht weiter belasten.

Vgl. Baumgart, Bismarck; Lappenküper, Ausgleich; Conrad, Kolonialgeschichte, S. 22 – 28; Kap. I/4, Anm. 169; Kap. II/13, Anm. 27, 68.

75 Eine Reminiszenz an die traditionelle Deutung von Bismarcks Außenpolitik, die dieser selbst noch zu Lebzeiten verbreitet hatte: Demnach sei es ihm 1863 gelungen, sich der Freundschaft Russlands zu versichern, indem Preußen unter seiner außenpolitischen Leitung als einzige Großmacht das Zarenreich bei der Niederschlagung des polnischen Januaraufstands (1863/64) unterstützte (Alvenslebensche Konvention). Aus Dankbarkeit habe Russland wenig später »wohlwollende Neutralität« bewahrt, als Preußen in den Kriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) die Reichseinigung erkämpfte. Neue Forschungen haben indes gezeigt, dass die russische Diplomatie in Wirklichkeit in Opposition zu Bismarcks Politik stand, da Russland an der Erhaltung des Status quo in Europa interessiert war, insbesondere an der Aufrechterhaltung des deutschen Dualismus. Zwar bewahrte Russland während der deutschen Einigungskriege Neutralität, aber nur, weil der französische Kaiser Napoleon III. in der orientalischen Frage eine Verständigung mit Russland ablehnte, wohingegen Bismarck den Russen in dieser Angelegenheit seine Unterstützung zusagte. Bismarck »begrüßte« nicht nur die neutrale Haltung Russlands, wie Hitler schreibt; die russische Neutralität war vielmehr eine strategische Voraussetzung für Preußens außenpolitische Erfolge.

Vgl. Burgaud, Plädoyer, S. 98 f., 111 – 116; Burgaud, politique, S. 432, 434.

ebenso unsinnig wie unmöglich und für das deutsche Volk in höchstem#1937: in höchstem ersetzt durch: im höchsten;
1939: in höchstem;
1944: im höchsten Grade schädlich ist. »#1929: gestrichen: AnführungsszeichenBismarck habe einst selbst#1944: selbst ersetzt durch: selber immer Wert auf gute Beziehungen zu Rußland gelegt.«#1929: gestrichen: Anführungsszeichen71 Das ist bedingt richtig. Allein man vergißt dabei ganz, zu erwähnen, daß er ebenso großen Wert auf gute Beziehungen zum Beispiel zu Italien legte, ja, daß derselbe Herr von Bismarck sich einst mit Italien verband, um Österreich besser erledigen zu können.72 Warum setzt man denn nicht diese Politik ebenfalls fort? »Weil das Italien von heute nicht das Italien von damals ist«, wird man sagen. Gut. Aber dann, verehrte Herrschaften, erlauben Sie den Einwand, daß das heutige Rußland auch nicht mehr das Rußland von damals ist. Es ist Bismarck niemals eingefallen, einen politischen Weg taktisch prinzipiell für immer festlegen zu wollen. Er war hier viel zu sehr der Meister des Augenblicks, als daß er sich selbst eine solche Bindung auferlegt hätte.73 Die Frage darf also nicht heißen: Was hat Bismarck damals getan? als#1930: als ersetzt durch: sondern vielmehr: Was würde er heute tun? Und diese Frage ist leichter zu beantworten. Er würde sich bei seiner politischen Klugheit nie mit einem Staate verbinden#1944: verbinden ersetzt durch: verbünden, der dem Untergange geweiht ist.

Im übrigen hat Bismarck schon seinerzeit die deutsche Kolonial- und Handelspolitik mit gemischten Gefühlen betrachtet, da ihm zunächst nur daran lag, die Konsolidierung und innere Festigung des von ihm geschaffenen Staatengebildes auf sicherstem Wege zu ermöglichen.74 Dies war auch der einzige Grund, weshalb er damals die russische Rückendeckung begrüßte, die ihm den Arm nach dem Westen freigab.75 Allein, was damals für Deutschland Nutzen brachte, würde heute Schaden bringen.

Schon in den Jahren 1920/21, als die junge nationalsozialistische Bewegung sich langsam vom politischen Horizont abzuheben begann und da und dort als Freiheitsbewegung der deutschen Nation angesprochen wurde, trat man von verschiedenen Seiten an die Partei mit dem Versuche#1930: Versuche ersetzt durch: Versuch heran, zwischen ihr und den Freiheitsbewegungen anderer Länder eine gewisse Verbindung herzustellen. Es lag dies auf der Linie des von vielen propagierten »Bundes der unterdrückten Nationen«.76 Hauptsächlich handelte