Raumgröße und Weltmacht <span class="pagenumber">[304]</span>

12 Die Frage nach dem Status als Weltmacht war in der damaligen deutschen Gesellschaft umstritten. In propagandistischer Absicht hatte schon Wilhelm II. 1896 in einer Neujahrsansprache Deutschland als eine Weltmacht bezeichnet. Alfred von Tirpitz veröffentlichte den ersten Band seiner Politischen Dokumente 1924 unter dem Titel Der Aufbau der deutschen Weltmacht. Demgegenüber hatte Friedrich von Bernhardi in dem Buch Deutschland und der nächste Krieg (1912) betont, Deutschland werde erst dann zu einer Weltmacht werden, wenn es mit Frankreich »abrechnen«, den Dreibund zu einem »mitteleuropäischen Bund« erweitern, und seinen Kolonialbesitz in Afrika vergrößern würde. Auch der rechtskatholische Publizist und Historiker Martin Spahn gab 1915 an, das Deutsche Reich sei erst auf dem Weg zur Weltmacht. Für Spahn stellte England die »einzige fertige Weltmacht auf dem Erdenrunde dar«, da es nicht nur einen »erheblichen Anteil an der Weltwirtschaft« habe, sondern diesen auch »politisch wie militärisch durch eine Flotte, durch Kolonien und Einfluß auf die öffentliche Meinung der kleineren Völker und ihrer Regierungen zu decken« vermöge. Die Betonung wirtschaftlicher Stärke als Definitionsmerkmal von »Weltmacht« entsprach der Vorstellung der »Weltreichslehre«. Diese war am Ende des 19. Jahrhunderts von führenden deutschen Nationalökonomen entwickelt worden. Die Theorie der Weltreiche ging von der Vorstellung aus, dass im 20. Jahrhundert die USA, das Britische Empire und Russland aufgrund ihrer überlegenen Größe und Bevölkerungszahl und ihrer wirtschaftlichen Stärke die Erde dominieren würden. Auch Deutschland hätte das Potenzial für ein Weltreich, müsse aber expandieren. Moderne Historiker rechnen das Kaiserreich mitunter ebenfalls zu den zeitgenössischen Weltmächten. So geht Jost Dülffer davon aus, dass Deutschland »nach wirtschaftlichen Maßstäben eine Weltmacht war, bevor es als solche zu handeln begann«.

Vgl. Deutschland als Weltmacht, S. III.; Bernhardi, Deutschland, S. 111 – 116; Spahn, Kampf, Zitat S. 55; Dülffer, Mächtesystem, S. 43 f., Zitat S. 44; Neitzel, Weltmacht, S. 81 – 188; Clark, Schlafwandler, S. 206 – 208.

15 In Großbritannien (England, Schottland und Wales) lebten 1921 etwa 42,8 Millionen Menschen auf einer Fläche von 228.193 qkm. Das entsprach einer Bevölkerungsdichte von 187 Einwohnern pro qkm. Allerdings gehörten zum Britischen Weltreich Kolonien, Dominions, Protektorate und Mandatsgebiete in Europa (Gibraltar, Malta, ab 1922 der Irische Freistaat), Asien (etwa Britisch-Indien, Ceylon, Cypern), Afrika (z. B. Kenia, Rhodesien, Südafrikanische Union), Amerika (etwa Jamaika, Kanada, Neufundland) und Australasien (etwa Australien, Fidschi, Neuseeland). Insgesamt umfasste das Britische Weltreich 35,3 Millionen qkm und 452,7 Millionen Menschen. Die Bevölkerungsdichte lag damit bei 13 Einwohnern pro qkm.

Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 45 (1926), Internationale Übersichten, S. 1 – 6; Demangeon, Weltreich, S. 343 – 345; Wende, Empire, S. 348 – 352.

17 Ursprünglich dienten die französischen wie auch die deutschen Kolonialtruppen in erster Linie zur Verteidigung der Kolonien. Im Unterschied zu Deutschland setzte Frankreich aber bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts Soldaten aus seinen Kolonien auf europäischen Kriegsschauplätzen ein, so im Krimkrieg 1853/54 – 1856, im Sardinisch-Französisch-Österreichischen Krieg 1859 und im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Dabei handelte es sich um nordafrikanische Truppen der »Armée d’Afrique«, den »Turcos« bzw. »Algerischen Schützen« (»Tirailleurs Algériens«). 1902 stellte Frankreich dann eine »Armée Coloniale« mit mehreren senegalesischen und sudanesischen Einheiten auf, den »Tirailleurs Sénégalais«. Diese war zunächst nur eine kleinere Hilfstruppe. Ausschlaggebend für ihre Aufwertung und ihren Ausbau war die Schrift La force noire (Die schwarze Streitmacht), die der französische Oberstleutnant Charles Mangin 1910 veröffentlichte. Mangin empfahl aufgrund der demografischen Entwicklung Frankreichs und der drohenden Kriegsgefahr in Europa die Schaffung einer starken militärischen Reserve aus Nord- und Schwarzafrika. Frankreich sollte so zum »furchteinflößendsten Gegner« werden. Auf europäischem Boden kämpften die »Senegalesischen Schützen« zum ersten Mal im Ersten Weltkrieg, meist an den Brennpunkten. So wurden schwarzafrikanische Truppen 1916 in den Schlachten an der Somme und bei Verdun und 1917 am Chemin des Dames eingesetzt. Um französische Soldaten zu schonen, wurden die Kolonialtruppen besonders exponiert und erlitten dabei schwere Verluste. Insgesamt mobilisierte Frankreich aus seinen Kolonien 294.000 Nordafrikaner, 171.000 Schwarzafrikaner, 49.000 »Indochinesen« und 41.000 Madagassen für den Einsatz im Ersten Weltkrieg.

Vgl. Mangin, Force, bes.S. 312 f.; Koller, Diskussion, S. 48 – 53, 68 – 72; Michel, Africains, S. 15 – 29, 81 – 109, 193.

Weltmacht. Ich sage hier vermeintlich#1929: vermeintlich ersetzt durch: vermeintliche;
1937: »vermeintliche«;
1939: vermeintliche, denn in Wirklichkeit war es keine.12 Würde das deutsche Volk im Jahr#1930: Jahr ersetzt durch: Jahre 1914 ein anderes Verhältnis zwischen Bodenfläche und Volkszahl gehabt haben, so wäre Deutschland wirklich Weltmacht gewesen und der Krieg hätte, von allen anderen Faktoren abgesehen, günstig beendet werden können.

Es ist hier nicht meine Aufgabe oder auch nur meine Absicht, auf das »Wenn«#1937: »Wenn« ersetzt durch: Wenn;
1939: »Wenn« hinzuweisen, falls das »Aber«#1937: »Aber« ersetzt durch: Aber;
1939: »Aber« nicht gewesen wäre. Wohl empfinde ich es jedoch als unbedingte Notwendigkeit, den bestehenden Zustand ungeschminkt und nüchtern darzulegen, auf seine beängstigenden Schwächen#1937: beängstigenden Schwächen ersetzt durch: beängstigende Schwäche;
1939: beängstigenden Schwächen hinzuweisen, um wenigstens in den Reihen der nationalsozialistischen Bewegung die Einsicht in das Notwendige zu vertiefen.

Deutschland ist heute keine Weltmacht. Selbst wenn unsere augenblickliche militärische Ohnmacht13 überwunden würde, hätten wir doch auf diesen Titel keinerlei Anspruch mehr. Was bedeutet heute auf dem Planeten ein Gebilde, das in seinem Verhältnis von Volkszahl zu#1933: zu ersetzt durch: zur Grundfläche so jämmerlich beschaffen ist wie das derzeitige Deutsche Reich? In einem Zeitalter, in dem allmählich die Erde in den Besitz von Staaten aufgeteilt wird, von denen manche selbst nahezu Kontinente umspannen, kann man nicht von Weltmacht bei einem Gebilde reden, dessen politisches Mutterland auf die lächerliche Grundfläche von kaum fünfhunderttausend Quadratkilometer beschränkt ist.14

Rein territorial angesehen, verschwindet der Flächeninhalt des Deutschen Reiches vollständig gegenüber dem der sogenannten Weltmächte. Man führe ja nicht England als Gegenbeweis an, denn das englische Mutterland ist wirklich nur die große Hauptstadt des britischen Weltreiches, das fast ein Viertel der ganzen Erdoberfläche sein eigen nennt.15 Weiter müssen wir als Riesenstaaten in erster Linie die amerikanische Union, sodann Rußland und China ansehen. Lauter Raumgebilde von zum Teil mehr als zehnfach größerer Fläche als das derzeitige Deutsche Reich.16 Und selbst Frankreich muß unter diese Staaten gerechnet werden. Nicht nur, daß es in immer größerem Umfang aus den farbigen Menschenbeständen seines Riesenreiches das Heer ergänzt17, macht es auch rassisch in seiner Ver-