Die Vorbedingung der »Nationalisierung« <span class="pagenumber">[32]</span>

70 Um die männliche Jugend vor angeblich sittlichen Gefahren zu schützen, wurden in Österreich 1905 Knabenhorte für die Schuljugend sowie 1908 die sogenannte Jugendwehr für die schulentlassenen Jungen gegründet. Beide Organisationen im Stil der Pfadfinder erfreuten sich bei den Jugendlichen großer Beliebtheit. In Konkurrenz zu diesen privaten Jugendorganisationen, denen Kritiker mangelnde pädagogische Betreuung der Jugendlichen vorwarfen, regte Karl Lueger bei den Schulbehörden an, Knabenhorte in den Schulen selbst zu errichten. Unter städtischer Leitung entstand der Wiener Zentralverein zur Errichtung und Erhaltung von Knabenhorten, der bald noch populärer war als seine Vorbildinstitutionen. In Orten wie Meidling, Ottakring oder Erdberg waren die Mitglieder der Knabenhorte sogar mit Spielzeuggewehren ausgerüstet. Die Uniformen, die militärische Organisation, die sie begleitenden Musikkorps und die öffentlichen Exerzierwettbewerbe stießen auf große Begeisterung in der Wiener Bevölkerung; auch Hitler war von ihnen beeindruckt.

Vgl. Hanisch, Buddy, S. 242; Geehr, Lueger, bes.S. 291 f.; Boyer, Culture, S. 126; Kronenbitter, Krieg, S. 224 f.

72 Jugendstrafanstalten galten damals im Rahmen eines reformierten Strafvollzugs als fortschrittliche Institution und sollten straffällig gewordene Jugendliche vor erwachsenen Mithäftlingen schützen. Erste Jugendstrafanstalten gab es in Frankreich bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Österreich trafen 1889 Verordnungen Vorbereitungen zur Etablierung eines Jugendstrafvollzugs; die Justizvollzugsanstalten in Prag und Marburg an der Drau dienten als Vorbilder. 1902 wurde dann die Männerstrafanstalt Göllersdorf für den Jugendstrafvollzug bestimmt, in der Straftäter bis zum 24.  Lebensjahr untergebracht wurden. Zu einer speziellen Jugendgerichtsgesetzgebung kam es in Österreich allerdings erst durch das entsprechende Gesetz vom 25. 1. 1919 im Rahmen der Humanisierung des Strafrechts. In Deutschland existierte seit 1912 in Wittlich eine erste Jugendstrafanstalt.

Vgl. Jesionek, Jugendgerichtsbarkeit, S. 66 f.; Baltl/ Kocher, Rechtsgeschichte, S. 312 f.; Dollinger/ Schabdach, Jugendkriminalität, bes.S. 26 f.

73 Insbesondere seit den 1920er Jahren etablierte sich in Deutschland eine populäre Vergnügungsindustrie in Form sportlicher Wettkämpfe, Jahrmärkte, Volkstheater, Kino, Radio und Grammophon, Tanz und Musik, Bars und Klubs. Diese Form der Freizeitgestaltung beeinflusste nachhaltig den Lebensstil, rief aber auch konservative Kulturkritiker auf den Plan, die vor »Amerikanisierung« und »Kulturverlust« warnten und sich unter anderem in Sittlichkeitsvereinen organisierten. Gefördert werden sollte die »wahre« Kunst und Kultur, nicht aber die als schlecht und schädlich angesehene Massenkultur. Als »Schmutz und Schund« galten dabei vor allem jugendgefährdende Schriften, die als »moralisch verderblich, den Sinn für Wahrheit, Wirklichkeit und höheren Kunstgenuss zerstörend, kriminell machend, zudem die Volkswirtschaft und […] den Volkskörper und die Volksgesundheit schädigend« eingestuft wurden. Um der Wirkung dieser Schriften entgegenzusteuern, wurden staatliche Jugendschutzorganisationen gefördert und entsprechende »Aufklärungskampagnen« initiiert. Während es bis 1914 zu keinem staatlichen Verbot der »Schundliteratur« kam, wurde im Ersten Weltkrieg auf Veranlassung der Militärbehörden der Vertrieb und Verkauf derartiger Publikationen untersagt. Kulturkonservative Befürworter des Verbots beklagten nach 1918, dass mit der Revolution die »Schundliteratur« wieder schlagartig zum Vorschein gekommen sei und den Sittenverfall weiter befördert habe. Vor diesem Hintergrund entstand das am 18. 12. 1926 verabschiedete Reichsgesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften, das allerdings keine präzise Definition der beiden Begriffe enthielt, sondern lediglich auf Indexlisten der einschlägigen Prüfstellen verwies. Der Diskurs über »Schmutz und Schund« enthielt auf Seiten der Rechten stets auch eine antisemitische Färbung, die Bekämpfung entsprechender Schriften galt als »geistige Volkshygiene«. 1935 wurde das Reichsgesetz von 1926 außer Kraft gesetzt, da die nationalsozialistische Reichsschrifttumskammer ohnehin alle Publikationen kontrollierte.

Vgl. Jäger, Kampf; Dettmar, Kampf, Zitat S. 565; Büttner, Weimar, S. 260 f.; Kap. I/10, Anm. 136.

74 In Wien gab es seit 1899 Kinematografenvorführungen im Prater, 1906 existierten bereits zwölf ortsfeste Lichtspielhäuser sowie einige Zeltkinos. Zu den dort gezeigten Filmen gehörten neben zahlreichen französischen Produktionen auch einige von der Wiener Saturn-Film-Firma hergestellte »hochpikante Herren-Filme«, deren Vorführung und Herstellung durch gerichtliches Einschreiten 1911 gestoppt wurde. Wien blieb kein Einzelfall: In Berlin stieg die Zahl der Kinos von 16 (1905) auf 139 (1907) und schließlich auf 206 (1913), die insgesamt über 49.000 Zuschauern Platz boten. Im Deutschen Reich wurden 1913 2.900 Kinos registriert. Zeitgleich begann eine intensive Diskussion über die Bedeutung von Film und Kino. Kritiker beklagten das niedrige Niveau der Filme, die lediglich der Sensationslust dienen und gegen »Zucht und Ordnung« verstoßen würden. So zeigten etwa die 250 Filme des Produktionsjahrs 1910 nicht weniger als 97 Morde, 51 Ehebrüche, 19 Verführungen, 35 Betrunkene und 25 Prostituierte. Die polizeilichen Zensurbehörden prüften zwischen 1912 und 1920 etwa 40.000 Filme aus dem In- und Ausland. Doch befürchteten Staat und Öffentlichkeit noch weitere Gefahren durch das Kino: Großbrände aufgrund der Feuergefährlichkeit der Kinematografentheater, die »Begünstigung von Sittlichkeitsverbrechen« aufgrund der dort herrschenden Dunkelheit, die Förderung von Verschwendungssucht sowie Bettelei und Diebstahl. Problematisch erschien auch die schlechte Luft, die Überreizung der Fantasie oder ein Realitätsverlust durch die »flimmernden Bilder«. In Österreich wurde im Jahr 1910 Kindern der Besuch von Kinos verboten und Schauspielern des Burgtheaters die Mitwirkung in Kinofilmen untersagt. Der Begriff »Schundfilm« geht zurück auf den Juristen Albert Hellwig, der in seiner Broschüre Schundfilme (1911) Filme mit sexuellen und kriminellen Inhalten als Anreiz zum Verbrechen beurteilte. Das große künstlerische Potenzial des neuen Mediums Film – erinnert sei nur an Werke wie Ernst Lubitschs Madame Dubarry (1919), Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920), Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (1922) und Fritz Langs Metropolis (1927) – verkannten seine Kritiker völlig. Hitler reproduziert hier lediglich ihre Urteile.

Vgl. Hellwig, Schundfilme; Kreimeier, Ufa-Story, S. 24 – 28; Czeike, Lexikon, Bd. 3, S. 509 f.; Jacobsen, Frühgeschichte, S. 20 – 35; Kaes, Film; Jung/ Loiperdinger (Hrsg.), Geschichte, Bd. 1, S. 22; Hanisch, Männlichkeiten, Zitat S. 152.

delt, oder die ätzende Frechheit seines Auftretens, verbunden mit einer Unmoral schon in diesem Alter, daß einem die Haare zu Berge stehen könnten.70

Welche Stellung aber kann nun# 1926: gestrichen: nun dieser Mensch, dem jetzt schon kaum mehr etwas heilig ist, der eben so sehr# 1937: eben so sehr ersetzt durch: ebensosehr nichts Großes kennen gelernt# 1937: kennen gelernt ersetzt durch: kennengelernt hat, wie er umgekehrt jede Niederung des Lebens ahnt und weiß, nun# 1926: gestrichen: nun im Leben einnehmen, in das er ja nun hinauszutreten sich anschickt?

Aus dem dreijährigen Kinde ist nun# 1926: gestrichen: nun ein fünfzehnjähriger Verächter jeder Autorität geworden. Außer Schmutz und Unrat hat der junge Mensch# 1944: Außer Schmutz und Unrat hat der junge Mensch ersetzt durch: Der junge Mensch ist nur mit Schmutz und Unrat in Berührung gekommen und hat nun# 1926: gestrichen: nun noch nichts kennen gelernt# 1937: kennen gelernt ersetzt durch: kennengelernt , was# 1926: was ersetzt durch: das ihn zu irgendeiner höheren Begeisterung anzuregen vermöchte.

Nun# 1926: Nun ersetzt durch: Jetzt aber kommt er erst noch in die hohe# 1944: hohe ersetzt durch: Hohe Schule dieses Daseins.

Nun setzt das gleiche Leben ein, das er vom Vater die Jahre der Kindheit entlang in sich aufgenommen hatte. Nun streunt er herum# 1926: Nun streunt er herum ersetzt durch: Er streunt herum und kommt weiß Gott wann nach Hause, prügelt zur Abwechslung auch noch selber das zusammengerissene71 [sic!] Wesen, das einst seine Mutter war, flucht über Gott und die Welt und wird endlich aus irgendeinem besonderen Anlaß verurteilt und in ein Jugendlichengefängnis72 verbracht.

Dort erhält er den letzten Schliff.

Die liebe bürgerliche Mitwelt aber ist ganz erstaunt über die mangelnde »nationale Begeisterung« dieses jungen »Staatsbürgers«.

Sie sieht, wie in Theater und Kino, in Schundliteratur und Schmutzpresse73 Tag für Tag das Gift kübelweise in das Volk hineingeschüttet wird und staunt# 1937: staunt ersetzt durch: erstaunt;
1939: staunt;
1944: erstaunt dann über den geringen »sittlichen Gehalt«, die nationale »Gleichgiltigkeit«# 1930: nationale »Gleichgiltigkeit« ersetzt durch: »nationale Gleichgültigkeit« der Massen dieses Volkes. Als ob Kinokitsch74, Schundpresse und ähnliche Jauche# 1926: ähnliche Jauche ersetzt durch: Ähnliches;
1937: ähnliches die Grundlagen der Erkenntnis vaterländischer Größe abgeben würden. Von der früheren Erziehung des einzelnen ganz abgesehen.

Was ich früher# 1930: früher ersetzt durch: ehedem nie geahnt hatte, lernte ich damals schnell und gründlich verstehen:

Die Frage der »Nationalisierung« eines Volkes ist mit in erster Linie eine Frage der Schaffung gesunder sozialer Verhältnisse als Fundament einer