Nationalsozialistische Ordnertruppe <span class="pagenumber">[134]</span>

56 Diese kraftmeierische Rhetorik entspricht weder in Theorie noch in der Praxis dem tatsächlichen Charakter früher NSDAP-Versammlungen. Dies zeigt ein Rundschreiben aus dem Jahr 1922, in dem sich die Leitung der NSDAP bemühte, die Ortsgruppen über angemessene Vorgehensweisen bei öffentlichen Versammlungen zu unterrichten. Über Störungen hieß es darin: »Während der Rede der Referenten sorgt der Versammlungsleiter für Ruhe im Saale, d. h. er läutet bei Unruhe zur Ruhe, mahnt Zwischenrufer, ihre Störung zu unterlassen, sich am Ende in der Aussprache zu Wort zu melden.« Über gegnerische Meldungen zur Geschäftsordnung sollte abgestimmt werden, sofern sie nicht das Hausrecht der Partei infrage stellten. Nur im äußersten Fall sollte auch Gewalt angewendet werden: »Sind die Machtmittel der Partei im Saale bereits genügend große, so werden Ruhestörer vom Versammlungsleiter zunächst kurz ermahnt, im Wiederholungsfalle aber rücksichtslos aus dem Saale entfernt.«

Vgl. Tyrell (Hrsg.), Führer, Zitate S. 43; Anm. 19 in diesem Kapitel.

59 Wann genau der Ordnerdienst erstmals eingesetzt wurde, ist unklar. Nach eigenen, 1934 getätigten Angaben bildete Rudolf Schüßler erstmals für eine Versammlung am 5. 2. 1920 einen zehnköpfigen »Saalschutz«. In einer nicht genau datierten Liste von »Ordnungsmännern« der NSDAP, die vermutlich aus dem Sommer 1920 stammt, sind 29 Personen genannt, darunter Josef Fueß, Emil Maurice, Christian Weber sowie mit Hans Prechtl und Ernst Schmidt auch zwei ehemalige Regimentskameraden Hitlers. Nachdem es auf einer Versammlung am 25. 8. 1920 durch den Ordnerdienst zu Übergriffen auf einen politischen Gegner gekommen war, gab ein »Ordnungsmann« der NSDAP gegenüber der Polizei zu Protokoll: »Die von der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei aufgestellten Ordnungsleute sind alle Parteimitglieder und versehen diesen Dienst alle freiwillig. Da sich stets linksradikale Opposition einfand, musste diese Organisation geschaffen werden, um mit allen Mitteln jede Störung der Versammlungen zu unterbinden. Dabei ist es selbstverständlich, dass diese Ordnungsmannschaften, um sich einigermaßen durchzusetzen, eine Waffe[,] und in diesem Falle ist die zweckmässigste der Gummiknüppel, zur Verfügung haben müssen.«

Kurz darauf lieferte die Polizei in einem Bericht zur Versammlung am 5. 9. 1920 eine erste Beschreibung des Ordnerdiensts: Die NSDAP habe »eine Versammlungs-Hauspolizei gebildet, die jeden Störenfried aus dem Versammlungslokal entfernt. Die Ordnungsleute tragen am linken Oberarm rote Binden, an denen auf weisser Scheibe das Hakenkreuz angebracht ist. Diese Organisation, die in stärkeren Trupps jeweils über das ganze Versammlungslokal verteilt ist, wird schon durch ihr Vorhandensein bei Gegnern [...] die von der Leitung gewollte Wirkung haben. Im Fall notwendigen Eingreifens ist die Organisation im Stand, ohne Zuhilfenahme der Polizei die Ruhe und Ordnung im Saale wiederherzustellen.« Dass dies durchaus positiv gemeint war, belegt die abschließende Empfehlung, aufgrund des Ordnerdiensts der NSDAP bei »künftigen Antisemitenversammlungen« die Polizeikräfte reduzieren zu können. Nach Beobachtungen der Polizei wurden im Herbst 1920 mit der Gründung einer »Turn- und Sportabteilung« darüber hinaus organisatorische Strukturen aufgebaut, die auch den Zweck verfolgten, die jüngeren Parteimitglieder einzubinden. Anfang 1921 folgte die Zusammenfassung der Mitglieder der »Turn- und Sportabteilung« in den verschiedenen Stadtteilen zu »Gruppen«. Sie wurde damit zur Vorläuferin der Sturmabteilung (SA), die am 3. 8. 1921 formell gegründet wurde.

Vgl. StA München, Pol. Dir. 6698, 6803: Polizeiberichte und Liste der Ordnungsmänner; VB vom 5. 8. 1922, »Unsere Sturmabteilung«; Unser Schicksalsweg zu Hitler, S. 21; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 139; Phelps, Hitler (1963), S. 315 – 317; Longerich, Bataillone, S. 23 – 26; Plöckinger, Soldaten, S. 39, 160 f.

60 Das politische Denken der extremen Rechten und Linken war nach dem Ersten Weltkrieg von einer strikten Freund-Feind-Ideologie geprägt, die in letzter Konsequenz auch den Bürgerkrieg legitimierte – sowie in äußerster Konsequenz die physische Vernichtung des jeweiligen Gegners. Charakteristisch für dieses Denken war auch eine tiefe Verachtung für den politischen Kompromiss und die intellektuelle Debatte, die als Ausdruck »bürgerlicher Schwäche« angesehen wurden. Stärker noch als die KPD verstand sich die NSDAP als dezidiert tatorientierte Kampfpartei, die aktive Gewaltausübung (»Terror«) nicht nur im Prinzip bejahte, sondern fest in ihren politischen Stil integrierte. Ein Vorbild der Nationalsozialisten waren hierbei die italienischen Squadristen, die vor allem in den Jahren 1921/22 mit brutalen Mitteln gegen Sozialisten und Kommunisten vorgingen und auch vor der Ermordung von Funktionären der italienischen Arbeiterbewegung nicht zurückschreckten.

Vgl. Wirsching, Weltkrieg, bes.S. 25 – 37; Reichardt, Kampfbünde, bes.S. 53 – 62, 74 f., 84 – 88, 96 – 99; Wirsching, Verschränkung; Kap. II/13, Anm. 173.

62 Nach dem Ersten Weltkrieg erwies sich die zwischen 1900 und 1910 geborene »Kriegsjugendgeneration«, deren Mentalität von dem Gefühl des »Zuspät-Gekommenseins« geprägt war, als besonders empfänglich für die Ideologie der NSDAP und insbesondere der SA. Sie verachtete meist die demokratische Staatsordnung und befürwortete noch weit stärker als die Generation der Frontkämpfer das Prinzip der gewaltsamen Konfliktlösung. Indem Hitler den »Mut zur Tat« zur zentralen jugendlichen Tugend erhob, entsprach er ganz den in jener Alterskohorte weitverbreiteten, rigoros dezisionistischen, theorie- und reflexionsfeindlichen Idealen. Dahinter stand jedoch weit mehr als nur propagandistisches Kalkül. Hitler selbst hasste die »intellektuelle[n] Vorbehalte« des Alters, durch die er – den Erinnerungen Otto Dietrichs zufolge – noch im Zweiten Weltkrieg jene »jugendliche Tatkraft« gefährdet sah, die für seine Politik und Kriegführung unabdingbar war. Bereits im Kapitel Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit und Sonstiges (I/3) betont Hitler, dass zum politischen Kampf die »Kinder des Volkes aus den breiten Massen« notwendig seien, da sie allein »entschlossen und zähe genug« seien, »diesen Streit bis zum blutigen Ende durchzufechten«. Die »Kriegsjugendgeneration« war dann auch einer der wichtigsten generationellen Träger der NS-Diktatur. Aus ihr rekrutierten sich unter anderem das Führungskorps und die Mehrzahl der Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamts, das während des Zweiten Weltkriegs unter der Leitung von Reinhard Heydrich und Ernst Kaltenbrunner den Genozid an den Juden maßgeblich organisierte.

Vgl. Dietrich, Jahre, Zitat S. 140; Kater, Generationskonflikt; Herbert, Best, S. 42 – 50; Herbert, Generationen, S. 97 – 102; Wirsching, Generationen, bes.S. 45 – 47; Wildt, Generation, bes.S. 23 – 29, 41 – 71, 538 – 637, 846 – 868; Kap. I/3, S. 106; Kap. II/15, Anm. 73.

sammlung wir seien, daß wir infolgedessen das Hausrecht besäßen und daß jeder, der es wagen sollte, auch nur einen Zwischenruf zu machen, unbarmherzig dort hinausflöge, von wo er hereingekommen sei. Daß wir weiter jede Verantwortung für einen solchen Burschen ablehnen müßten; wenn Zeit bleibe und es uns paßte, so würden wir eine Diskussion stattfinden lassen; wenn nicht, dann keine, und der Herr Referent, Pg.55 Soundso, habe jetzt das Wort.56

Schon darüber staunten sie.

Zweitens verfügten wir über einen straff organisierten Saalschutz.57 Bei den bürgerlichen Parteien pflegte dieser Saalschutz oder besser Ordnerdienst meistens aus Herren zu bestehen, die in der Würde ihres Alters ein gewisses Anrecht auf Autorität und Respekt zu besitzen glaubten.58 Da sich nun die marxistisch verhetzten Massen um Alter, Autorität und Respekt nicht im geringsten kümmerten, war die Existenz dieses bürgerlichen Saalschutzes praktisch sozusagen aufgehoben.

Ich habe gleich zu Beginn unserer großen Versammlungstätigkeit die Organisation eines Saalschutzes eingeleitet als einen Ordnerdienst, der grundsätzlich lauter junge Burschen umfaßte.59 Es waren zum Teil Kameraden, die ich vom Militärdienst her kannte, andere erst gewonnene junge Parteigenossen, die von allem Anbeginn darüber belehrt und daraufhin#1944: daraufhin ersetzt durch: darauf hin erzogen wurden, daß Terror nur durch Terror zu brechen sei60, daß auf dieser Erde der Mutige und Entschlossene noch stets den Erfolg für sich gehabt habe; daß wir für eine gewaltige Idee fechten, so groß und erhaben, daß sie sehr wohl verdiene, mit dem letzten Tropfen Blut beschirmt und beschützt zu werden. Sie waren durchdrungen von der Lehre, daß, wenn einmal die Vernunft schweige und die Gewalt die letzte Entscheidung habe, die beste Waffe der Verteidigung im Angriff liege61; und daß unserer Ordnertruppe der Ruf schon vorangehen müsse, kein Debattierklub, sondern eine zum äußersten#1937: äußersten ersetzt durch: Äußersten;
1939: äußersten entschlossene Kampfgemeinschaft zu sein.

Und wie hatte sich diese Jugend nicht nach einer solchen Parole gesehnt!62

Wie ist diese Feldzugsgeneration enttäuscht und entrüstet gewesen, voll Ekel und Abscheu über die bürgerliche Schlappschwänzigkeit.#1944: Punkt ersetzt durch: Ausrufezeichen