Ursachen der völkischen Zersplitterung <span class="pagenumber">[159]</span>

23 Die Initiative zur Gründung der Deutschsozialistischen Partei (DsP) ging von dem Düsseldorfer Ingenieur Alfred Brunner aus, der bereits am 1. 12. 1918 einen Entwurf zur Gründung einer deutsch-sozialistischen Partei auf judenreiner und kapitalloser Grundlage veröffentlicht hatte. Daraufhin bildeten sich unabhängig voneinander DsP-Gruppierungen in Düsseldorf, Kiel, Frankfurt am Main, Dresden, Nürnberg und München. Im April 1920 fand in Hannover der offizielle Gründungsparteitag statt; Brunner wurde zum »Leiter«, Wilhelm Sachse aus Hannover zum Vorsitzenden der DsP gewählt. Im Oktober 1920 verlegte der Vorstand seinen Sitz nach Berlin; im folgenden Monat übernahm der Berliner Lehrer Emil Holtz den Parteivorsitz. Eigentlicher Leiter der Partei blieb jedoch Brunner, der sich immer wieder für eine Vereinigung mit der NSDAP einsetzte. Im Gegensatz zur NSDAP blieb die DsP dezentral organisiert, setzte auf Zusammenarbeit mit anderen völkischen Gruppen, betonte den Sozialismus stärker als den Nationalismus, lehnte einen gewaltsamen Umsturz ab und beteiligte sich bereits 1920 an Wahlen, wenn auch ohne nennenswerten Erfolg.

Vgl. Tyrell, Trommler, S. 72 – 76, 89 – 109; Fricke (Hrsg.), Lexikon, Bd. 2, S. 547 – 549; Breuer, Völkischen, S. 172 – 176.

24 Die programmatischen Richtlinien der DsP und der NSDAP wiesen tatsächlich viele Gemeinsamkeiten auf. Punkt 19 des Parteiprogramms der NSDAP stimmte teilweise sogar wörtlich mit einer älteren Forderung der Deutschsozialisten überein. Abweichungen gab es hingegen beim Anspruch auf Kolonien und in der Frage der zentralen Staatsgewalt – zwei Punkte, die der DsP offenbar weniger wichtig waren als der NSDAP. Demgegenüber gaben die Deutschsozialisten einer religiösen Erneuerung im deutsch-christlichen Sinn breiteren Raum als die NSDAP, deren »Bekenntnis zum positiven Christentum« mit Bedacht vage gehalten war. Insgesamt war das »25-Punkte-Programm« der NSDAP allgemeiner formuliert als die Richtlinien der DsP, dafür aber deutlich radikaler.

Vgl. Tyrell, Trommler, S. 76 – 83; Kap. I/12, Anm. 208.

25 Bereits am 24. 11. 1919 war in Nürnberg eine Ortsgruppe der DsP gegründet worden. Streicher trat ihr im Januar 1920 bei und wurde rasch zur bestimmenden Figur. Seit April 1920 gehörte er zum Reichsvorstand der DsP und war Spitzenkandidat der Partei bei der Reichstagswahl vom 6. 6. 1920. Außerdem wurde er Herausgeber der Parteizeitung Deutscher Sozialist. Am 7./8. 8. 1920 beschlossen Nationalsozialisten und Deutschsozialisten auf einer gemeinsamen Tagung in Salzburg, ihre Interessensphären aufzuteilen. Der DsP wurden alle Ortsgruppen beider Parteien nördlich des Mains unterstellt, der NSDAP alle Ortsgruppen südlich davon. Einzig die Nürnberger Ortsgruppe der DsP blieb von dieser Regelung ausgenommen und bewahrte ihre Unabhängigkeit. Streicher hielt sich trotzdem nicht an die Salzburger Vereinbarung und beanspruchte die Führung aller süddeutschen völkischen Kräfte. Im Sommer 1921 versuchte er in Zusammenarbeit mit Otto Dickel, dem Vorsitzenden der Deutschen Werkgemeinschaft, die DsP mit der NSDAP zu vereinigen, was Hitler durch einen zeitweiligen Parteiaustritt verhindern konnte. Nachdem es Streicher im November 1921 auch nicht gelang, die Führung der DsP an sich zu reißen, trennte er sich von der Partei und ging mit den 800 Mitgliedern der Nürnberger Ortsgruppe zur Deutschen Werkgemeinschaft. Dadurch verlor die DsP rund die Hälfte ihrer Mitglieder und löste sich 1922 schließlich ganz auf.

Vgl. Lenman, Streicher, S. 134; Meyer, Trutz-Bund, S. 29 – 39; Hambrecht, Aufstieg, S. 21 – 28; Fricke (Hrsg.), Lexikon, Bd. 2, S. 547; Auerbach, Wurzeln, S. 77; Roos, Streicher, S. 52, 59; Kap. II/11, Anm. 42.

26 Die 1921 von dem Augsburger Studienrat Otto Dickel gegründete Deutsche Werkgemeinschaft hatte rasch Kontakte zur DsP in Nürnberg geknüpft. Nach dem Übertritt Streichers mit seiner DsP-Ortsgruppe im November 1921 besaß sie etwa 1.000 Mitglieder. Streicher wurde stellvertretender Vorsitzender der neuen Nürnberger Ortsgruppe der Werkgemeinschaft, den Vorsitz erhielt der Arzt Friedrich Beck. Ab Anfang 1922 warb Streicher in mehreren Landgemeinden Frankens und Schwabens für die Werkgemeinschaft und konnte zahlreiche Anhänger gewinnen. Sein besonders vulgärer, ja pathologischer Judenhass schreckte jedoch sowohl Beck als auch Dickel ab. Diese Differenzen nahm Streicher zum Anlass, am 19. 9. 1922 aus der Werkgemeinschaft auszutreten. Drei Wochen später, am 8. 10. 1922, schrieb er an Hitler und bot ihm seinen Übertritt zur NSDAP an. Bereits am 11. 10. 1922 gründete Streicher eine NSDAP-Ortsgruppe in Hersbruck, am 20. 10. 1922 in Nürnberg.

Vgl. Meyer, Trutz-Bund, S. 38 – 49; Tyrell, Trommler, S. 110 – 116; Hambrecht, Aufstieg, S. 27 – 34; Auerbach, Wurzeln, S. 79 f.; Roos, Streicher, S. 60, 64 – 67; Kap. II/2, Anm. 101.

27 Die Gründe für Streichers Parteiübertritt waren sehr viel profaner: Erstens distanzierten sich die Führer der Deutschen Werkgemeinschaft seit Sommer 1922 klar von Streichers radikalem Antisemitismus. Zweitens bot ihm die Werkgemeinschaft keine Möglichkeit, gegen die in linken Parteien und Verbänden organisierte Nürnberger Arbeiterschaft zu agitieren. Und drittens war Streicher aufgrund finanzieller Schwierigkeiten mit Dickel in Streit geraten. Noch in seiner Zeit bei der DsP hatte Streicher seine Zeitung Deutscher Sozialist nicht mehr finanzieren können. Dickel hatte ihn finanziell unterstützt und angeregt, das Blatt in Deutscher Volkswille umzubenennen. Als Streicher zur Werkgemeinschaft übertrat, nahm er auch seine Zeitung mit. Bereits 1922 hatte er sich allerdings wieder verschuldet. Bei seinem Übertritt zur NSDAP garantierte Hitler ihm nicht nur die Übernahme seiner Schulden, sondern auch eine Anleihe über 70.000 Mark zum Erhalt seiner Zeitung. Derartige Motive Streichers überging Hitler wohlweislich, wenn er dessen Übertritt zur NSDAP öffentlich würdigte. So bezeichnete er in seiner Rede am 20. 10. 1926 in Weimar Streichers Schritt als einen großen »Beweis von Idealismus«.

Vgl. Hitler, Reden, Bd. II/1, Dok. 39, Zitat S. 74; Lenman, Streicher, S. 135; Meyer, Trutz-Bund, S. 44 – 49; Hambrecht, Aufstieg, S. 31 f.; Bytwerk, Streicher, S. 13 – 15; Auerbach, Wurzeln, S. 77 f.

28 Dieser Vorwurf ist in doppelter Hinsicht falsch: Zum einen enthielt bereits das »25-Punkte-Programm« der NSDAP fast nichts Neues, zum anderen waren aufgrund der Genese der völkischen Bewegung und der Gemeinsamkeiten ihres Gedankenguts gleiche oder ähnliche Forderungen zwangsläufig. So besitzt das vorläufige Parteiprogramm der DVFP – eine endgültige Fassung wurde trotz Ankündigung nie erstellt – in einigen Punkten tatsächlich augenfällige Gemeinsamkeiten mit dem Programm der NSDAP. Forderten die Nationalsozialisten etwa den »Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Groß-Deutschland«, so verlangte die DVFP die »Vereinigung des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes zu einem Großdeutschland«. Heißt es in Punkt 18 des NSDAP-Programms: »Gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber usw. sind mit dem Tode zu bestrafen, ohne Rücksichtnahme auf Konfession und Rasse«, so lautet die entsprechende Forderung im Programm der DVFP: »Einführung strenger Strafen bis zur Todesstrafe für Schieber, Wucherer und andere gemeine Volksausbeuter ohne Unterschied der Religionszugehörigkeit und Rasse.« Allerdings wich die DVFP in einigen Punkten deutlich von der NSDAP ab. »Ablehnung der Erfüllungspolitik«, »rücksichtslose[r] Kampf gegen Schuldlüge, Länderraub und Kulturschande in den besetzten Gebieten«, »Pflege der vaterländischen Geschichte«, »Schutz des Christentums unter Achtung der Gewissensfreiheit« und »Schutz der deutschen Hochschulen vor Überfremdung« finden sich ebenso wenig im Programm der NSDAP wie die Forderung nach einer Wehrsteuer für »Nichtwehrberechtigte und Nichtwehrpflichtige«. Dem NSDAP-Programmpunkt »Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungs-Überschusses« stellte die DVFP lediglich die »Durchführung einer gesunden Siedelungspolitik und Hebung der landwirtschaftlichen Produktion« entgegen.

Vgl. Kampfschriften der Deutschvölkischen Freiheitspartei 1 [1922], »Programm«; Mommsen (Hrsg.), Parteiprogramme, S. 547 – 550; Wulff, Freiheitspartei, S. 14 – 20; Maser, Sturm, S. 207 f.; Tyrell, Trommler, S. 83 f.; Pätzold/ Weißbecker, Geschichte, S. 58 f.; Schrader, Weltanschauung, S. 47 f.; Kap. I/12, Anm. 208, 210.

29 Diese Vorwürfe trafen nur teilweise zu. Zwar stimmten viele Ziele der völkischen Parteien überein, nicht jedoch die Wege, auf denen sie erreicht werden sollten. Für Hitler stand bis zum Scheitern seines Putschversuchs im November 1923 der gewaltsame Umsturz im Vordergrund. So verkündete etwa ein Werbeplakat für eine NSDAP-Versammlung in St. Pölten am 6. 10. 1920, die Revolution sei auf halbem Wege stecken geblieben und müsse von den »arbeitenden Massen« auf der Straße fortgesetzt werden. Die DVFP entschied sich hingegen von Anfang an für einen legalen Weg. Ihre Satzung bestimmte: »Die Deutschvölkische Freiheitspartei kämpft für ihre Ziele im Rahmen der Reichsverfassung.« Reinhold Wulle, eines der führenden Mitglieder der DVFP, schrieb am 31. 12. 1922: »Völkische Politik verlangt [...] rücksichtslosen Kampf gegen das ganze neudeutsche System. Dieser Kampf ist in erster Linie im Zeichen der Preußischen Verfassung parlamentarisch, in zweiter Linie agitatorisch zu führen.«

Vgl. Kampfschriften der Deutschvölkischen Freiheitspartei 1 [1922], »Satzungen« (Zitat); Kampfschriften der Deutschvölkischen Freiheitspartei 2 [1923], »Warum ich mich der deutschvölkischen Freiheitspartei angeschlossen habe?« (Zitat, Herv. i. Orig.); Tyrell (Hrsg.), Führer, S. 23 f.; Kap. II/9, Anm. 193.

30 Anspielung auf den Gründungsaufruf der DVFP, in dem es heißt, die völkische Bewegung kenne weder Parteischranken noch Klassenunterschiede. Sie wolle alle sammeln, die willens seien, »endlich aufzuräumen mit dieser verlotterten Parteiwirtschaft, um endlich zur wahrhaften inneren sozialen Aussöhnung und zur Freiheit zu gelangen«. Den Anspruch der DVFP, eine klassenübergreifende Partei zu sein, erhob Graefe nach der Neugründung der NSDAP im Februar 1925 erneut. Am 14. 2. 1925 schrieb er, im Gegensatz zu den Deutschvölkischen, deren Ziel eine Volksgemeinschaft sei, die alle Bevölkerungsschichten umfasse, wolle Hitler seine alte Organisation als »Arbeiterpartei« neu gründen. Er richte sich somit bewusst nur an die »Menge der handarbeitenden Kreise« und laufe dadurch Gefahr, seine Partei zu einer Klassenkampfbewegung zu machen.

Vgl. Kampfschriften der Deutschvölkischen Freiheitspartei 1 [1922], »Aufruf!«; Informationsbrief 48 des Landtagsabgeordneten R. Wulle vom 16. 2. 1925, »Erklärung Herrn von Graefes«.

eigene, ersichtlich weniger erfolgreiche zum Opfer zu bringen, d. h.#1944: d. h. ersetzt durch: das heißt sie aufzulösen oder bedingungslos einzugliedern.

Dies gilt besonders für den Hauptkämpfer der damaligen Deutschsozialistischen Partei23 in Nürnberg, Herrn#1929: gestrichen: Herrn Julius Streicher. Die N.S.D.A.P.#1937: N.S.D.A.P. ersetzt durch: NSDAP. und die D.S.P.#1937: D.S.P. ersetzt durch: DSP. waren mit gleichen Schlußzielen, jedoch gänzlich unabhängig voneinander, entstanden.24 Hauptsächlichster Vorkämpfer der D.S.P.#1937: D.S.P. ersetzt durch: DSP. war, wie gesagt, der damalige Lehrer Julius Streicher in Nürnberg.25 Zunächst war auch er von der Mission und der Zukunft seiner Bewegung heilig überzeugt. Sowie#1944: Sowie ersetzt durch: So wie er aber die größere Kraft und das stärkere Wachstum der N.S.D.A.P.#1937: N.S.D.A.P. ersetzt durch: NSDAP. klar und zweifelsfrei erkennen konnte, stellte er seine Tätigkeit für die D.S.P.#1937: D.S.P. ersetzt durch: DSP. und die Werkgemeinschaft26 ein und forderte seine Anhänger auf, sich der aus dem gegenseitigen Ringen siegreich hervorgegangenen N.S.D.A.P.#1937: N.S.D.A.P. ersetzt durch: NSDAP. einzuordnen und nun in ihren Reihen für das gemeinsame Ziel weiterzufechten. Ein persönlich ebenso schwerer als grundanständiger Entschluß.27

Aus dieser ersten Zeit der Bewegung ist denn auch keinerlei Zersplitterung übriggeblieben, sondern fast durchweg#1929: durchweg ersetzt durch: durchwegs hat das ehrliche Wollen der damaligen Männer auch zum ehrlichen, geraden und richtigen Ende geführt. Das, was wir heute mit dem Wort »völkische Zersplitterung« belegen, verdankt seine Existenz, wie schon betont, ausnahmslos der zweiten der von mir angeführten Ursachen: Ehrgeizige#1937: Ehrgeizige ersetzt durch: ehrgeizige;
1939: Ehrgeizige Männer, die vordem nie eigene Gedanken, noch viel weniger eigene Ziele gehabt hatten, fühlten sich genau in dem Moment »berufen«, in welchem sie den Erfolg der N.S.D.A.P.#1937: N.S.D.A.P. ersetzt durch: NSDAP. unleugbar reifen sahen.

Plötzlich entstanden Programme, die restlos von den unsern#1944: den unsern ersetzt durch: dem unseren abgeschrieben waren28, Ideen wurden verfochten, die man von uns entlehnt, Ziele aufgestellt, für die wir schon seit Jahren gekämpft, Wege gewählt, welche die N.S.D.A.P.#1937: N.S.D.A.P. ersetzt durch: NSDAP. schon längst beschritten hatte.29 Man versuchte mit allen Mitteln zu begründen, warum man diese neuen Parteien, trotz der längst bestehenden N.S.D.A.P.#1937: N.S.D.A.P. ersetzt durch: NSDAP., zu bilden gezwungen gewesen sei; allein, je edlere Motive man unterschob, um so unwahrer waren jene Phrasen.30

In Wahrheit war ein einziger Grund maßgebend