Kurt Eisner, »bayerischer Partikularist« <span class="pagenumber">[205]</span>

19 Eisner arbeitete seit März 1907 als Chefredakteur der Fränkischen Tagespost in Nürnberg, seit Sommer 1910 als freier Mitarbeiter der sozialdemokratischen Münchener Post. Mit seiner neuen Heimat, deren politisches und gesellschaftliches Klima sich stark von dem in Preußen und Berlin unterschied, identifizierte sich Eisner schon bald so sehr, dass er sich dann als Ministerpräsident als ein entschiedener Fürsprecher für die bayerische Selbstständigkeit und als Gegner einer zentralistischen Reichsstruktur profilierte. »Das wäre der Gipfel meiner Laufbahn, mit weiß-blauen Fahnen gegen Preußen zu ziehen«, soll er damals – wenn auch ironisch – bemerkt haben. Ernst war es ihm mit der Vorstellung, das Deutsche Reich sei in der Revolution untergegangen und müsse daher wieder neu begründet werden. In den »Vereinigten Staaten von Deutschland« sollten dann die süddeutschen Länder eine ungleich stärkere Rolle spielen als bisher, auch weil sie nun um Deutsch-Österreich erweitert werden sollten. Obwohl Eisner damit den Fortbestand des Reichsverbands nie generell infrage stellte, fanden seine Konzepte noch nicht einmal bei den Vertretern der süddeutschen Staaten auf der Stuttgarter Länderbesprechung am 27./28. 12. 1918 Zustimmung und schon gar nicht auf der Reichskonferenz vom 25. 1. 1919.

Vgl. Grau, Eisner, S. 405 – 421; Strohmeyer, Kolb, Zitat S. 130.

22 Eisner hatte schon am 3. 11. 1918 gefordert, Bayern solle notfalls einen Separatfrieden mit den Ententemächten abschließen. Auch in der Phase zwischen Waffenstillstand und Friedensschluss spielte er eine Sonderrolle. Während fast alle deutschen Politiker, einschließlich des Rats der Volksbeauftragten, eine öffentliche Diskussion über den Schuldanteil des kaiserlichen Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkriegs tunlichst zu vermeiden suchten, entschied sich Eisner, nun bayerischer Ministerpräsident, für einen entgegengesetzten Kurs: Ohne Absprache mit der Reichsregierung wurden am 23. 11. gekürzte Aktenfunde aus dem bayerischen Ministerium des Äußern veröffentlicht, welche die deutsche Schuld am Ausbruch des Krieges beweisen sollten. Dahinter stand die Idee, der Weltöffentlichkeit ein Deutschland mit einer neuen Mentalität zu präsentieren und auf diese Weise günstigere Friedensbedingungen zu erreichen. Die öffentliche Empörung über Eisners Politik, dem noch bestenfalls ein weltfremder Idealismus attestiert wurde, war groß. Eisners Schritt sei – so der Tenor im Escherich-Heft – ein Versuch, »auf Grund eines hündischen Schuldbekenntnisses bessere Friedensbedingungen für Bayern selbst zu erlangen«. Auch der Vorwärts kritisierte damals Eisner und konnte nicht nachvollziehen, »warum von München aus der Bogen so überspannt wird«.

Vgl. Vorwärts vom 28. 11. 1918, »Bayern gegen Solf« (Zitat); Escherich-Heft, Nr. 9/10 (1921), Zitat S. 41; Dirr (Hrsg.), Dokumente; Schwengler, Völkerrecht, S. 136 – 147, 164 – 175; Heinemann, Niederlage, S. 22 ff.; Grau, Eisner, S. 385 – 405.

23 Nachdem die USPD bei der bayerischen Landtagswahl vom 12. 1. 1919 mit nur 2,5 % der Stimmen eine unerwartet klare Niederlage hatte hinnehmen müssen, entschloss sich Kurt Eisner nach anfänglichem Zögern zum Rücktritt. Am 21. 2. 1919 verließ er das Bayerische Ministerium des Äußern, um im Bayerischen Landtag seine Rücktrittsrede zu halten. Kurz vor 10 Uhr vormittags wurde er von dem Studenten Anton Graf Arco auf Valley auf offener Straße erschossen. Graf Arco, der der Thule-Gesellschaft nahestand, begründete seine Tat vor Gericht, er habe damit »die Ehre des bayrischen Volkes wieder gut gemacht«. Am 16. 1. 1920 wurde er zum Tode verurteilt, dann zu Festungshaft begnadigt und im Mai 1924 vorzeitig auf Bewährung entlassen. Als überzeugter Föderalist und Sohn einer jüdischen Mutter wurde Graf Arco am 13. 3. 1933 erneut in »Schutzhaft« genommen, nachdem seine – auf Hitler zielende – Bemerkung bekannt geworden war, ebenso gut wie Eisner könne er auch einen anderen erschießen. Aufgrund der Fürsprache des Kronprinzen Rupprecht wurde Graf Arco noch im gleichen Jahr freigelassen, blieb jedoch unter Beobachtung.

Vgl. Arco auf Valley, Jahren; Hitzer, Graf, Zitat S. 72; Joachimsthaler, Weg, S. 179 ff., 207; Wiehn/ Simsohn, Judenfeindschaft, S. 15; Plöckinger, Soldaten, S. 29, 43 mit Anm. 4.

24 Im marxistischen Verständnis haben »die Arbeiter […] kein Vaterland« – so Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei (1848). Vielmehr galt das Motto: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« Im »Gothaer Programm« (1875) der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland hieß es denn auch, die Partei sei sich »obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, […] des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt«. Entsprechend distanziert war die Position der frühen Arbeiterbewegung gegenüber den Fragen von Nation, Staat und Staatsverfassung. Engels vertrat die Ansicht, dass bei einer »Rekonstitution Deutschlands […] die Kleinstaaterei beseitigt werden« müsse. In der Vorstellung Karl Kautskys sollte sich der Staat »in eine große, im wesentlichen sich völlig selbst genügende Wirtschaftsgenossenschaft« verwandeln. Für die föderative Verfassung alter, gewachsener Reiche gab es in der Sozialdemokratie vor 1914 nur wenig Sympathie. Nicht nur August Bebel bezeichnete sich als »strammer Zentralist«, auch die deutliche Mehrheit der SPD war für einen klaren »Ausbau der Reichskompetenz«. Dies verband sich mit einer deutlichen Kritik an der preußischen Hegemonialstellung im Deutschen Reich; 1909 bezeichnete Georg Ledebour das Reich gar als »eine Filiale Preußens«. Allerdings entwickelte die SPD bis 1918 kein wirkliches Konzept für eine Neugliederung des Reichs. Auch gab es einzelne, meist süddeutsche Sozialdemokraten, die sich dezidiert für partikularistische Interessen einsetzten. So warnte etwa Hugo Lindemann im Jahr 1905: »Unsere Parteipresse kann sich nicht genug tun in der Verspottung des Partikularismus«, und auch Eduard Bernstein vertrat die unter sozialdemokratischen Vordenkern seltene Vorstellung, Zentralismus führe zwangsläufig zur Unterdrückung. Folgt man den Nachkriegserinnerungen von Hitlers Reichspressechef Otto Dietrich, so lobte Hitler im privaten Umfeld die »deutsche Sozialdemokratie« für ihre »radikale Beseitigung« der deutschen »Dynastien und Fürstenhäuser« während der Revolution 1918/19. Dieses »Aufräumen mit der deutschen Kleinstaaterei« durch die SPD sei »eine geschichtliche Tat« gewesen.

Vgl. Mommsen (Hrsg.), Parteiprogramme, S. 262 – 290, Zitate S. 278, 290; Marx/ Engels, Werke, Bd. 4, Zitat S. 479; Dietrich, Jahre, Zitat S. 244; Heidegger, Sozialdemokratie, S. 22 – 53; Domann, Sozialdemokratie, S. 157 – 167, Zitate S. 158, 163.

26 Hitler verschweigt allerdings, dass sich die bayerische SPD und – nach Eisners Tod – auch die bayerische USPD damals sehr wohl für die Reichseinheit einsetzten. So forderte die Münchener Post am 18. 12. 1919: »Ein Volk, ein Staat und überall, in Nord und Süd, ein einiges Deutschland!« Auch die Landtagsfraktion der USPD erblickte damals »in der organischen Durchführung des Einheitsstaates ihr Hauptziel«. Unter programmatischen Gesichtspunkten sah die SPD nach 1918 auch auf Reichsebene in den föderalen Traditionslinien des Deutschen Reichs etwas Rückständiges, das dem Ideal eines sozialistischen Zukunftsstaats widerspreche und daher überwunden werden müsse.

Vgl. Münchner Neueste Nachrichten vom 19. 12. 1919, »Bayern und die Reichseinheit. Bayerische Pressestimmen« (Zitat); vom 20. 12. 1919, »Erklärungen der Landtagsfraktionen«.

29 Lässt man die zeitgenössischen Flugblätter Revue passieren, dann bestätigt sich dieser Eindruck nur zum Teil. Die Aufrufe der Räteregierung und ihrer Organe waren anfangs eher geprägt vom Appell an den internationalen Charakter der Arbeiterbewegung und an die Solidarität des Proletariats; von der »Welt-Revolution« oder von den »proletarischen Brüdern« in Preußen ist nur selten die Rede. Erst im April/Mai 1919, als die gegnerischen Truppen gleichsam vor der Tür standen, begann sich der Ton zu ändern. In einem Aufruf der »Roten Armee« heißt es: »Schüttelt die preußische Herrschaft ab!« Und ein Flugblatt des Vollzugsrats der Betriebs- und Soldatenräte vom 29. 4. 1919 warnte: »Die preußischen weißen Garden stehen vor den Toren Münchens.« Überliefert ist auch ein Flugblatt von Carl Gandorfer, dem Vorsitzenden des Landesbauernrats: »Das Wiedererwachen des preußischen Militarismus unter Noske und seiner Freikorpsführer haben [sic!] die anfänglichen Erfolge der Revolution zunichte gemacht. Die zentralistischen Bestrebungen Weimars, die darauf hinzielten, Bayern jeder Selbständigkeit zu berauben und dem Berliner großkapitalistischen Schiebertum neue Quellen zu erschließen, mußten naturnotwendig zu einer Unzufriedenheit führen, die nicht mehr einzudämmen war.«

Vgl. BSB, 4 H. un. app. 1071 t-1/60: Flugblatt, »Die Garde-Kavallerie-Schützen-Division von Berlin vor München!«; BSB, 4 H. un. app. 219 t-1/145: Flugblatt, »Arbeiter«; BSB, 4 H. un. app. 219 t-1/145: Flugblatt, »An die ländliche Bevölkerung!«; Ay (Hrsg.), Appelle.

30 Über die Atmosphäre der Kämpfe berichtete rückblickend der Kapitänleutnant Manfred von Killinger, der sich als Kompaniechef in der Brigade Ehrhardt im April/Mai 1919 an der Zerschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt hatte: »Als wir uns damals vor der Stadt München in Sturmkolonnen formierten, wußten wir: Gegen die fest eingenistete rote Brut, gegen die Verächter von Autorität und Glauben, würde es hart auf hart gehen. Wir wußten: Krieg ist Gewalt, aber Bürgerkrieg ist Gewalt in höchster Potenz. Mäßigung, Duldsamkeit unsererseits wäre Dummheit, nein, Verbrechen am eigenen Volk und Staat gewesen, klar und kalt mußte die Erkenntnis sein. Der Geiselmord hatte bewiesen, was sich tut, wenn Gesindel ans Ruder kommt. So räumten wir rücksichtslos auf.« Aufschlussreich ist auch ein Verzeichnis der Polizeidirektion München vom 13. 6. 1919, welches nach der »Befreiung« Münchens die Todesursache von 184 Personen dokumentiert; dort heißt es unter anderem: »tot eingeliefert, beim Nachhausegehen, beim Bierholen, auf Anruf nicht sofort angehalten, von unbekannter Hand erschossen, wurde erschossen aufgefunden, soll schwerhörig gewesen sein und auf Anruf nicht stehengeblieben sein, wegen eines Sprachfehlers für einen Russen gehalten, als er mit seiner Frau stadteinwärts ging, wollte den Arzt holen, bei der Bergung eines Verwundeten, auf dem Weg zum Essen«. Die Liste enthält auch die Namen von 21 Frauen; als Todesursache wird immer »Kopfschuß« angegeben.

Vgl. Schricker, Rotmord, Zitat S. 9; Hillmayr, Terror, Zitat S. 151.

31 Die USPD, für die Eisner kandidierte, war in Bayern tatsächlich anfangs zunächst eine sehr kleine Partei, die vor allem in der Provinz kaum über eine Organisation, geschweige denn über eine breitere Basis verfügte. Bei der Bayerischen Landtagswahl vom 12. 1. 1919 erhielt sie in den Stimmkreisen München I-XII sowie München Land zusammen 19.427 Stimmen, in ganz Bayern 86.254, was 2,5 % der Stimmen entsprach. Erst die Ermordung Eisners sowie die ihr folgende politische Radikalisierung auf Seiten der politischen Linken und Rechten sorgten dafür, dass die Parteien der extremen Linken bei der Landtagswahl vom 6. 6. 1920 in der Wählergunst deutlich zulegten. Allein in der Stadt München erhielten damals die USPD 69.836 (20,4 %) und die KPD 24.389 Stimmen (7,2 %), zusammen also 94.225 Stimmen. Was Hitler verschweigt, ist die Tatsache, dass die Wahlergebnisse beider Parteien bayernweit mit 12,9 % (USPD) und 1,7 % (KPD) deutlich geringer ausfielen.

Vgl. Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Bayern 1919, S. 584 – 589; 1920, S. 520 – 529.