Sind Gewerkschaften notwendig? <span class="pagenumber">[249]</span>

9 Die Haltung der völkischen Bewegung zu den Gewerkschaften war ambivalent. Im Juni 1923 betonte der Völkische Beobachter, es müsse »scharf« zwischen Gewerkschaft und Marxismus unterschieden werden; die Gewerkschaften würden zwar vom »jüdischen Marxismus« missbraucht, jedoch nicht von Juden geführt. Auch sonst ähnelte die Argumentation derjenigen Hitlers: Eine wesentliche Schuld am Einfluss der Juden auf die Gewerkschaften liege beim »sozialen Versagen« der Arbeitgeber, »deren Sünden zum Himmel schreien« würden. Bereits in den frühen 1920er Jahren waren die völkischen Gewerkschaftsmodelle von der Vorstellung einer »Volksgemeinschaft« geprägt. So schrieb Arno Chwatal im September 1924: »Auf dem Wege zur Volksgemeinschaft liegen selbstverständlich noch unendlich viele Hindernisse, insbesondere für die arbeitnehmenden Schichten. Es mag durchaus sein, daß es eine ganze Reihe von sozialempfindenden Arbeitgebern gibt, die gern ihrem sozialen Empfinden Ausdruck verleihen möchten. Diese Arbeitgeber sind in den meisten Fällen zusammengeschlossen in Arbeitgeberverbänden, und diese Verbände werden fast durchweg entscheidend beeinflußt durch die Herren Syndizi. Diese Herren Syndizi wiederum sind recht häufig Mitglieder der jüdischen Rasse. Sie bilden einen Spaltbazillus, der die Kluft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern immer wieder neu aufreißt und immer wieder neu vertieft. Solange diese Zustände nicht entscheidend geändert werden können, solange aus diesem Grunde das Verhalten der Arbeitgeberverbände in ihrer großen Mehrheit im tiefsten Grunde unsozial ist, müssen sie es sich gefallen lassen, aufs schärfste von uns bekämpft zu werden.« Während unter den sudetendeutschen Nationalsozialisten der Gewerkschaftsgedanke eine große Rolle spielte, bildeten sich in der völkischen Bewegung in Deutschland erst Anfang 1923 erste gewerkschaftliche Strukturen. So existierte seit 1924 in Norddeutschland der Reichsbund völkischer (Kampf-)Gewerkschaften, der sich teilweise auf Hitler berief; die Ortsgruppe Kiel richtete während des Prozesses in München gar ein öffentliches Huldigungsschreiben an Hitler und gelobte, »die Sturmfahne ›Hitler‹ in Norddeutschland zum Siege zu führen«. Einer ihrer Protagonisten war Arno Chwatal, der sich bereits seit 1921 für die Errichtung völkischer Gewerkschaften einsetzte und 1924 Kontakte zu den Nationalsozialisten in München knüpfte. Als Hitler nach seiner Haftentlassung allerdings jede weitere Unterstützung verweigerte, zog sich Chwatal 1925 zurück. Die Forderungen an die Parteiführung, in der »Gewerkschaftsfrage« aktiver zu werden, verstummten jedoch nicht und wurden sogar im Völkischen Beobachter offen erhoben. Auch der linke Flügel der NSDAP um Gregor Straßer erhöhte seit 1925/26 den Druck. Dem entsprach die im völkischen Lager insgesamt zunehmende Forderung nach »nationalen Gewerkschaften« jenseits der etablierten großen sowie der wirtschaftsfriedlichen »gelben« Gewerkschaften.

Vgl. Deutscher Sozialist vom 16. 7. 1921, »Falsche Gewerkschaftspolitik«; Der Reichswart vom 3. 9. 1921, »Die nationale Arbeiterbewegung«; VB vom 16. 6. 1923, »Volksgemeinschaft« (Zitat); Deutscher Aar vom 22. 3. 1924, »Zwei Huldigungsschreiben«; Der Reichswart vom 19. 9. 1925, »Völkische Gewerkschaften«; Der Reichswart vom 6. 2. 1926, »Nationale Gewerkschaft«; Jung, Sozialismus (1919), S. 96, 115 – 117; Chwatal, Kampfgewerkschaften, Zitat S. 15; Gattermayer, Gewerkschaften, S. 19 f., 21, 37, 44; Tyrell, Trommler, S. 252, Anm. 303; Ruck, Bollwerk, S. 39 – 43; Kratzenberg, Arbeiter, S. 71 – 73; Bons, Nationalsozialismus, S. 276 – 284, 281; Rösch, NSDAP, S. 128 f.; Wladika, Vätergeneration, S. 563 f.; Plöckinger, Geschichte, S. 110 – 113.

wollten keines haben) für die materielle Seite der Frage, noch für die moralische. Endlich sprechen ja ihre vermeintlichen eigenen wirtschaftlichen Interessen von vornherein gegen jede organisatorische Zusammenfassung5 der ihnen unterstellten Arbeitskräfte, so daß sich schon aus diesem Grunde bei den meisten ein unbefangenes Urteil schwer bilden kann. Es ist also hier, wie so oft, notwendig, daß man sich an die Außenstehenden wendet, die nicht der Versuchung unterliegen, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen. Diese werden dann bei gutem Willen viel leichter Verständnis für eine Angelegenheit bekommen, die so oder so zu den wichtigsten unseres heutigen und künftigen Lebens gehört.

Ich habe mich schon im ersten Band über Wesen und Zweck und über die Notwendigkeit von Gewerkschaften geäußert.6 Ich habe dort den Standpunkt eingenommen, daß, solange nicht entweder durch staatliche Maßnahmen (die jedoch meistens unfruchtbar sind) oder durch eine allgemeine neue Erziehung eine Änderung der Stellungnahme des Arbeitgebers zum Arbeitnehmer eintritt, diesem gar nichts anderes übrigbleibt, als unter Berufung auf sein Recht als gleichwichtiger Kontrahent im Wirtschaftsleben seine Interessen selbst zu wahren;7 ich1933: betonte ersetzt durch: betone;
1937: betonte betonte# weiter, daß eine solche Wahrnehmung durchaus im Sinne einer ganzen Volksgemeinschaft8 läge, wenn durch sie soziale Ungerechtigkeiten, die in der Folge zu schweren Schädigungen des ganzen Gemeinschaftslebens#1930: Gemeinschaftslebens ersetzt durch: Gemeinschaftswesens eines Volkes führen müssen, verhindert werden können; ich1944: diese ersetzt durch: die erklärte weiterhin, daß diese# Notwendigkeit so lange als gegeben erachtet werden muß, solange es unter den Unternehmern Menschen gibt, die von sich aus nicht nur kein Gefühl für soziale Pflichten, sondern nicht einmal für primitivste menschliche Rechte besitzen; und ich zog daraus den Schluß, daß, wenn eine solche Selbstwehr einmal als notwendig angesehen wird, ihre Form sinngemäß nur in einer Zusammenfassung der Arbeitnehmer auf gewerkschaftlicher Grundlage bestehen kann.9

An dieser allgemeinen Auf‌fassung hat sich bei mir auch im Jahre 1922 nichts geändert.10 Wohl aber mußte nun eine klare und bestimmte Formulierung für die Einstellung zu diesen Problemen ge-