Unglückliche Opfer schlechter Verhältnisse <span class="pagenumber">[27]</span>

55 Die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zeitalter der Industrialisierung förderten den Alkoholismus in einem hohen Maße. Vielen Zeitgenossen galt der Alkohol als Ursache für Kriminalität, Verelendung und Verrohung. Bürgerliche Kritiker beschrieben die Proletarier als »durch eigene Schuld brotlos gewordene Leute« sowie als »Opfer des Alkohols und abgestrafte Verbrecher«. Dabei war Alkoholismus beileibe nicht nur ein Unterschichtenproblem; charakteristisch für diese war lediglich der Konsum preiswerterer Getränke wie Branntwein, Kartoffelschnaps und Bier. Als Gegenbewegung zum Alkoholismus formierten sich seit den 1890er Jahren – als Teil der sogenannten Lebensreformbewegung – Dutzende von Vereinen gegen den Alkoholkonsum. Für Wien ist der 1899 gegründete sozialdemokratische Verein der Abstinenten besonders hervorzuheben. Auch Hitlers Kritik des Alkoholismus dürften eigene Erfahrungen zugrunde liegen: Hitlers Vater, der durch Alkohol aufbrausend und jähzornig wurde, starb in einem Gasthaus. Es ist denkbar, dass Hitler, der die Persönlichkeitsveränderung seines Vaters infolge des Alkoholmissbrauchs miterlebt hatte, dadurch zum Abstinenzler wurde und sich überhaupt aufgeschlossen für lebensreformerische Prinzipien zeigte. Aus taktischen Überlegungen nahm Hitler allerdings – auch während des Dritten Reichs – stets Abstand von der Forderung nach einem allgemeinen Alkoholverbot. Basierend auf der falschen Annahme, Alkoholismus sei vererbbar, ermöglichte das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 allerdings die Zwangssterilisationen schwerer Alkoholiker.

Vgl. Hamann, Wien, S. 31; Baumgartner, Antialkoholbewegung, S. 141 – 154; Farkas, Lebensreform (2010), S. 1357, 1362; Drobesch, Konzepte, Zitat S. 1442; Kap. II/2, Anm. 68, 74, 75.

56 Tatsächlich war die Wohnungssituation in Wien vor 1914, auch im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen, verheerend; mehrere hunderttausend Menschen verfügten damals über keine eigene Wohnung. Aufgrund der hohen Mieten waren viele Geringverdiener gezwungen, Untermieter aufzunehmen. Es kam vor, dass in Arbeiterbezirken bis zu zehn Mieter in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebten. Um 1910 gab es mehr als 80.000 »Bettgeher«, also Personen, die lediglich ein Bett anmieteten, sich aber außer zum Schlafen nicht in der Wohnung aufhalten durften. Einen subventionierten sozialen Wohnungsbau gab es in Wien erst seit 1919. Folgt man der Darstellung Kubizeks, so war Hitler öfters in Meidling, um die Wohn- und Lebensverhältnisse der dortigen Arbeiterfamilien zu studieren. Auch soll Hitler selbst Modellquartiere entworfen haben. Anhänger der Boden- und Lebensreformbewegung wie Adolf Damaschke sahen in der desolaten Wohnsituation der Großstädte die Wurzel der sozialen Verelendung. Martin Ulbrich, seit 1902 Direktor der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg, einer Pflegeeinrichtung für alte, behinderte und kranke Menschen, schrieb im März 1923 in Damaschkes Zeitung Bodenreform: »Die Anormalenfürsorger wissen, daß eine große Anzahl kranker und minderwertiger Kinder ihr Elend dumpfen, engen und sonnenlosen Räumen verdankt. Hier gedeihen Rachitis, Skrofulose, Tuberkulose und Bleichsucht, während die ansteckenden Krankheiten die weiteste Verbreitung finden. Alle Fürsorge durch Anstalten und Gesetze bleibt halbe Arbeit, wenn nicht das Grundübel abgetan wird.« Diese Erkenntnisse hielten die frühen NSDAP-Ideologen für so wichtig, dass sie ein Exemplar dieser Zeitung in die NSDAP-Bibliothek aufnahmen.

Vgl. Bodenreform vom 25. 3. 1923, »Das Elend der Amormalen [sic!] und die Bodenreform«; Kubizek, Hitler, S. 205, 211 – 214; Lichtblau, Wohnungspolitik, S. 74 – 87; Hamann, Wien, S. 204; Kap. I/10, Anm. 194.

57 Auch diese Passage belegt, dass Hitler dem bürgerlichen Denken, das er in seinen Reden und Schriften im Grund immer wieder wild attackierte, immer noch verhaftet war. Die Angst vor einem Aufstand der ausgebeuteten, eigentumslosen Massen prägte seit den 1830er Jahren das politische Denken der bürgerlichen wie der adligen Schichten. Zwar verlor diese Angst nach der gescheiterten Revolution von 1848 zeitweise an »Suggestivkraft«, doch spätestens mit der Formierung von Gewerkschaften, Arbeitervereinen und Parteien seit den 1860er Jahren wurde eine Arbeitererhebung erneut zu einem Bedrohungsszenario. Dabei diente einem großen Teil der Arbeiterbewegung schon damals das klassenkämpferische Pathos mehr als Mittel zum Zweck, im Mittelpunkt ihrer Politik standen Reformen der Gesellschaft und der Arbeitswelt, während eine Revolution nach marxistischem Muster nur eine Minderheit für politisch sinnvoll hielt. Von der Unterschicht als Sklaven hatte indes bereits im Dezember 1888 der sozialdemokratische Politiker und Journalist Victor Adler in seiner sozialkritischen Reportage Die Lage der Ziegelarbeiter gesprochen: »Nun denn, diese armen Ziegelarbeiter sind die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint. Die blutige Ausbeutung dieser elendsten aller Proletarier wird durch das verbrecherische, vom Gesetz ausdrücklich verbotene Trucksystem, die Blechwirtschaft, in unbedingte Abhängigkeit verwandelt. Der Hunger und das Elend, zu dem sie verdammt sind, wird noch entsetzlicher durch die Wohnungen, in welche sie von der Fabrik oder ihren Beamten zwangsweise eingepfercht werden.«

Vgl. Adler/ Engels, Briefwechsel, S. 118 – 123, Zitat S. 118 (Herv. i. Orig.); Conze, »Pöbel«.

auftritt. Dann gibt es Streit und Hader, und in dem Maße, in dem der Mann der Frau nun fremder wird, kommt er dem Alkohol näher.55 Jeden Samstag ist er nun betrunken, und im Selbsterhaltungstrieb für sich und ihre Kinder rauft sich das Weib um die wenigen Groschen, die sie ihm, noch dazu meistens auf dem Wege von der Fabrik zur Spelunke, abjagen muß. Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts selber nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, daß Gott erbarm# 1939: erbarm ersetzt durch: erbarm’;
1944: erbarm .

In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt, anfangs angewidert oder wohl auch empört, um später die ganze Tragik dieses Leides zu begreifen, die tieferen Ursachen zu verstehen. Unglückliche Opfer schlechter Verhältnisse.

Fast trüber noch waren damals die Wohnungsverhältnisse.56 Das Wohnungselend des Wiener Hilfsarbeiters war ein entsetzliches. Mich schaudert noch heute, wenn ich an diese jammervollen Wohnhöhlen denke, an Herberge und Massenquartier, an diese düsteren Bilder von Unrat, widerlichem Schmutz und Ärgerem.

Wie mußte und wie muß dies einst werden, wenn aus diesen Elendshöhlen der Strom losgelassener Sklaven über die andere, so gedankenlose Mitwelt und Mitmenschheit sich ergießt!57

Denn gedankenlos ist diese andere Welt.

Gedankenlos läßt sie die Dinge eben treiben, ohne in ihrer Instinktlosigkeit auch nur zu ahnen, daß früher oder später das Schicksal zur Vergeltung schreiten muß, wenn nicht die Menschen zur Zeit noch das Schicksal versöhnen.

Wie bin ich heute dankbar jener Vorsehung, die mich in diese Schule gehen hieß# 1937: hieß ersetzt durch: ließ;
1939: hieß;
1944: ließ .58 In ihr konnte ich nicht mehr sabotieren, was mir nicht gefiel. Sie hat mich schnell und gründlich erzogen.

Wollte ich nicht verzweifeln an den Menschen meiner Umgebung von damals, mußte ich unterscheiden lernen zwischen ihrem äußeren Wesen und Leben und den Gründen ihrer Entwicklung. Nur dann ließ sich dies alles ertragen, ohne verzagen zu müssen. Dann wuchsen aus all dem Unglück und Jammer, aus Unrat und äußerer Verkommenheit nicht mehr Menschen heraus, sondern traurige Ergeb-