Folgen unserer rassischen Zerrissenheit <span class="pagenumber">[27]</span>

36 Nur wenige Verfechter des Ideals der »Reinrassigkeit« vertraten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik die Auf‌fassung, dass in Deutschland und Europa einzelne Rassen noch in ihrer ursprünglichen, »reinen« Form vorhanden seien. Darüber, dass man vielmehr von regionalspezifischen Mischungsverhältnissen auszugehen habe, herrschte auch in der völkischen Bewegung weitgehend Übereinstimmung. Der populäre, völkische Laienanthropologe Hans F. K. Günther betonte in seiner 1922 erschienenen Rassenkunde des deutschen Volkes explizit, dass die »meisten Deutschen, wie überhaupt die meisten Menschen in Europa, […] Mischlinge« seien, die zudem nicht etwa von »beiderseits reinrassige[n] Eltern«, sondern »von Mischlingen abstammen«. Von diesem bis 1942 ständig neu aufgelegten Buch befand sich eine Ausgabe von 1923 in Hitlers Besitz. Dem Ist-Zustand rassischer Vermengungen stellten völkische Rassenideologen zugleich den Soll-Zustand einer durch gezielte Eingriffe wiederherzustellenden »Rassenreinheit« gegenüber. Leitvorstellung blieb hierbei die Idee der »Abstammungsgemeinschaft«. Denn, so ein 1913 veröffentlichter Arbeitsplan des Deutschbundes in der Rassenfrage, das deutsche Volk sei zwar »nicht mehr reinrassig germanisch«, »rassenhaft« jedoch nach wie vor primär »germanisch bestimmt«.

Vgl. Günther, Rassenkunde (1923), Zitat S. 237 f.; Gassert/ Mattern, Library, S. 125; Puschner, Bewegung, Zitat S. 76.

37 Eine identische Deutung findet sich bei dem von Hitler geschätzten amerikanischen Rassentheoretiker Madison Grant, der mit dem Dreißigjährigen Krieg primär eine Verminderung der »rein nordische[n] Rasse in Deutschland« assoziierte. Schon zuvor hatte der in Münster und Osnabrück geschlossene Westfälische Friede, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, unter Historikern mehrheitlich als ein Tiefpunkt deutscher Geschichte gegolten. In einer nationalistisch verengten Geschichtsbetrachtung erschien der Friede als ein Symbol entehrender Fremdbestimmung und innerer Zerrissenheit des deutschen Volkes. Nach dem Ersten Weltkrieg betrachteten deutschnationale und völkische Autoren die Friedensverträge von 1648 und 1919 gleichermaßen als »Schandfrieden«. In seiner einflussreichen Darstellung Die Epochen der deutschen Geschichte (1923) porträtierte der Tübinger Mediävist Johannes Haller den Westfälischen Frieden gar als »Totenschein des Deutschen Reiches«.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Vorstellung, die 1648 geschaffene politische Ordnung Europas endgültig zerschlagen zu können, zu einem wichtigen Motiv Hitlers. Am 17. 11. 1939 notierte Goebbels in sein Tagebuch: »Der Führer spricht über unsere Kriegsziele. […] Er denkt an eine restlose Liquidation des Westfälischen Friedens […]. Das wäre unser ganz großes Ziel. Wenn das gelungen ist, dann können wir beruhigt die Augen schließen.« Die Darstellung deckt sich mit einer Äußerung Hitlers gegenüber Großadmiral Erich Raeder am 26. 8. 1942: »Der Westfälische Friede hat die deutsche Ohnmacht zu einem Staatsgesetz erhoben. Ich habe meinen Leuten immer gesagt: Nicht um die Beseitigung des Versailler Vertrages handelt es sich, sondern um die des Westfälischen Friedens«.

Vgl. Grant, Untergang, Zitat S. 116; Haller, Epochen, Zitat S. 234; Goebbels, Tagebücher, Teil I, Bd. 7, Zitat S. 198; Hitler, Monologe, Zitat S. 367; Schönemann, Rezeption; Ryback, Bücher, S. 126 – 149; François, Frieden, bes.S. 121 – 123.

39 Auch diese Passage verrät den Einfluss Hans F. K. Günthers auf Hitlers Denken. Günther unterschied für Deutschland und Europa zwischen der »nordischen«, »westischen«, »dinarischen« und »ostischen« Rasse, die er anhand ausführlicher Beschreibungen vermeintlicher phänotypischer und »seelischer« Besonderheiten zu klassifizieren versuchte. Diese »Systematik« ergänzte er 1924 um die »ostbaltische«, 1927 um die »fälische« Rasse. Während die »nordische« Rasse als eigentliche Elite galt, skizzierte Günther das jüdische Volkstum als einen gefährlichen, in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Publizistik übermächtigen Fremdkörper. Günther folgte dabei einem dezidiert statischen Rassenbegriff. Als »Rasse« galt ihm eine »Menschengruppe, die sich durch die ihr eignende Vereinigung körperlicher Merkmale und seelischer Eigenschaften von jeder anderen Menschengruppe unterscheidet und immer wieder nur ihresgleichen zeugt«. Günther genoss in der NS-Bewegung enormes Ansehen. 1941 erhielt er die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft sowie das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP.

Vgl. Günther, Rassenkunde (1923), bes.S. 11 – 27, 146 – 165, 485 – 499, Zitat S. 19 (Herv. i. Orig.); Freisleben, Grundelemente, S. 51 – 81; Hoßfeld, Geschichte, S. 219 – 229.

Dieses relative Urteil kann rasch und gut gefällt werden; das Urteil über den absoluten Wert nur sehr schwer, da dieses absolute Urteil eigentlich schon nicht mehr bloß durch den Staat, sondern vielmehr durch die Güte und Höhe des jeweiligen Volkstums bestimmt wird.

Wenn man daher von einer höheren Mission des Staates spricht, darf man nie vergessen, daß die höhere Mission wesentlich im Volkstum liegt, dem der Staat, durch die organische Kraft seines Daseins, nur die freie Entwicklung zu ermöglichen hat.

Wenn wir daher die Frage stellen, wie der Staat beschaffen sein soll, den wir Deutsche brauchen, dann müssen wir uns erst Klarheit darüber schaffen, was für Menschen er erfassen und welchem Zweck er dienen soll.

Unser deutsches Volkstum beruht leider nicht mehr auf einem einheitlichen rassischen Kern. Der Prozeß der Verschmelzung der verschiedenen Urbestandteile ist auch noch nicht so weit fortgeschritten, daß man von einer dadurch neugebildeten Rasse sprechen könnte.36 Im Gegenteil: die blutsmäßigen Vergiftungen, die unseren Volkskörper, besonders seit dem Dreißigjährigen Kriege trafen, führten nicht nur zu einer Zersetzung unseres Blutes, sondern auch zu einer solchen unserer Seele.37 Die offenen Grenzen unseres Vaterlandes, das Anlehnen an ungermanische Fremdkörper längs dieser Grenzgebiete, vor allem aber der starke laufende Zufluß fremden Blutes ins Innere des Reiches selbst38, läßt#1944: läßt ersetzt durch: lassen infolge seiner dauernden Erneuerung keine Zeit übrig für eine absolute Verschmelzung. Es wird keine neue Rasse mehr herausgekocht, sondern die Rassebestandteile#1937: Rassebestandteile ersetzt durch: Rassenbestandteile;
1939: Rassebestandteile;
1944: Rassenbestandteile bleiben nebeneinander, mit dem Ergebnis, daß besonders in kritischen Augenblicken, in denen sich sonst eine Herde zu sammeln pflegt, das deutsche Volk nach allen Windrichtungen auseinanderläuft. Nicht nur gebietsmäßig sind die rassischen Grundelemente verschieden gelagert, sondern auch im einzelnen, innerhalb des gleichen Gebietes. Neben nordischen Menschen ostische, neben ostischen dinarische, neben beiden westische, und dazwischen Mischungen.39 Dies ist auf der einen Seite von großem Nachteil: Es#1937: Es ersetzt durch: es;
1939: Es fehlt dem deutschen Volke#1930: Volke ersetzt durch: Volk jener sichere Herdeninstinkt, der in der Einheit